Wimbledon 2018 neigt sich dem Ende zu, nur bei den Herren steht am Sonntag noch das große Finale an. Mittlerweile sitze ich wieder daheim auf meinem Sofa in Osnabrück und schaue mir die Matches im Fernsehen an, doch ein komisches, leicht aufgeregtes Gefühl bleibt, wenn ich den Centre Court auf dem Bildschirm sehe. "Schau!", sagt Ina, meine Mitbewohnerin und beste Freundin, "schau, genau dort saßen wir!"
Und es ist noch keine Woche her. Von Mittwochabend in der ersten Turnierwoche bis Montagabend des legendären "Manic Monday" waren Ina und ich dieses Jahr beim Turnier an der Church Road dabei.
Es war nicht unser erstes Jahr in Wimbledon. Einmal live in Wimbledon dabei sein - schon lange ein Traum von mir, selbst begeisterte Tennisspielerin und Tennisfan seit meinem elften Lebensjahr. Letztes Jahr war es das erste Mal soweit, und wir waren mit Zelten und Schlafsäcken ausgestattet in der legendären Wimbledon-Queue zu Gast. Leider waren die zwei Tage im letzten Jahr viel zu kurz, für den Centre Court hatte es nicht gereicht. Aber allgemein waren wir so begeistert von der Erfahrung, dass uns schon letzten Sommer klar war: 2018 kommen wir wieder - und wir kommen länger.
Mit dem Zelt in der Queue
Es ist also Mittwochabend in der ersten Turnierwoche und Ina und ich schlagen unser kleines Zweimann-Zelt zum ersten Mal in der Queue auf. In Wimbledon funktioniert das so: Man erreicht das Queue-Gelände, das ist nichts anderes als eine große Wiese, in der es zehn Reihen gibt. An der Seite gibt es einige Essensbuden und sanitäre Anlagen (allerdings keine Duschen, letztes Jahr gab es die noch!). Dort geht man zuerst zu den netten Stewards in den gelben Westen und besorgt sich seine Queue-Card. Darauf befindet sich eine Nummer. Am Mittwochabend bekommen wir die Nummern 805 und 806. Wir sind also die 805. und die 806. Person, die sich für den kommenden Donnerstag anstellen. Man bekommt gesagt, wo man sein Zelt aufbauen kann. Dann befindet man sich erst mal im gediegenen Campingurlaub. Man vertreibt sich mit Ballspielen auf der Wiese, spazieren gehen bei Sonnenuntergang im anliegenden Wimbledon Park am See und Karten spielen die Zeit. Natürlich gibt es auch die Gelegenheit, mit Tennisfans aus der ganzen Welt ins Gespräch zu kommen.
Am nächsten Morgen geht es früh raus: Spätestens um 6 Uhr gehen die Stewards durch die Reihen und wecken auf. Nun heißt es Sachen zusammenpacken bzw. samt Zelt umziehen, wenn man sich entscheidet noch einen Tag aussetzen zu wollen und für den nächsten Turniertag eine noch deutlich bessere Nummer abzustauben. Am Donnerstagmorgen ist uns als Sascha-Zverev-Fans jedoch klar: Wir gehen rein auf Court Nr. 1. Das Zelt muss also schnell zusammengepackt und abgegeben werden. Fünf Pfund bezahlt man für die Aufbewahrung eines Zeltes über den Tag, einen Pfund für jedes weitere Gepäckstück. Die Nutzung des gesamten Campingplatzes ist übrigens komplett kostenlos.
Gegen 6.30 Uhr beginnen die Stewards, die Menschenmengen aufzureihen. Um diese Zeit stehen nun für gewöhnlich schon 3.000 bis 4.000 Menschen an, der Großteil kommt morgens mit den ersten U-Bahnen. Gegen 7 Uhr setzt sich die Schlange in Bewegung. Queue-Card Nr. 1 vorneweg, alle in richtiger Reihenfolge hinterher. Diese Reihenfolge wird an mehreren Stellen kontrolliert und kann nicht umgangen werden. Um 7.30 Uhr wird es dann richtig spannend. Angefangen bei der Queue-Card Nr. 1 werden die "Wristbands" ausgegeben. Es gibt 500 Bänder für den Centre Court, 500 Bänder für Court Nr. 1 und 500 Bänder für Court Nr. 2. Der Reihenfolge nach darf gewählt werden. Demnach haben alle von Nr. 1 bis 500 die komplett freie Wahl, welchen Court sie sich anschauen möchten. Der Rest bekommt, was übrig ist.
