"Vettel sitzt auf dem längsten Ast"

Christoph Köckeis
09. April 201310:24
Über Alexander Wurz' (r.) Zukunft als Fahrermentor von Williams wird noch verhandeltgetty
Werbung

Der "Multi 21"-Eklat beim Grand Prix von Malaysia entzweit die Formel 1. Sebastian Vettel widersetzte sich dem Red-Bull-Befehl, die Abmahnung fiel nur halbherzig aus. Alexander Wurz weiß, warum die Führungsriege Konsequenzen scheut. Im SPOX-Interview spricht der 39-jährige Tausendsassa, dessen Zukunft als Williams-Fahrermentor noch ungewiss ist, Klartext: Über Schmerzensgeld, Irritationen bei Mercedes und Teamplay.

SPOX: Herr Wurz, selbst zwei Wochen nach Kuala Lumpur sind die Gemüter erregt. Noch immer schwelt der Konflikt zwischen Mark Webber und Vettel. Wie empfanden Sie die Geschehnisse?

Alexander Wurz: Als sehr gut für den Sport. Diese Aktionen bringen Interesse, erhöhen die Einschaltquoten. Unter dem Strich ist die Formel 1 der Sieger - vom Geschäftsmodell. Da liegen Emotionen in der Luft. Von der sportlichen Ideologie lässt sich darüber diskutieren, ob die Maßnahmen einiger Teams korrekt waren.

SPOX: Jeder Experte scheint eine konträre Meinung zum gnadenlosen Überholmanöver Vettels zu haben. Was sagen Sie mit etwas Abstand dazu?

Alexander Wurz fuhr in der Formel 1 für Benetton, McLaren und Williamsimago

Wurz: Bis es dazu kam, baute sich im Rennen etwas auf. Alles begann in Runde 28, mit dem nicht sonderlich fein gewählten Funkspruch von Sebastian: 'Räumt Mark aus meinem Weg, er ist zu langsam.' Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Webber die Reifen gut eingeteilt, konnte als passende Antwort seine Führung auf fünf Sekunden ausbauen. Sebastian war nicht in der Lage, zu kontern. Schon da spürte man die Spannung. Im Nachhinein verfügen wir über das Background-Wissen, was 'Multi 21' bedeutet. Die Plätze sind demnach bezogen, die Motoren sollen geschont und das Rennen neutralisiert werden. Hätte Red Bull nicht diese Stallorder ausgesprochen, hätte Webber mit 99,9-prozentiger Sicherheit den Erfolg nach Hause gefahren. An diesem Tag war er vom Reifen-Management besser. Er akzeptierte den Funkspruch, schraubte die Leistung zurück. So kam Vettel ran und konnte der Versuchung nicht widerstehen, vorbei zu fahren.

SPOX: Manche sprechen vom Racer-Gen. Andere von purer Rücksichtslosigkeit. Wie würden Sie diese Affäre einordnen?

Wurz: Was ich prekär finde und wiederholt offengelegt wurde: Auf dem längsten Ast bei Red Bull sitzt Vettel. Das Team hat keinen Versuch unternommen, ihn zurück zu pfeifen. Ob er darauf reagiert hätte, ist eine andere Frage. Wenn du etwa dem kleinen Kind sagst, du darfst die Schokolade nicht essen, aber es isst sie trotzdem, musst du darauf reagieren und eine erzieherische Maßnahme tätigen. So ist die Situation klar. Webber muss sich dessen bewusst sein und jeder andere, der in Zukunft mit Sebastian fährt, auch.

SPOX: Nach dem WM-Triple verfügt der Heppenheimer über ein exponiertes Standing beim Dosenkonzern. Warum dulden die Verantwortlichen derartige Alleingänge? Welche Rolle spielen die hartnäckigen Spekulationen über ein Ferrari-Engagement?

Wurz: Red Bull hat im Augenblick keine Alternative für das fahrerische Talent Vettels. Auf dem Markt gibt es keinen Piloten, welchen sie in den RB9 setzen könnten mit der Gewissheit, er würde über Jahre hinweg ein konstant überragendes Niveau halten. Entsprechend ist man sehr vorsichtig, möchte nichts tun, um ihn zu vergrämen.

SPOX: Mark Webber bleibt nichts übrig, als sich mit dem Nummer-zwei-Status zu begnügen. Wie schwer ist es für Vollblut-Sportler, im Streben nach Perfektion gebremst zu werden?

