tennisnet: In Stuttgart haben Sie erzählt, dass Sie sich aufgrund der Bachelor-Arbeit für 2016 gar nicht perfekt auf die Saison vorbereiten konnten. Und dann haben Sie das Jahr Ihres Lebens hingelegt!
Siegemund: Eine optimale Vorbereitung war es nicht. Das wäre es, wenn man alles genau so ausrichtet, wie es individuell am besten ist. Das ging nicht. Aber: Die Zeit, in der ich trainiert habe, war extrem hochwertig. Wenn man viel Zeit hat, trainiert man oft monoton, ist nicht ganz bei der Sache und reißt seine Stunden runter. Das ist nicht gut. Es war Fluch und Segen: Ich habe mich in den Trainingseinheiten richtig reinhängt und Bock drauf gehabt, weil ich den restlichen Tag am Schreibtisch sitzen musste, um an meiner Arbeit zu schreiben. Ich bin auch relativ locker in die Saison gegangen, weil die Erwartungen nicht hoch waren.
tennisnet: Wie kam es überhaupt zum Studium der Psychologie - wieso nicht BWL, Jura oder Astronomie? Und wie kamen Sie zum Thema Ihrer Arbeit, "Versagen unter Druck"?
Siegemund: Psychologie war schon immer meine Leidenschaft. Mich hat es schon als Kind interessiert, wie der menschliche Geist funktioniert, warum wir manche Sachen tun und andere nicht. Wie wir Entscheidungen treffen. Es passt gut zu meinem Sport, war aber ein grundsätzliches Interesse. Für die Bachelor-Arbeit musste ich etwas finden, was auch meinem Professor passt. Dann bin ich auf "Choking under pressure" gestoßen. "Versagen unter Druck" - du bist eigentlich in der Lage, etwas zu tun, kannst es aber im entscheidenden Moment nicht abrufen.
tennisnet: Dieses Jahr hat das umso besser geklappt, und das mit einer unglaublich erfrischenden Spielweise. Sie spielen variantenreich, mit Stopps, mit Slice... So wie sich die Erfinder das Tennisspiel wohl vorgestellt haben.
Siegemund: Ein Stück weit ist die Art, wie man Tennis spielt, wohl mit der Persönlichkeit verknüpft. Ich habe schon als Kind gespielt, strategisch den Punkt aufgebaut, mit viel Variabilität. Ich war nie der super Aufschläger oder Hardhitter und hatte mit dem variantenreichen Spiel mehr Chancen, habe das weiter kultiviert. Ich bin auch sonst vom Typ ähnlich, wie ich spiele. Alles, was gleichförmig oder langweilig ist, ist nicht mein Ding (lacht). Es ist natürlich ein tolles Kompliment, wenn andere das als erfrischend oder abwechslungsreich wahrnehmen.
Editorial - Tennisnet und SPOX: We are One!
tennisnet: Sie sind jemand, der sein Seelenleben gerne preisgibt, sehr entspannt wirkt, in Pressekonferenzen ausführlich antwortet. Auch dass wir hier an einem Freitagabend telefonieren, ist ja nicht selbstverständlich. Genießen Sie die Öffentlichkeit auch ein bisschen?
Siegemund: Diese Facette ist ja erst in letzter Zeit relevant. Ich finde das aber sehr positiv. Plötzlich hast du nicht mehr nur die Zeit auf dem Platz und gehst nach Hause, sondern es gehören Fans dazu, ich gebe Interviews, die Leute interessieren sich für mich. Ich finde es toll, wenn ich die Leute mit meinem Sport bewegen kann. Ich bin locker drauf, wenn ich die Zeit habe. Prioritäten setze ich trotzdem. Der Presse gegenüber versuche ich mich so zu geben, wie ich bin, so fühle ich mich am wohlsten und bin damit auch gut gefahren. Ich möchte keine Standardinterviews geben müssen, damit ich nicht angreifbar bin. Aber ich verstehe, wenn Spielerinnen schlechte Erfahrungen gemacht haben, indem sie ehrlich waren und das Wort im Mund verdreht wurde.
tennisnet: Als Nummer zwei in Deutschland sind Sie natürlich auch für den Fed Cup am 11. und 12. Februar auf Hawaii ein heißes Thema. Stehen Sie mit Barbara Rittner im Austausch?
Siegemund: Ich habe neulich mit ihr trainiert und stehe immer mit ihr in Kontakt. Zum Fed Cup kann ich aber noch nichts sagen. Klar, ich bin jetzt auf der "heißen Liste". Ich würde riesig gerne spielen, das war schon immer mein Traum. Solche Erfahrungen möchte ich so viele machen wie möglich. Auch, um meinen Horizont zu erweitern. Es ist etwas anderes, Fed Cup zu spielen, ein anderer Druck, das Team-Feeling. Daran kann man auch für sein eigenes Spiel wachsen.
tennisnet: Wollen Sie 2017 noch weiter oben angreifen oder ist das Ziel zunächst, das Ranking zu halten? Oder gehen Sie das alles ohne zu viel Gedanken an? 2016 haben Sie Anfang des Jahres noch etwas unterm Radar gespielt, 2017 wird das nicht mehr der Fall sein.
Siegemund: Ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn man zurückschaut oder zu weit nach vorne. Die Kunst ist, in dem Moment zu leben, in dem man sich befindet. Ich versuche, das locker anzugehen. In diesem Jahr habe ich viele schwierige Situationen erlebt und davon viele toll gemeistert. Ich kann nicht erwarten, dass ich das im nächsten Jahr genauso mache. Mein Ziel ist, meine Leistung, mein Potenzial abzurufen. Alles Schritt für Schritt anzugehen, den Moment zu ergreifen, wenn er da ist. Das war auch in diesem Jahr das Erfolgsrezept.
Das Gespräch führte Florian Goosmann.