Federer-Fans machen den Weg frei
Da der große Roger Federer an unserem ersten Donnerstag nicht spielt, haben jedoch viele Fans ausgesetzt bzw. sich für einen anderen Court als den Centre Court entschieden, auf dem an diesem Tag Nadal sowie die britischen Lokalmatadoren Edmund und Konta angesetzt sind. So kommt es, dass wir mit unseren Nummern 805 und 806 sogar noch die Möglichkeit haben, den Centre Court zu wählen. Wir tauschen kurz Blicke aus... Vielleicht lieber doch Nadal? Nein, unser Entschluss steht: Wir wählen Court Nr. 1 und werden Sascha unterstützen.
Die Bänder erhalten, geht es um 8.30 Uhr durch die Sicherheitskontrolle. Hier ist zu erwähnen, dass Wimbledon die nettesten und benutzerfreundlichsten Regeln hat, die ich je bei einer Großveranstaltung erlebt habe: Jegliches Essen und Trinken ist erlaubt. Pro Person, darf sogar privat ein halber Liter Alkohol mit aufs Gelände genommen werden. Um 9.30 Uhr geht es dann an die Kassen und durch Vorzeigen des Wirstbands kauft man sein Ticket für den jeweiligen Court. Die "Queuer" werden dabei besonders gut behandelt: Wir bekommen Tickets in den 4 besten Blöcken, die ersten Reihen direkt am Court. Wir sind in Reihe sechs. Geschafft! Kurz vor 10 Uhr sind wir drin.
Wir entscheiden uns zunächst für das Zweitrundenmatch für Angie Kerber auf Platz Nr. 12. Mit unserem Ticket dürfen wir nun nämlich auf alle Courts, ausgenommen des Centre Courts und Court Nr. 2.
Live bei Angie Kerber!
Waren noch in der Queue sehr wenige deutsche Stimmen zu hören, hier trifft man sie bei Angie alle. Vor uns sitzt eine ganze "Fußballmannschaft" mit deutschen Fans, die Angie lautstark in die dritte Runde schreit. Sie bekommen als Dank am Ende von Angie sogar einen Ball geschenkt. Unser nächster Stop ist Showman Nick Kyrgios auf dem Court Nr. 3. Auch dieses Match hält, was wir uns von ihm versprochen haben: Nick schlurft über den Platz in der Haltung der Jungs, die früher im Bus immer ganz hinten saßen und denen man lieber aus dem Weg gegangen ist, diskutiert mit dem Schiedsrichter, lacht über sich und den Gegner, packt den einen oder anderen Tweener aus und die Stimmung auf dem Platz ist großartig.
Nach diesem Match nehmen wir nun endlich unsere Plätze auf Court 1 ein, sehen gerade noch den Sieg von Simona Halep und drücken die Daumen, dass del Potro sich denn bitte beeilt, in seinem Spiel gegen Feli Lopez, denn: Die Zeit ist schon ordentlich fortgeschritten und, hey, wir wollten doch Sascha sehen. Del Potro tut uns den Gefallen und gegen 7 Uhr Ortszeit ist es dann endlich soweit, Sascha Zverev und Taylor Fritz betreten den heiligen Rasen. Es geht ganz entspannt los, Sascha macht einen guten Eindruck, ich habe Zeit einige schöne Fotos und Videos zu machen, doch ab Satz 2 ändert sich die Stimmung. Fritz spielt richtig stark auf und Sascha lässt sich immer weiter hinter die Grundlinie drängen. Der 2. Satz ist weg. Schon bald ist klar: Nach dem 3. Satz wird hier wegen Dunkelheit abgebrochen werden. Nachdem unser Lieblingsspieler diesen 3. Satz im Tiebreak so richtig vermasselt hat, verkündigt der Schiedsrichter: Lichter aus für heute, morgen wird weitergespielt.
Mit einem etwas mulmigen Gefühl verlassen wir das Gelände... Hmm, das war nicht das Ende, wie wir es uns vorgestellt hatten.. Und was machen wir nun morgen? Wieder auf Court 1 und das Match zu Ende sehen? Das restliche "Line Up" gefällt uns aber nicht so für Court 1 morgen und 78 Pfund ausgeben nur um am Ende Sascha verlieren zu sehen? Nach einigem Hin- und Her beschließen wir, den Freitag einen Off-Day zu nehmen, eine richtig gute Nummer für Samstag zu bekommen und zu hoffen, dass Zverev am Freitag auch ohne uns weiter durchkommt.
