15. November 2014. Laute Musik schallt durch die Frankfurter Festhalle, sämtliche Scheinwerfer sind auf ein gigantisches WWE-Logo gerichtet. Sekunden später ist es soweit: Unter ohrenbetäubendem Applaus betritt Tim Wiese die Halle. Der ehemalige Nationalspieler marschiert in einer ausgewaschenen Jeans, grauem Muskelshirt und einer modisch nicht minder fragwürdigen Lederjacke ein, klatscht mit Fans ab und nimmt schließlich auf einem schwarzen Klappstuhl Platz.
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Während es im Ring beim Match zwischen den Tag-Team-Champions Goldust und Stardust sowie den Usos zur Sache geht, fungiert Wiese, der weiterhin von den Zuschauern lautstark gefeiert wird, in der Rolle des Zeitnehmers. Immer wieder wird er dabei von Stardust verhöhnt, bis es Wiese endgültig zu bunt wird.
Er entledigt sich seiner Jacke und betritt den Apron. Noch bevor es jedoch zu Handgreiflichkeiten mit dem geschminkten Widersacher im Seilgeviert kommen kann, wird dieser von den Usos abgefertigt und aus selbigem befördert. Wiese darf somit zwar nicht selbst Hand anlegen, lässt sich aber anschließend dennoch zusammen mit den Siegern feiern und präsentiert der Wrestling-Welt auf dem Turnbuckle seine riesigen Muskelberge.
"Anfangs das Herz geblutet"
Eine echte Schlägerei hätte es aber ohnehin nicht gegeben, denn Wiese ist inzwischen Entertainer. Bereits mehrere Wochen bevor die bedeutendste Wrestling-Promotion der Welt, die WWE, einmal mehr in Deutschland gastierte, sprach der Ex-Profi von einer Zusammenarbeit. "Mir liegt eine offizielle Anfrage vor. Es geht um ein Engagement als Wrestler", hatte Wiese der Bild bestätigt, allerdings gleichzeitig betont, sich erst einmal "alles in Ruhe anhören" zu wollen. Das Geld müsse schließlich ebenso stimmen.
Der Überlegungsprozess nahm im Anschluss jedoch erheblich weniger Zeit als erwartet in Anspruch. Auch das Kapitel Profi-Fußball beeinflusste den ehemaligen Schlussmann, der damals noch immer bei 1899 Hoffenheim unter Vertrag stand, bei seiner Entscheidungsfindung bereits nicht mehr. Etwas weniger als zwei Jahre zuvor war Wiese bei den Kraichgauern immerhin auf äußerst unschöne Weise aussortiert worden. Eine Rückkehr auf den Platz war schon lange kein realistisches Thema mehr.
"Ungefähr ein halbes Jahr nach meinem Ende bei Hoffenheim habe ich mit dem Fußballgeschäft abgeschlossen", blickte Wiese, der sein letztes Bundesliga-Spiel am 26. Januar 2013 gegen Eintracht Frankfurt bestritten hatte und danach vom damaligen 1899-Trainer Marco Kurz "zum eigenen Schutz" aus dem Kader gestrichen und später sogar in die extra eingeführte "Trainingsgruppe 2" abgeschoben worden war, zurück.
Der Undertaker als Vorbild
Er habe deshalb "einen anderen Weg genommen", so der Geschasste. Zwar habe Wiese "anfangs das Herz geblutet", statt jedoch mit der Vergangenheit zu hadern, habe er sich "voll und ganz auf das Wrestling konzentrieren wollen", sagte der Mann, der sich inzwischen eine beachtliche Muskelmasse antrainiert hatte und in den Sozialen Medien vor allem von Bisonfleisch schwärmte.
Trotz der Tatsache, dass die Verantwortlichen der TSG schon im Januar 2014 offiziell bekanntgaben, dass Wiese "mit sofortiger Wirkung" den Verein verlassen werde, musste er sich mit neuen Plänen in Geduld üben. Ein anderweitiges Engagement war allein deshalb nicht möglich, da der Vertrag trotz der nach außen hin kommunizierten Trennung noch bis Ende Juni 2016 weiter laufen sollte. Wiese blieb somit Angestellter des Klubs und durfte sich weiterhin über ein Millionengehalt freuen.
