Es ist ein netter Ausflug zum Aufwärmen für die Australian Open. Aber es ist auch eine Reise in die Vergangenheit, eine Nostalgie-Tour. Vor 15 und vor 16 Jahren war Roger Federer schon einmal im weiten Westen Australiens, in Perth, in der einsamsten Millionenstadt des Planeten - einmal gewann er damals den Hopman Cup zusammen mit Martina Hingis, er, der aufstrebende Superstar an der Seite von "Miss Swiss." Und beim zweiten Besuch, 2002, stand er sogar mit seiner Freundin und späteren Frau Mirka Vavrinec auf dem Centre Court, im wunderschön gelegenen Burswood Resort.
Federer hatte in jener Zeit noch alles vor sich, die unsicheren Jahre als hochgehandeltes Talent, das seine Potenziale nicht auszuspielen vermochte. Die Traumjahre als unumschränkte Nummer eins, mit serienweise Grand Slam-Siegen und weit abgeschlagener Konkurrenz. Die Jahre der knisternden Rivalität, erst mit Rafael Nadal, dem wuchtigen Spanier, später dann auch noch mit Novak Djokovic und Andy Murray.
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Die Jahre, in denen er zum herum jettenden Papa wurde, ein Familienvater, der seinen Weg im immer herausfordernderen Tennisgeschäft suchte. Schließlich die Jahre, in denen zwar die ganz großen Erfolge ausblieben, aber Federer schon auf seinen Reisen durchs Tennisuniversum so etwas wie die Legende seiner selbst wurde. Und zuallerletzt die Saison 2016, die eigentlich nur eine halbe Saison war, denn Federer zog nach vielen kleineren und größeren Verletzungen nach dem Wimbledon-Turnier zwangsweise die Notbremse.
Borg gibt Federer "noch ein paar gute Jahre"
Fast ein ganzes Tennisleben nach dem letzten Stopp und knappe sechs Monate nach dem letzten Ballwechsel 2016 ist Federer nun also wieder in Perth - und damit zurück im Dienst am und mit Schläger. Bei allen Fragen, die sich für die kommenden Monate in der Branche stellen, hebt sich doch für Millionen von Fans, für Turnierveranstalter, Sponsoren und Medien eine heraus.
Wie schafft der inzwischen 35-jährige Maestro, dieser lange Zeit so unverwüstliche und unverdrossene Roger Federer, seine Rückkehr in den Tour-Zirkus? Gelingt dem 17-maligen Grand Slam-Gewinner wie selbstverständlich der Sprung zurück in die absoluten Spitzenregionen, ins Revier der Großen Vier, das er so viele Spielserien abonnementhaft bewohnte? Oder bleibt der Veteran des Wanderzirkus im Verfolgerfeld der Top-Leute stecken, womöglich wegen fortgesetzter Schwierigkeiten mit dem Körper. Oder ganz einfach nur, weil es ihm schwer fällt, den Anschluß an die Elitegruppe in diesem fortgeschrittenen Profialter zu bewältigen?
"Ich würde nie, nie, nie dagegen wetten, dass Federer noch einen großen Titel gewinnt", sagt der alte Schwede Björn Borg, einer, der seine Karriere einst mit 26 Jahren beendete. Federer habe nie ein so "verschleißreiches Spiel" gehabt wie andere Szenegrößen, so Borg: "Ich gebe ihm noch ein paar gute Jahre."
Ungewissheit als Reiz
Und Federer selbst? Er betrachtet dieses ganze Rätsel, das die ersten Tage, Wochen und Monate der Saison 2017 umgibt, mit einem gewissen Vergnügen. So wie die Situation, die sich ihm schon im Frühling 2016 stellte, nach den ersten Blessuren und dem anstehenden Comeback-Versuch. Damals sagte er, es sei eben auch eine Herausforderung, "improvisieren zu müssen, mal keine Gewissheiten zu haben und ins Unbekannte zu zielen."