Ein Treffen mit Lövik
Und so haben wir für den Samstag tatsächlich die unglaublichen Queue-Card-Nummern 200 und 201 - freie Wahl also. Den freien Freitag verbringen wir mit einkaufen, sonnen, spazieren gehen und mit vielen netten Gesprächen mit anderen Tennisfans. Dabei gilt offiziell, dass man sich nie länger als eine halbe Stunde vom Zeltplatz entfernen darf, um seinen Platz in die Queue zu behalten. Konkret heißt es, dass die Stewards einmal pro Tag zu einer zufälligen Zeit, die jedoch eine knappe Stunde vorher angekündigt wird, kontrollieren, ob denn noch alle da sind. Wer sich mit seinen Nachbarn gut stellt, die einem im Fall der Kontrolle Bescheid sagen, kann sich also auch eine längere Campingauszeit nehmen. Wirkliche Langeweile kommt bei uns an dem Freitag nicht auf. Einige andere Queue-Gesichter kennen wir tatsächlich noch vom letzten Jahr. Denn, wer einmal in der Queue war, kommt dann doch irgendwie immer wieder und wieder.
Das Highlight des Freitagnachmittags: Während wir per App mitfiebern, wie sich Sascha Zverev in den Sätzen 4 und 5 gegen Taylor Fritz schlägt, kommt Mama Zverev mit dem berühmten Familienhund Lövik an uns vorbeispaziert. Ich stupse Ina an, will aber auch nicht zu offensichtlich hinstarren. Die beiden gehen sonst völlig unerkannt und gemütlich durch die Reihen der Camper und drehen eine Runde am See. Im Nachhinein ärgere ich mich etwas, dass ich nicht etwas Nettes zu Mama Zverev gesagt habe, und die Chance nicht genutzt habe, Lövik zu kraulen, aber den beiden sei die Anonymität gegönnt.
Samstag ist unser zweiter Tag auf der Anlage. Die Briten um uns herum halten uns für verrückt, aber gemeinsam mit ein paar netten Rumänen, sind wir die einzigen mit so guten Queue-Nummern, die sich am Samstag wieder gegen den Centre Court, und somit gegen Nadal und Djokovic entscheiden, und erneut für die Kombi Halep und Zverev auf Court 1 wählen.
Das Halep-Drama hautnah
Und das scheint sich auszuzahlen: Während auf dem Centre Court die Matches schnell und glatt laufen, sehen wir zuerst eines des interessantesten und spannendsten Damenmatches, die ich je live gesehen habe: Die Taiwanesin Hsieh kämeft wie eine Löwin, wird zum richtigen Publikumsliebling und bringt durch ihre "Ballwandqualitäten" die Weltranglistenerste komplett aus der Fassung. Einige unglaubliche Rallyes später sind wir live Zeugen, einer der großen Sensationen des Turniers. Ich bin ein bisschen traurig für die supernette Rumänin und ihre Tochter, die wir in der Queue kennengelernt haben.
Nun ja, jetzt ist aber "Sascha-Time". Hoffentlich geht es dieses Mal schneller und glatter als am Donnerstag, er dürfte meine Nerven ruhig etwas schonen. Aber nein. Nachdem ich bei allen drei Turnieren, bei dem ich unseren Lieblingsspieler bislang live gesehen habe, nur überzeugende Siege gesehen hatte, meint es dieses Wimbledonturnier nicht gut mit uns. Vor allem im dritten Satz schreie ich mir fast die Seele aus dem Leib: "Komm, Sascha! Auf geht's! Dran bleiben! Du schaffst das!"
Den dritten Satz biegt er tatsächlich noch um, ich und alle anderen Zuschauer, stellen sich auf einen nun lockeren Viersatzsieg ein, doch dann wird bei Sascha, wie er später auf der Pressekonferenz so schön sagte, der "Stecker gezogen" und es geht gar nichts mehr. Leichte Fehler ohne Ende und ein großartig aufspielender Ernsets Gulbis. Nichts wars. Fast so frustriert wie Sascha schleichen wir mit hängenden Köpfen am Ende dieses Tennistages zurück in die Queue.
Die Sache mit der Zverev-Verwarnung
Ach ja, die Geschichte mit dem Linienrichter haben wir auch live mitbekommen. Und irgendwie kam uns die ganze Szene gar nicht so wild vor, wie hinterher in den Medien darüber berichtet wurde. Aus unserer Sicht: Völlig aus dem Nichts läuft der Linienrichter zum Schiedsrichterstuhl und sagt etwas. Daraufhin bekommt Zverev eine Verwarnung. Dieser läuft daraufhin zum Schiri und fragt nach. Alles, was wir verstehen können ist: "I didn't say that to him...!", aus Zverevs Mund. Beim Seitenwechsel hören wir, dass Sascha noch etwas vor sich hin schimpft. Die Kamera hat da definitiv mehr verstanden als wir. Blöd für Sascha. Meine Meinung zu dem Thema: Der Junge muss einfach noch lernen sich manche Sachen vielleicht nur zu denken und nicht laut auszusprechen.