Er habe mit Fußball dennoch "nichts mehr am Hut" gehabt, bekräftigte er und schwärmte bei jeder Gelegenheit von seiner neuen Liebe. "Ich bin in den 90er-Jahren damit aufgewachsen. Damals gab es einen großen Hype in Deutschland. Alle meine Freunde waren WWE-Fans. Wir sind anschließend immer raus auf den Spielplatz und haben alles nachgespielt. Da war ich immer der Undertaker", erzählte Wiese und führte im gleichen Atemzug an, dass ihm Wrestling allein deshalb im Blut liegen müsse.
Fitter als in der Bundesliga
Auch die schauspielerische Komponente, die einen großen Bestandteil einer Karriere als WWE-Superstar verkörpert, sei für ihn kein Problem, gab der 34-Jährige in der Sendung Inas Nacht zu Protokoll. "Mein Leben ist Show", erklärte Wiese der NDR-Moderatorin Ina Müller und zog wie in den letzten Jahren üblich einen weiteren Vergleich mit seiner Vergangenheit: "Ich bin fitter als früher. Als Torwart muss man im Training nur ein bisschen rumhampeln. Im Wrestling ist die Belastung deutlich größer."
Gegenüber der AZ ging er ins Detail. "Es ist absolut nicht vergleichbar, was die Schmerzen angeht", sagte Wiese. "Beim Wrestling bist du nur am Fliegen, als Fußballer erlebst du das nicht. Klar, als Torwart schon eher, aber das ist kein Vergleich. Über die Wehwehchen von Fußballern kann ich heute nur noch lächeln. Es ist sehr, sehr hart. Ein hartes Leben. Da muss ich durch."
Mäßiges Tryout, großes Selbstvertrauen
Wie hart das Training wirklich ist, musste der Deutsche unter anderem bei Besuchen im Performance Center der WWE in Orlando erfahren. "Er hatte ja ein Tryout in der WWE", erinnerte sich der amtierende Universal Champion Kevin Owens unlängst an Wiese. "Ich habe gehört, es ist nicht gut gelaufen. Ich bin mir sicher, dass er dort gemerkt hat, dass das, was wir tun, weit schwieriger ist, als er erwartet hat."
In der Tat sind die körperlichen sowie mentalen Belastungen trotz der vorherbestimmten Kampfabläufe äußerst hoch. WWE-Superstars müssen im Idealfall über eine enorme Muskelmasse verfügen, allerdings beweglich bleiben. Kämpfe können mitunter bis zu 20 Minuten oder länger dauern. Eine extreme Ausdauerbelastung für den Körper ist die Folge, vom physischen Verschleiß ganz zu schweigen.
Zudem sind die Aktiven im Jahr nicht selten weit mehr als 300 Tage auf Tour. Schmerz- sowie andere Hilfsmittel werden zum ständigen Begleiter. Zwar versucht die WWE die Einnahme einzudämmen, wie effektiv dies anhand der hauseigenen Wellness Policy der Fall ist, lässt sich aber kaum nachvollziehen.
Dass es für ihn in dieser Welt viel zu lernen gäbe, hatte selbst Wiese gegenüber der Bild eingeräumt. "Jetzt haben wir viel Technik trainiert. Da fängt es an, Spaß zu machen. Ich verstehe die Abläufe im Ring, die englischen Kommandos", schilderte der gebürtige Rheinländer, der nach eigener Aussage zudem "sehr schnell lerne". Dennoch wurde es in den Monaten nach seinen Tryouts zunächst still um ihn. Bei der Deutschland-Tour 2016, die auch in Bremen Halt machte, fehlte er. Wiese schuftete im Hintergrund.