Hier und jetzt, beim Auftritt in Perth und mit Blick auf das erste große Saison-Highlight, hört sich das ziemlich deckungsgleich an: "Es wird spannend sein zu sehen", sagt Federer, "wie ich mit dieser langen Wettkampfpause klarkomme, wie mein Körper das alles verträgt."
Niemand wisse so recht, "was da passieren wird", sagt Federer: "Ich nicht, die Fans nicht - und die Gegner erst recht nicht. Werde ich dann viel spielen können in Melbourne? Oder wenig? Auf jeden Fall muss ich clever und schlau sein." Die Australian Open seien sicher "die große Bewährungsprobe und Standortbestimmung."
Federer wurde schmerzlich vermisst
Auf jeden Fall wird Federer von vielen guten Wünschen von Anhängern rund um den Planeten getragen werden, so viel ist wenigstens sicher. Als er noch vor dem Jahreswechsel erstmals den Perth Dome betrat, zum Start in den Hopman-Cup-Trainingsbetrieb vor dem Montagsmatch gegen Großbritannien, waren nicht weniger als 7000 Fans gekommen - selbst für Federer-Verhältnisse ungewöhnlich und rekordverdächtig.
Federer war auch in den letzten Monaten der Saison 2016 schmerzlich vermisst worden, ganz besonders in New York bei den US Open, am Olympia-Schauplatz Rio, bei der Londoner WM und natürlich daheim beim Turnier in der Baseler St. Jakobshalle. "Als ich wieder so richtig in den Trainingsbetrieb einstieg, habe ich zum ersten Mal das Leben auf der Tour wirklich vermisst", sagt Federer, "davor war es gar nicht schlimm. Da habe ich meine freie Zeit mit der Familie genossen."
Selbst den Sieg von Freund Stan Wawrinka bei den US Open erlebte Federer nicht live mit: "Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich verblüfft, dass Stan gewonnen hatte. Ich war ins Bett gegangen, als Novak Djokovic noch führte."
Federer erwartet "nicht viel" von sich
Federer ist immer auch Realist gewesen in seiner langen, oft bilderbuchhaften Karriere - kein Träumer, keiner, der Utopien nachhing. "Ich denke, Roger wird wissen, dass er jetzt nicht noch einmal um Platz eins mitspielt", sagt Tim Henman, ein Weggefährte des Schweizers in vielen Jahren, der heute als TV-Experte arbeitet, "aber er kann immer wieder Nadelstiche gegen alle setzen, auch gegen die Murrays oder Djokovics."
Boris Becker, der bis zum Ende der Saison 2016 als Trainer von Djokovic arbeitete, wünscht dem "Ausnahmespieler Federer alles erdenklich Gute", aber er verbirgt in seiner Lagebeurteilung auch nicht die Schwierigkeiten, vor denen der Mittdreißiger steht: "Du hast die drei, vier Top-Leute aus der Weltrangliste, aber auch die vielen jungen hungrigen Wölfe, mit denen du dich herumschlagen musst. Und die Frage ist, wie sehr Roger seinem Körper vertrauen kann", befindet Becker, "aber gleichzeitig ist es so banal wie wahr: Bei ihm kannst du nichts ausschließen. Das war auch immer das Motto, das wir im Team Djokovic hatten."
Federer erwartet naturgemäß "nicht viel" von sich. In den ersten Tagen dieser Rückkehr in seine geliebte Arbeitswelt gehe er "mit geringen Ansprüchen", sagt er, "wichtiger ist für mich, dass der Körper zusammenhält und dass ich eine gute Perspektive für das ganze Jahr sehe."
2017 wird bestenfalls noch lange nicht sein letztes Jahr im Wanderzirkus sein, zwei weitere Spielserien gibt der Maestro sich durchaus noch. Blickt er auf andere Sportgrößen wie Fußball-Torsteher Gianluigi Buffon (wird Ende Januar 39) oder Eishockeycrack Jaromir Jagr (44), fühlt Federer Zuversicht: "Es ist gut zu sehen, dass ich nicht der einzige bin, der diesen langen Atem hat. Das ist schon eine Inspiration."
Roger Federer im Profil