Wurz: Da gibt es eine doppelstellige Millionen-Summe, um sich mit diesem Schmerz abzufinden. Wenn er glaubt, in einem anderen Rennstall wäre er besser bedient, sollte er sich verabschieden. Ich glaube aber, im Augenblick wird er diese bittere Pille schlucken. Er ist noch immer in einem Team, mit welchem er Erfolge feiern kann. Wenn er Glück hat und Vettel einige Defekte, könnte er sogar um die WM mitfahren. Ansonsten spielt er eben die zweite Geige, verdient gutes Geld und zählt zu den Stars der Szene. Ganz einfach!

SPOX: Die Frage, die sich aufdrängt: Wie viel Michael Schumacher steckt in Vettel?

Wurz: Überschlagen wir es in Prozenten: Schumacher wurde sieben Mal, Vettel drei Mal Weltmeister - da kommt man auf knapp unter 50 Prozent. Das würde fast passen. Man kann sie schwer vergleichen. Sie sind unterschiedliche Charaktere. Die einzige Eigenschaft, welche beide auszeichnet, ist, mit extrem viel Talent gesegnet zu sein. Und die kompromisslose Art jenes auszuschöpfen, Grands Prix und Titel zu gewinnen. SPOX

SPOX: Einst profitierte Rekordchampion Schumacher zu Ferrari-Zeiten von Stallorder. Ross Brawn zog dabei im Hintergrund die Strippen, gilt als Verfechter dieser. Der nunmehrige Silberpfeil-Boss bremste in Malaysia Nico Rosberg ein, verbot ihm, Lewis Hamilton zu attackieren. Wie viel Konfliktpotenzial birgt der Vorfall?

Wurz: Mercedes darf sich glücklich schätzen: Beide respektieren einander, kommen bestens aus. Sie waren nicht happy damit. Trotzdem holten sie nicht zum verbalen und medialen Rundumschlag aus, das ist ein riesen Vorteil. Was ich eher kritisch finde, da ich mich selbst in dieser Situation befand, ist die Tatsache, dass Principal Brawn, die Positionen einfriert. Und das im Vorfeld nicht besprochen wurde.

SPOX: Inwiefern beeinflusst eine solche Ad-hoc-Entscheidung die Herangehensweise?

Wurz: Du teilst dir Reifen und Sprit ein, um in der letzten Runde, gut genug zu sein. Ziel ist es, die Distanz schnellstmöglich zu absolvieren. Rosberg hatte dies besser geschafft als der ultraschnelle Hamilton. Wenn allerdings jedes Rennen nach 70 Prozent teamintern entschieden wird, was passiert dann? Beide würden alles darauf auslegen, nach dem zweiten Boxenstopp vorne zu sein, ohne Rücksicht auf die Konkurrenz. Es ginge einzig darum, den anderen zu schlagen. Dadurch würde das Team Schaden tragen. Wenn dir per Funk mitgeteilt wird, nicht anzugreifen, liegen die Nerven blank. Du bist am Limit, unter Adrenalin - das ist eine brutale Geschichte, die man nicht einfach verdaut.

Seite 2: Irritationen bei Mercedes - Lotus zu schwach

SPOX: Rosberg eroberte den Premierenerfolg für das neuformierte Mercedes-Team. Man sollte meinen, er hätte Hamilton die interne Wertschätzung betreffend einen Vorsprung. Glauben Sie, diese Entscheidung kann als Zeichen gewertet werden?

Wurz: Ich glaube nicht! Mit Garantie werden Rosberg und sein Management messerscharf versuchen, eine Erklärung zu finden. Ob in den Köpfen eine Hackordnung verankert ist. Oder ob es sich um einen spontanen auf der Sicherheit basierenden Beschluss handelte. Vielleicht dachte Brawn nicht an die Reibungen und Missverständnisse, die aufkommen können. Zwar verbindet Rosberg und Hamilton eine Freundschaft, aber: Wenn der Druck steigt, kippt das.

SPOX: Wie viel Teamplay verträgt nun die Formel 1?