Harte Arbeit zahlt sich aus
"Tim ist hartnäckig. Er hat eine enorme Belastbarkeit und Entschlossenheit an den Tag gelegt, um sich diese Chance zu verschaffen. Das ist seine Gelegenheit, auf Worte Taten folgen zu lassen", erklärte Triple H, seines Zeichens Executive Vice President of Talent, Live Events & Creative und Schwiegersohn von WWE-Boss Vince McMahon, im Juni. Neben vielen netten Worten gab es für Wiese endlich den ersehnten Vertrag in Stamford.
Bis zu seinem Debüt-Kampf sollte der Eraser von der Weser, wie ihn einige Fans tauften, in nur fünf Monaten in den USA fit für den Ring gemacht werden. "Er wird unterrichtet von den besten Trainern der Welt. Ich denke, er wird bereit sein", erklärte Sheamus, der mit Cesaro an der Seite des Deutschen stehen wird, wenn es am 3. November in der Münchner Olympiahalle Ernst wird.
Die vielen kreativen Kampf-Namen, die in den sozialen Medien hinsichtlich des Debüts in der bayerischen Landeshauptstadt herumgeisterten, überlebten das interne Auswahlverfahren indes nicht. Wiese steigt in München offiziell als "The Machine" in den Ring.
Lob und eine klare Ansage
WWE-Coach Matt Bloom lobte Wiese ebenfalls in höchsten Tönen. Der 34-Jährige feilte derweil zusammen mit Trainer Murat Demir in Deutschland längst weiter an seinen Fähigkeiten und geizte dabei nicht mit Beweismaterial. Wenngleich dieses oft für ein Schmunzeln sorgte, etwa wenn Wiese mit einer Maske, die zur Simulation eines Höhentrainings dient, zu den Klängen von Seven Nation Army der White Stripes neben einem 1000-PS-Sportwagen einen Feldweg entlang lief. So mancher Fußballfan dürfte Wiese spätestens ab diesem Zeitpunkt die Zurechnungsfähigkeit abgesprochen haben.
Seine Art rief auch in der Wrestling-Welt kritische Reaktionen hervor. "Will der mich verarschen? Mit solchen Videos zeigt er, dass er überhaupt keinen Respekt vor den echten Wrestlern hat", attackierte Ulf Herman, besser bekannt als Herman the German, gegenüber der Bild seinen Landsmann. "Mit solchen Videos verscherzt er es sich. Er macht sich lächerlich." Wiese, der auf dem Feld schon des Öfteren angeeckt war und generell gerne polarisiert, war dies allerdings egal. Verrückt sind für den Ex-Bremer sowieso eher die Menschen, die ihr Leben auf der Couch verbringen und ihren Träumen hinterhertrauern.
Ein taktisch kluger Schachzug
Die Verantwortlichen scheinen dies ähnlich zu sehen. Angesichts der Aufmerksamkeit, die ein ehemaliger National- und Bundesligatorhüter, der in Florida stets mit einem schlichten Toyota zum Training erschienen ist und verstanden zu haben scheint, dass er in seiner neuen Welt nur einer von vielen ist, der WWE zukommen lässt, ist es zweifelsohne ein kluger Schachzug, bei vergleichbar geringem Risiko.
Wiese selbst zeigte sich wenige Tage vor seinem Auftritt jedenfalls mehr als glücklich über die Chance. "Wahnsinn so ein großartiges Match bei meinem ersten WWE-Auftritt. Ich habe hart dafür gearbeitet und kann es kaum erwarten, gemeinsam mit Cesaro und Sheamus in den Ring zu steigen", erklärte der 34-Jährige und schob gegenüber dem SID nach, dass er lange nicht mehr so hart gearbeitet habe.
Auch für seine Gegner, Primo, Epico und Bo Dallas, gab es klare Worte. "Ich kenne ihre Namen, das reicht", so Wiese. "Ich schaue nur auf mich. Ich kenne meine Körpermaße. Ich kenne meine Brutalität. Und die werde ich gnadenlos einsetzen. Es kann kommen, wer will. Meine Taktik ist, direkt auf den Gegner zuzugehen und ihn komplett zu zerstören. Volle Konfrontation. Das ist mein Job. Wen ich zerstöre, ist mir so was von egal." In München will The Machine Worten nun auch Taten folgen lassen.