Nun ja, Thema Zverev war durch. Zurück in der Queue bekommen wir die Nummern 835 und 836. Da der Sonntag spielfrei ist, gibt es keine Chance mehr auf Verbesserung. Centre-Court-Träume für den "Manic Monday" scheinen geplatzt. Ich wollte doch so gern noch mein Kindheitsidol Serena Williams nach zehn Jahren wieder live sehen... Ina wollte doch so gerne Roger auf dem Centre Court sehen. Verdammt. Samstagabend ist uns nach der Erkenntnis, keine Chancen auf Centre Court zu haben, echt etwas die Lust vergangen. Hätten wir doch bloß morgen schon unseren Heimflug gebucht. Das Zelt wird nicht bequemer von Nacht zu Nacht, frischer fühlen wir uns nach drei Tagen ohne anständige Dusche auch nicht. Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt.
Centre Court: Der Resale macht's möglich!
Langsam aber sicher ziehen wir uns am Sonntag jedoch wieder raus. Meine Cousine, die in London wohnt, kommt vorbei und wir setzen uns bei dem schönen Wetter zu dritt einige schöne Stunden an den See. Das Wetter ist blendend und wir kommen zu der Erkenntnis, dass auch die "Grounds" am Montag ein nettes Program haben... und außerdem kommen wir nächstes Jahr ja eh wieder.
So bricht unser letzter Wimbledontag 2018 an. Wir schlagen es aus, Bänder für Court 1 oder 2 anzunehmen und entscheiden uns für ein Ground-Ticket für 25 Pfund. Ich versuche einige Federer-Fans zu finden, die mir nach dem Federer-Spiel ihr Centre-Court-Ticket überlassen, aber die meisten wollen sich doch zumindest noch Serena anschauen oder sie haben schon andere Fans gefunden, mit denen sie einen Tausch abwickeln. Doch nach Gesprächen mit einigen Leuten reift dann plötzlich eine neue Idee in mir: Wir werden uns von Beginn an an der Schlage für den Ticket-Resale anstellen. Eine weitere echt schöne, besucherfreundliche Aktion der Wimbledonveranstallter: Ab 15:00 Uhr Uhr jeden Turniertages werden Tickets von Besuchern, die die Anlage vorzeitig verlassen, zum Preis von 15 Pfund weiterverkauft.
Da wir uns ab 10:30 Uhr dort anstellen, sind wir die Nummer vier und fünf in der Resale-Schlange und so wird unser Centre Court Traum doch noch wahr: Ab Punkt 15:00 Uhr Uhr sind wir Besitzer von Centre-Court-Tickets. Zwar haben nochmal vier Stunden mehr in der Sonne gewartet, bis 15:00 Uhr Uhr kein anderes Match gesehen und Federer knapp verpasst, aber hey wir erleben Serena und Rafa hautnah und das zu einem Preis von gesamt 40 Pfund. Zum Schluss gibts noch ein Mixed mit Victoria Azarenka und Jamie Murray obendrauf.
Müde, etwas ausgelaugt, braun gebrannt wie selten zuvor in meinem Leben, holen wir am Montag 22:00 Uhr Ortszeit unser Gepäck an unserem Lieblingszeltplatz ab und winken "Goodbye"! Es ist echt ein etwas wehmütiges Gefühl. Irgendwie waren wir diese fünf Tage in einer völlig anderen Welt, weit weg von jedem Alltag, in einer sonnigen, verrückten, spannenden Wimbledon-Tenniswelt. Jetzt steht uns noch eine unbequeme Nacht am London Stansted Airport bevor, wo am kommenden Morgen um 07:00 Uhr unser Flieger zurück nach Deutschland geht.
Jetzt bin ich seit drei Tagen wieder zu Hause und irgendwie kommen mir die Tage zwischen Zeltplatz, Wimbledon Park, Wasserauffüllstationen, Stewards in gelben und orangenen Westen, Court Nr. 1, Queue-Cards und meinen Sascha-Anfeuerungsschreien unwirklich und einfach ein bisschen verrückt vor. Aber ich bin gerne verrückt. Vor allem für eine meiner größten Leidenschaften, dem Tennissport. Wimbledon, nächstes Jahr kommen wir wieder.