Wurz: Selbst in Einzelsportarten ist man auf Menschen im Hintergrund angewiesen. Hin und wieder muss man das Ego hinten anstellen, sich mit der Situation abfinden. Besonders, wenn man sie zumeist im Griff hat. Ist es aus politischen Gründen anders, wird man nicht gezwungen, dabei zu sein. Stallorder verstehe ich, solange sie nicht ausartet - wie damals bei Ferrari auf dem A1-Ring mit Michael Schumacher und Rubens Barrichello. In der letzten Kurve einem Piloten frühzeitig zu helfen, lässt das Rennen zur Farce verkommen. Da führt man den Fan an der Nase herum.

SPOX: Ein bestimmendes Thema sind die Reifen: Ein Gros beklagte, dass Pirelli mit einem 2010er-Renault testet. Dieser trage die DNA Lotus', dem Nachfolger-Rennstall der Franzosen. Ein berechtigter Vorwurf?

Wurz: Jedes Team hätte Pirelli helfen, ein Testauto zur Verfügung stellen können. Dazu wollte sich niemand durchringen. Ich glaube nicht, dass sie einen Vorteil ergattern. Es sind Einheitsreifen, jeder hat die gleiche Anzahl an Tests, gleich viel Zeit, sich darauf einzustellen. Damit haben sich alle auseinanderzusetzen, cleverer als die Konkurrenz zu sein, um einen Vorteil zu finden. Es ist eine Chance, keine Bestrafung. Bei den Pneus selbst hat sich die Konstruktion maßgeblich verändert. Im Vorjahr war viel vom Temperatur-Fenster abhängig, dem thermischen Einfluss. Heuer tauchte ein neues Problem auf: Der Gummi scheint ein chemisches Problem zu haben, wird nicht hart. So reibt sich dieser auf dem Asphalt auf und bekommt das berühmte Graining.

SPOX: Ungeachtet dessen schockte Kimi Räikkönen zum Auftakt die Konkurrenz, kam damit sehr gut zurecht. In Malaysia tauchte der Iceman unter, verblasste hinter Red Bull und Mercedes. Wie stark ist Lotus wirklich?

Wurz: Nicht stark genug für die WM. Das traue ich mich zu sagen. Ich kenne das Management von Lotus, sie sind sehr smart und innovativ. Sobald es neue Ideen gibt, zählen sie zu den Ersten. Letztlich verfügt man nicht über das Budget, um mit der Entwicklung der Großen mitzuhalten. Sie können maximal ein Joker sein. Um nachhaltig zum Titel-Aspiranten aufzusteigen, fehlt es am nötigen Kleingeld. Da ist der Reifen-Faktor zu klein. Die anderen lernen dazu, werden herausfinden, wie sie sich einstellen müssen. Und da kommt man zur Aerodynamik. Und zu den Ressourcen.

SPOX: Ferrari pokerte in Malaysia zu hoch: Fernando Alonso stolperte über seinen eigenen Frontflügel. Warum ging man dieses Vabanquespiel ein, holte den Spanier nicht an die Box?

Wurz: Zuerst ordnete er den Abstand zu aggressiv ein, fuhr Vettel an. Letztlich betrieb man Risikomanagement. Ich verstehe es nicht. Jeder muss wissen, wenn der Frontflügel nur noch mit der Hälfte der Struktur hängt, die Kräfte zu hoch werden können. Man ließ Alonso draußen, wollte ihn nach drei, vier Runden auf Slicks wechseln. Die Rechnung ging nicht auf. Man wollte einfach nicht wahrhaben, dass das Rennen nach Alonsos Fahrfehler gegessen war.

SPOX: Vermag die Scuderia zurückzuschlagen?

Wurz: Ferrari war von den Rundenzeiten dabei. Näher dran als im Vorjahr. Dass Alonso dieser Fehler passierte, ist menschlich. Man sollte sie nicht abschreiben. Sie sind von der Performance knapper an der Spitze als 2012. Entsprechend werden sie um Siege mitfahren.

SPOX: Wie werden sich die Kräfteverhältnissse in China gestalten?

Wurz: Ganz anders als im Vorjahr. Damals drehte sich alles um das Thema Reifentemperatur. Mercedes brachte die Pirellis sehr schnell in das richtige Fenster. Das war überall ein Nachteil. Der Reifen baute zu schnell ab, wurde vom Setup zu attackiert. Außer in China, da half diese schlechte Eigenschaft. Nachdem die Pneus nicht mehr so temperatursensibel sind, wird das Kräfteverhältnis jenem in Malaysia ähneln: Red Bull und Mercedes knapp zusammen. Und dann Ferrari.

Der Formel-1-Kalender im Überblick