Ferrari hat beim Großen Preis von Australien Schiffbruch erlitten. Einen möglichen Sieg von Sebastian Vettel verschenkte die Scuderia scheinbar durch ein taktisches Fehlverhalten leichtfertig an Nico Rosberg und Mercedes. Doch der Schein trügt. Und fast hätte sogar Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton noch gewonnen.
Das im Qualifying überlegene Team verpatzt den Start, der am Vortag abgeschlagene Verfolger scheint dem Sieg entgegenzufahren, bis ein Horrorcrash alles auf den Kopf stellt. Das führende Team verpokert sich bei der Reifenwahl, einem Fahrer schießen Flammen um die Ohren, die Weltmeister machen alles richtig und feiern doch noch den Doppelsieg. Dramatischer kann eine Saison wohl kaum beginnen.
"Wir haben den aggressiven Weg gewählt. Im Nachhinein hätten wir wohl etwas anderes tun können, aber ich will nichts und niemanden beschuldigen. Wir sind ein Team", sagte Vettel nach dem Rennen. Doch ganz so einfach lässt sich der Große Preis von Australien 2016 dann doch nicht zusammenfassen.
Ob Vettel seine Führung ohne Fernando Alonsos heftigen Unfall bis zum Ziel verteidigt hätte, sei dahingestellt. Der Kampf gegen Rosberg wäre eng geworden.
Strategieoptionen durch Rote Flagge
Auch mit der Unterbrechung war der Kampf zwischen Mercedes und Ferrari enger, als es im Fernsehen zunächst den Eindruck erweckte. Sie ermöglichte den Teams, ihre Pläne über den Haufen zu schmeißen.
Gleich mehrere Fahrer wechselten auf die härtesten und damit haltbarsten Slicks, die Pirelli nach Melbourne gebracht hatte. Für Romain Grosjean war es der einzige Reifenwechsel, der beim Haas-Debüt gleich Platz 6 einbrachte.
Ein unvermeidbarer Schritt, den Ferrari leichtfertig verpasste? Vettel konnte sich nicht von Rosberg absetzen, weil er die Box mit gebrauchten Supersofts verließ. Die superweichen Reifen brachten durch die vorherige Beanspruchung kaum Geschwindigkeitsvorteil.
Mercedes holte dadurch den Sieg. Scheinbar problemlos wurden Rosberg und Hamilton an die Spitze gespült. Hätte Ferrari also sicher den Sieg eingefahren, wenn Vettel wie die Mercedes auf die Medium-Mischung gewechselt wäre?
Hätte Ferrari mit Mediums den Sieg geholt?
"Das kann ich so nicht sagen", sagte Teamchef Maurizio Arrivabene: "Wir müssen uns die Daten ansehen, um sicher zu sein, ob wir richtig lagen. Jedes Auto hat einen anderen Verbrauch, eine andere Abnutzung. Jetzt sicher zu sein, dass wir falsch lagen, ist Nonsens."
Selbst bei Mercedes waren sich weder die Verantwortlichen noch die Fahrer sicher, dass sie beim Restart mit den kalten Reifen ihre Plätze halten würden. Und die Scuderia hat aktuell das zusätzliche Problem, dass ihr Erfahrung fehlt, nachdem sie das Konzept ihres Autos für diese Saison radikal umgestellt wurde. Durch die neue Vorderradaufhängung verhalten sich die Reifen anders als in den letzten Jahren.
Auch deshalb war Vettel nach dem Rennen die gute Laune nicht zu nehmen. "Letztes Jahr war das eine unserer schlechtesten Strecken. Ich glaube, wir haben die Lücke stärker geschlossen als alle anderen", sagte er.
Mercedes sah Reifen einbrechen
Beinahe hätte er sogar trotz Roter Flagge und Strategie-Rätsel den Sieg eingefahren. Mercedes war zwischenzeitlich überzeugt, sich komplett verpokert zu haben.
