Es war Ende der letzten Saison, als die Tenniswelt mal wieder einen dieser fragwürdigen Nick-Kyrgios-Momente erlebte. Richard Krajicek, der Turnierdirektor des ATP-Events in Rotterdam, war es, der die ganze Sache aufdeckte. Man habe den Vertrag mit Kyrgios für das 2017er-Turnier aufgelöst, weil der Australier offenbar keine Lust habe, "mit dem nötigen Engagement und der richtigen Professionalität" an den Start zu gehen, erklärte der frühere Wimbledon-Champion damals. Dann dauerte es nicht lange, bis klar wurde, was hinter der Centre-Court-Scheidung steckte: Kyrgios, erklärter Basketball-Freak, habe in der Tennis-Turnierwoche lieber an einem Prominenten-Match der amerikanischen Profiserie NBA teilnehmen wollen. Und Krajicek, ein Mann mit Prinzipien, hielt den Australier auch nicht davon ab: "Was nützt mir ein Spieler, der keine Leidenschaft und kein Engagement zeigt. Das will ich den Zuschauern nicht zumuten."
Das ist der eine Nick Kyrgios. Ein Mann, der seinen Launen nachgibt. Der seinen Beruf nicht immer mit dem nötigen Ernst ausübt. Der sich in jungen Jahren schon einen ordentlichen Ruf als Störenfried, als Rüpel, als Streithansel erworben hat. Der Kollegen, Schiedsrichter, Fans und Offizielle teils wüst attackierte. Und der von seiner eigenen Gewerkschaft, der Spielerorganisation ATP, wegen "ungebührlichen Benehmens" sogar schon gesperrt und in psychologische Beratung geschickt wurde. Es ist dieser Nick Kyrgios, über den Nick Kyrgios selbst ein wenig ratlos sagt: "Eine Woche bin ich motiviert zu trainieren und zu spielen. Und in der nächsten Woche mache ich einfach nichts, habe keine Lust auf den Job." Kyrgios sagte das, als er gefragt wurde, wann er wieder einmal mit einem Trainer zusammenarbeiten werde. Seine eigene Erkenntnis fasste er schließlich in einer selbstironischen Frage zusammen: "Welcher Coach würde das schon mitmachen?"
Vorstellung mit Wow-Effekten
Kyrgios, keine Frage, ist die widersprüchlichste, aber auch faszinierendste Figur, die gegenwärtig im Tourbetrieb der Tennisnomaden herumreist. In Miami, bei einem der wichtigeren Turniere neben den Grand Slams, zeigt der 21-jährige gerade wieder seine überragenden Talente, seine spielerische Extraklasse und artistische Schläge zum Staunen - auch im Viertelfinale gegen Deutschlands Toptalent Alexander Zverev war es in der Nacht zum Freitag wieder eine Kyrgios-Vorstellung mit Wow-Effekten, die den Centre Court erbeben ließ. "Es lief wunderbar. Ich fühlte mich richtig gut da draußen", sagte Kyrgios später, nach dem 6:4, 6:7 (9:11), 6:3-Sieg, der ihm nun ein Halbfinal-Rendezvous mit Roger Federer verschafft. Das Verwirrende, allerdings auch Magnetische an Kyrgios ist seine Unberechenbarkeit, das Rätsel, das diesem Zwei-Meter-Riesen innewohnt: Wo er in Miami und kürzlich auch in Indian Wells die Tennisfreunde mit Spektakel-Auftritten verwöhnte, ließ er ausgerechnet daheim in Australien zu Jahresbeginn mal wieder verbrannte Erde zurück.
Bei seinem frühen Melbourne-Aus gegen den Südtiroler Andreas Seppi zeigte er auf der Zielgeraden der Partie so wenig Engagement, dass ihn Beobachter John McEnroe des "Abschenkens" beschuldigte. Schlimm sei es, das mitansehen zu müssen, so BigMac, "denn Kyrgios ist der talentierteste Spieler der Erde unter Dreissig."
Die richtige Mentalität?
In dieser Einschätzung sind sie sich eigentlich einig, die Stars von früher, die ehemaligen Champions - all jene, die nun als TV-Kommentatoren oder Kolumnisten weiter ständig die Tennisszene im Auge haben. Einer der profundesten Analytiker ist Paul Annacone, der einst auch als Trainer bei Federer arbeitete. "Kyrgios ist der vielversprechendste Mann, der seit Roger in den Circuit gekommen ist", sagt Annacone, wahrlich nicht für übertriebene Schwärmereien bekannt, "die große Frage bleibt aber: Schafft er es mental, ein Topprofi zu werden." Diese Frage stellt sich auch Brad Gilbert, der Amerikaner, der einst das Maximale aus eher durchschnittlichem Potenzial herausholte und später mal ein Buch mit dem sinnigen Titel "Häßlich gewinnen" publizierte: "Kyrgios hat sportlich alles, was es braucht, um die Nummer 1 zu werden. Aber du brauchst mehr, um Grand Slams zu gewinnen und ein ganz Großer zu werden." Eben die Mentalität eines Champions. Und die Professionalität, Talent in Erfolg zu verwandeln.
Federer, der Gegner in Miami, könnte ihm da etwas erzählen. In jungen Jahren hatte der Maestro zwar nicht die Lust-und-Laune-Attitüde von Kyrgios, er gehörte nicht unbedingt in die Kategorie launisches Genie, aber er war berüchtigt für seine wilden Temperamentsausbrüche auf den Courts. Er haderte mit sich selbst, stritt auch mit Schiedsrichtern, warf und zertrümmerte Schläger - es waren wohl auch Reaktionen auf den Erwartungsdruck, der auf dem jungen, hochgehandelten Federer lastete. "Irgendwann wurde mir klar, dass es nur eine Wahl gab: Entweder höre ich auf mit diesem Verhalten, mit diesen ganzen Mätzchen. Oder ich höre mit dem Tennis auf", sagt Federer.
Verständnis vom nächsten Gegner
Er, der Champion der Champions im Tennis, der Mann des Augenblicks und der neuen Saison, gehört zu denen, die Kyrgios verständnisvoll eine Brücke in die bessere Zukunft bauen wollen: "Ich weiß, was er durchmacht. Wie schwer es ist, mit all dem Hype, mit der Kritik umzugehen", sagt Federer, "er ist ein so großes Talent. Einer, den das Tennis braucht in den nächsten Jahren." Erst einmal haben sich Federer und Kyrgios gegenüber gestanden, vor zwei Jahren in Madrid - der Australier gewann im Tiebreak des dritten, entscheidenden Satzes mit 14:12. Kürzlich in Indian Wells fiel das große Generationen-Duell der beiden künstlerischen Athleten aus, Kyrgios hatte sich irgendwann und irgendwie den Magen verdorben. Jetzt aber ist der Showdown der beiden heißesten Spieler des Augenblicks schon wieder anberaumt, zwingend, nicht zufällig.
Das ATP-Turnier in Miami im Überblick