Als Jan-Lennard Struff kürzlich bei den Gerry Weber Open vom Platz marschierte, war alles so trüb wie immer. Struff verlor sein Erstrundenmatch gegen den Spanier Roberto Bautista Agut sang- und klanglos, es war die neunte deprimierende Auftaktniederlage bei dem Turnier in seiner ostwestfälischen Heimat, er hat in Halle noch immer kein einziges Einzel gewonnen. "Ich kann nur hoffe, dass sich in Wimbledon was dreht für mich", sagte Struff später. Überzeugt und überzeugend klang es allerdings nicht.
Aber am Samstag wird nun auf einmal die ganze Tenniswelt auf ihn schauen, auf den 1,96-Meter-Riesen aus Warstein - dann, wenn er mit einem gewissen Roger Federer das gepflegte Tennisgrün in Wimbledon betritt, zum Drittrunden-Rendezvous im Theater der Träume. Es hat sich tatsächlich was gedreht für Struff, den scheuen, schüchternen, stoischen Giganten: Die Vorbereitung für die Ausscheidungsspiele bei den Offenen Englischen Meisterschaften war mies, er verlor ja auch in Stuttgart in der ersten Runde gegen den 17-jährigen Emporkömmling Rudi Molleker, aber nun haben ihm trotziger Widerstandsgeist und unermüdlicher Kampfeswille in seinen beiden Wimbledon-Startpartien den vielleicht großartigsten Moment seiner Karriere beschert. "Gegen Federer in Wimbledon anzutreten - das ist wie ein Volltreffer im Lotto", sagt Struff. "Als ich die Auslosung sah, dachte ich mir: In dieses Match musst du kommen."
Struff dreht zwei Partien nach 0:2-Satzrückstand
Die denkwürdige Verabredung hatte sich der 28-jährige im Schweiße seines Angesicht verdient, in stundenlangen Marathonspielen, oft genug am Abgrund des Ausscheidens balancierend. Doch obwohl er gegen den Argentinier Leonardo Mayer und dann auch gegen den "Herrn der Asse", den 2,07-Meter-Turm Ivo Karlovic (Kroatien), jeweils mit 0:2-Sätzen in die roten Zahlen geriet, ist Entfesselungskünstler Struff immer noch da - am Schauplatz Wimbledon, an dem solche Großtaten noch einmal eine ganz andere Wirkung entfalten.
Mit dem Mute der Verzweiflung stemmte sich Struff gegen die Niederlagen, steckte am Mittwoch sogar ein Trommelfeuer von 61 Assen Karlovics weg, gewann den Härtetest für Körper und Geist schließlich nach 225 Minuten mit 6:7 (5:7), 3:6, 7:6 (7:4), 7:6 (7:4) und 13:11. Weiter, immer weiter war das einfache Motto Struffs: "Du darfst nie aufgeben, nie den Glauben verlieren." Am Ende war Struff auch in der Punktebilanz gegen Karlovic hauchdünn vorn: 206 zu 205.
Das Selbstbewusstsein, sich in komplizierten Tennis-Lebenslagen durchsetzen zu können, hatte sich Struff besonders bei Einsätzen in der Nationalmannschaft geholt. Dort ist der zurückhaltende Ostwestfale, der viele Sätze spielt, aber nur wenige Sätze spricht, zu einer wichtigen Stütze geworden - zuletzt als Teil des Erfolgsdoppels "Tim und Struffi", mit dem Frankfurter Tim Pütz. Sowohl in Australien wie später auch in Spanien holte Struff in dieser Saison mit seinem kongenialen Kompagnon eher unerwartet den Punkt im Doppel, im Davis Cup sind die beiden Kämpfertypen noch unbesiegt. Aber Struff gelang es schon 2016 nahezu im Alleingang, die deutsche Auswahl beim 3:2-Relegationssieg gegen Polen (in Berlin) vor dem Abstieg in die Zweitklassigkeit zu bewahren. "Er hat enorm an Statur gewonnen", sagt Davis Cup-Kapitän Michael Kohlmann über Struff.
Aufschwung mit Carsten Arriens
Seit Struff vom Vorgänger Kohlmanns auf dem Davis Cup-Posten, dem Kölner Carsten Arriens, betreut wird, spielt er mit deutlich mehr Dynamik und Emotion. Langsam, aber beständig ging es für das Duo aufwärts, inzwischen hat sich Struff beständig in den Top 100 etabliert. Ab und zu schleicht sich beim Ostwestfalen aber noch mal das alte Gift der Lethargie ein, auch im Match gegen Karlovic war das so: "Ich habe mich über mich selbst geärgert, weil ich zu ruhig wurde", sagte Struff hinterher.
In solche Gefahr dürfte er gegen Federer kaum kommen: "Da wird das Herz schon schneller schlagen, wenn es losgeht." Und, welche Chance rechnet er sich aus gegen den achtmaligen Champion, gegen den er bisher beide zurückliegenden Partien verlor? "Ich gehe auf den Platz, um zu gewinnen", sagt Struff, "und wenn ich zwei Sätze zurückliege, werde ich wohl mal schmunzeln müssen - und weiter an mich glauben."