"15 Runden vor dem Ende ergaben unsere Kalkulationen, dass der Reifen nicht durchhalten würde", gestand Motorsportdirektor Toto Wolff später: "Die Temperaturen sanken Runde für Runde. Unser Reifenverantwortlicher sagte: 'Fünf Runden vor dem Ende war's das.'"
Einbremsen? Unmöglich. Dann wären die Reifentemperaturen weiter gesunken. Ein zu kalter Gummi baut noch mehr ab.
"Wir haben hinten links viel Grip verloren. Aber das ist nur einer von vier Reifen und wir haben bis zum Ende durchgehalten", so Wolff. Hamilton schaffte es, 41 Runden mit seinen Mediums zu fahren, Rosberg immerhin 38.
Rosberg hätte beinahe abstellen müssen
Von einer spielerischen Fahrt auf die ersten Plätze kann ohnehin keine Rede sein. Bei Mercedes herrschte nach dem Restart dauerhaft Aufregung hinter den Kulissen.
Rosberg stand zwischenzeitlich kurz vor dem Ausfall. "Wir hatten bei Nicos Auto ein Problem mit den Bremstemperaturen, die immer weiter gestiegen sind - fast so weit, dass wir darüber nachdachten, das Auto aus dem Rennen zu nehmen", verriet Wolff.
Zwei Drittel des Rennens waren da bereits absolviert. "Wir hatten Trümmerteile eingefangen", erklärte der Motorsportdirektor den Temperaturanstieg: "Es hat sich auf dem Maximalwert stabilisiert. Dann stieg es wieder und entspannte sich ganz langsam. Zu einem bestimmten Zeitpunkt war es für das Team wirklich schwierig, das zu händeln."
Rosberg über die Probleme zu informieren, ist laut den kurz vor dem Start nochmals veränderten Funkregeln verboten. Ein automatischer Alarm auf dem Fahrerdisplay wurde beinahe ausgelöst. Dann hätte der Vizeweltmeister das Auto wohl aus Sicherheitsgründen abgestellt.
Startprobleme kündigten sich am Samstag an
Um Haaresbreite hätte also Hamilton den Saisonauftakt gewonnen, nachdem er beim Start noch von Vettel, Kimi Räikkönen und Rosberg ausbeschleunigt worden und nach einem kleinen Kontakt mit seinem Teamkollegen bis auf Platz 6 zurückgefallen war. Anschließend kam er nicht mal am Toro Rosso vorbei. Das Debakel hatte sich früh angekündigt.
"Gestern waren unsere Probestarts nicht sehr gut. Wir waren nicht sicher, ob das im Rennen ein Problem sein würde oder nicht", so Wolff: "Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was beim Start passiert ist. Wir müssen analysieren, was es gewesen sein könnte und werden uns die Dinge ansehen."
Nachdem Mercedes bei den Wintertests fast an jedem Tag zwei Renndistanzen ohne erkennbare Probleme absolviert hatte, überraschten die technischen Aussetzer in Australien. Ein ohnehin hochdramatischer Grand Prix hätte so beinahe einen weiteren Plot Twist bekommen.
Hat die Formel 1 den Abwärtstrend gestoppt?
Die Regeländerungen der Formel 1 scheinen abgesehen vom hektischen und schon wieder abgeschafften Qualifying-Modus voll aufgegangen zu sein. Die neuen Reifenregularien bieten unterschiedliche strategische Möglichkeiten, die Fahrer wirken durch das Funkverbot nicht mehr bevormundet, das Starten mit einer statt zwei Kupplungswippen verkompliziert die Angelegenheit.
Die Königsklasse des Motorsports könnte ihren Abwärtstrend in der öffentlichen Wahrnehmung gestoppt haben. Zwei Teams fahren am Sonntag auf einem Level. "Wenn du den Sieg schon riechen kannst, dann ist es natürlich sehr bitter", schloss Vettel und fand dann doch wieder die Wende zum Positiven: "Wir konnten die Geschwindigkeit vorgeben. Das waren doch sehr gute Nachrichten."
Die Formel-1-WM 2016 im Überblick