Der Mann hat eigentlich den Überblick gepachtet. Schließlich blickt John Isner aus der lichten Höhe von 208 Zentimetern hinaus in die Welt. Was er allerdings dieser Tage an seinem Arbeitsplatz sieht, auf den Centre Courts des Tennisbetriebs, kann der aufgeweckte Amerikaner nicht so ganz verstehen. "Sind wir zu 100 Prozent sicher, dass Fed vom Planeten Erde stammt", twitterte der Gigant am Sonntagabend an seine Internetjünger - es war der in Worte gefaßte Kniefall vor dem Mann, der längst für den verrücktesten Saisonstart im modernen Profitennis steht.
Ein halbes Jahr Verletzungspause, ein halbes Jahr Unsicherheit, Zweifel, Fragen, Skepsis, und was kommt dann bei jenem "Fed", bei dem scheinbar extraterrestrischen Roger Federer, dem Schweizer Maestro: Erst der Sieg bei den Australian Open wie aus dem Nichts, ein beispielloser Glücksmoment, der unwahrscheinlichste Pokalcoup einer Traumkarriere. Und nun noch hinterher, kaum weniger erwartet, kaum weniger sensationell, auch noch der Triumph beim ersten Masters dieser Spielserie. In der kalifornischen Wüste, in Indian Wells, an einem Schauplatz, der im Tennis als fünfter Grand Slam gilt. "Es ist die nächste Märchenwoche für mich", sagte Federer nach dem 6:4, 7:5-Sieg über seinen Freund, über seinen langjährigen Weggefährten, Doppelpartner und professionellen Rivalen Stan Wawrinka.
Weit über Plan
Die Australian Open, Indian Wells: Es hätten die ersten schwierigen, heiklen Comeback-Schritte für Federer sein müssen, ein langsames Herantasten an die enteilte Weltspitze. Doch nun wurden die beiden Turniere zu Stationen eines Erfolgszuges des alten Meisters, der so mitreißend und leidenschaftlich aufspielte, als wäre er einem Jungbrunnen entstiegen. Und keiner könnte über Federer, den Mann der Stunde, den Mann des bisherigen Jahres 2017, mehr erstaunt sein als Federer selbst: "Ich bin allen meinen Hoffnungen weit voraus. Für mich kommt das völlig überraschend", sagte der 35-jährige Familienvater. Bis zur Saisonhälfte hätte er sich im für ihn denkbar günstigsten Fall wieder "unter den ersten Acht der Weltrangliste" gesehen, nun rückte er mit dem Sieg in der kalifornischen Wüste, beim Tennis-Spektakel des Internet-Milliardärs Larry Ellison, bereits auf Platz sechs der Charts vor.
Selbst die Geschlagenen und Enttäuschten können ihrem sympathischen Spielverderber nicht wirklich böse sein, diesem legendären Virtuosen: "Der lacht doch tatsächlich, das A...loch", entfuhr es Verlierer Wawrinka, als er bei der offiziellen Abschlusszeremonie etwas schwer und stotternd zu den Zuschauern sprach. Aber schon im nächsten Moment bekannte er dann, in Richtung des erheiterten Federer: "Ich bin Dein größter Fan." Was trotz aller Liebenswürdigkeit des Herrn Federer nicht selbstverständlich ist, wenn man, wie Wawrinka, 20 von 23 Matches gegen ihn verloren hat, auch auf den allergrößten Bühnen. Und in diesem Jahr eben auch schon wieder in Melbourne und Indian Wells.
Alles oder nichts
Federer ist ein Phänomen, mehr denn je. Denn das fortgeschrittene Profialter, aber auch seine Verletzungen zuletzt haben ihn noch einmal zum Radikalreformer des eigenen Spiels gemacht. Was unter dem Zwang zur Innovation entstanden ist: Nicht weniger als der aggressivste, offensivste, energischste Federer überhaupt, ein noch stürmischerer Federer als der ganz junge, gerade an den ersten Großtaten feilende Federer. Federer, geplagt von manchen Zipperlein, auch immer wieder vom schmerzenden Rücken, hat aktuell keine Zeit zu verschwenden in den großen Duellen, er muss die Entscheidung suchen. Und er tut das mit einer fast beängstigenden Lust und Laune am Risiko - stets unter dem Motto: Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Über seine Taktik in Indian Wells sagte Federer: "Viel Zug nach vorn. Viel Risiko. Genau wie in Melbourne." Aber eigentlich genau so wie immer in diesen Tennistagen, in dieser gefühlten Alles-oder-nichts-Epoche von Federer.
Allerdings hat die Sache auch einen Haken für alle Federer-Aficionados. Denn der Künstler, der neuerdings auch stets ein großer Kämpfer ist, braucht für seine Parforce-Auftritte einen richtig frischen, gut ausgeruhten Körper. Und er braucht keine Starts bei Turnieren, wo er sich, kühl kalkulierend, wenig ausrechnet. Der Maestro wird sich also seine längeren Pausen gönnen, er wird sie als Teil seines größeren Plans begreifen, immer wieder im richtigen Moment mit voller Kraft zuschlagen zu können. Um die Sandplatz-Serie wird er daher einen ziemlich großen Bogen machen und dann den Fokus auf das naheliegende Ziel richten, auf Wimbledon, auf dem Traum vom Rekordtitel in seinem grünen Tennisparadies. Stuttgart und Halle werden ihm dabei als perfektes Vor-Spiel dienen.
Als Federer kürzlich in Dubai gegen den Russen Donskoy verlor, sagte er selbstkritisch, "nicht mit der absoluten Hingabe" gespielt zu haben, "mit ein paar Prozent zu wenig." Das soll ihm nicht wieder passieren. Es wird einen selteneren Federer geben, kein Wunder für einen Mann, der nun mit 35 auch der älteste Masters-Sieger überhaupt ist. Aber es wird dann, wo immer er startet, erst recht den 100-Prozent-Federer geben. Einen, für den mit 90 Turniersiegen noch immer und noch lange nicht Schluss ist.
Roger Federer im Profil