Ex-Bundesligaprofi Änis Ben-Hatira im Interview: "Ich saß teilweise tagelang im Dunkeln in der Wohnung"

Filippo Cataldo
25. Dezember 202210:55
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Im Januar 2017 löste der damalige Bundesligist SV Darmstadt 98 den Vertrag mit Änis Ben-Hatira auf. Der Mittelfeldspieler hatte einen Verein finanziell unterstützt, der später wegen seiner Verflechtungen in radikal-islamistische und salafistische Kreise bundesweit verboten wurde. Bis heute bestreitet der 34-Jährige vehement, radikal-islamistisches oder salafistisches Gedankengut zu teilen. Im Karriere-Interview mit SPOX und GOAL erzählt er, wieso er sich dennoch nie von seinem damaligen Engagement distanziert hat.

Das Interview erschien erstmals am 23. Mai 2022.

Ben-Hatira, der seit diesem Januar für den Berliner Regionalligisten Berliner AK spielt, schildert im Interview, wieso es ihm anfangs unangenehm war, dass Frank Rost ihn sympathisch fand, und verrät, welchem damaligen Klub aus der Champions League er absagte, um bei seinem Herzensklub Hertha BSC bleiben zu können.

Außerdem spricht der U21-Europameister von 2009 unter anderem über ...

Herr Ben-Hatira, wie ist es, wenn Hermann Gerland bei einem anruft?

Änis Ben-Hatira: Ich kann mich noch ganz genau an den Tag von Gerlands Anruf erinnern: Es war der 10. Oktober 2005, als eine mir unbekannte Nummer anrief. Damals wollten mich Klubs aus ganz Europa haben, und meine Freunde haben sich manchmal Telefonstreiche erlaubt. Als dann Hermann Gerland mit seiner charakteristischen Art zu reden anrief, habe ich sowas gesagt wie "Ja, ja, kannst jemand anderen verarschen" und dann sofort wieder aufgelegt. Er rief dann wieder an und hat mich erstmal ein bisschen zur Schnecke gemacht.

Sie sind dann nicht zu den Bayern, sondern zum HSV gewechselt.

Ben-Hatira: Gerland hat mich nach unserem Telefonat trotzdem nach München eingeladen. Ich war dann drei, vier Tage da und habe mir alles angeschaut, auch das Internatszimmer, in dem ich wohnen sollte - ich war ja erst 17. Ich hatte den Bayern dann auch schon zugesagt, aber irgendwie hatte ich nach meinem Besuch in München zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, da nicht hinzugehören.

Jerome Boateng, Änis Ben-Hatira und Dennis Aogo feiern den Sieg bei der U21-EM 2009.imago

Ben-Hatira: "Der HSV, das war wie Hollywood!"

Also gingen Sie zum HSV.

Ben-Hatira: Der HSV hat mich damals einfach verzaubert. Wahrscheinlich hätte ich damals schon einen erfahrenen Berater haben müssen, der mir gesagt hätte "Klappe halten, machen!" Und nicht falsch verstehen: Hermann Gerland hat mich damals richtig beeindruckt. Als er mir alles gezeigt hat, ist er wie so ein cooler Sheriff übers Trainingsgelände gelaufen und wirklich jeder hat ihm Respekt bekundet. Hermann Gerland wäre vom Typ her genau der richtige Trainer für mich gewesen und Bayern wäre sicher auch der logische Schritt gewesen. Aber der Wechsel nach Hamburg war kein Fehler. Thomas Doll halte ich heute noch für einen überragenden Trainer und der HSV war damals eine andere Nummer als heute. Da waren immer zwei- bis dreitausend Menschen beim Training, dazu die Presse und diese absoluten Top-Spieler wie Rafael van der Vaart, Daniel van Buyten, Vincent Kompany, Nigel de Jong und der Kannibale Boulahrouz. Der HSV, das war wie Hollywood!

Hertha war damals keine Option für Sie? Kevin-Prince Boateng hatte dort im Sommer 2005 sein Profidebüt gefeiert.

Ben-Hatira: Nee, die hatten mich in der B-Jugend weggeschickt, darum bin ich dann zu TeBe. Ich war damals Herthas erster Fehler, den sie dann mit Kevin, Jerome (die Boateng-Brüder, die Red.), Chinedu (Ede) und Ashkan (Dejagah) wiederholten. Der einzige aus der Clique, der lange bei Hertha blieb, war Patrick Ebert. Hertha hat sich zwar vor meinem Wechsel zum HSV um mich bemüht, aber mich wollten damals absolute Top-Klubs haben! Ich war und bin Hertha-Fan, aber ich war einfach zu enttäuscht von den Verantwortlichen. Die letzten zwei Jahre, in der wir mit DAZN die Doku Underground of Berlin(Die Serie auf DAZN schauen. Meldet euch an!)gemacht haben, waren für mich sehr intensiv, weil diese ganzen Erinnerungen immer wieder hochkamen. Das war ein bisschen wie "Zurück in die Zukunft" und sicher mehr Leid als Freude. Was wäre das für eine Ära gewesen, wir alle bei Hertha! Wir hätten 20 Jahre da zusammenspielen können!

In Hamburg fanden Sie, wie ich durch Underground of Berlin gelernt habe, einen eher unerwarteten Freund.

Ben-Hatira: (lacht) Frank Rost! Der hat mich vorhin erst angerufen. Frank saß damals in der Kabine direkt vor mir, ein richtiger Führungsspieler mit einer natürlichen Autorität. Er mochte mich von Anfang an und hat immer wieder den Kontakt gesucht. Aber er ist natürlich das komplette Gegenteil von mir: Die Art, wie er spricht, wie er sich anzieht, wie er ist - so ein richtiger Frank Rost eben! Ich habe mich am Anfang ein bisschen dafür geschämt, dass wir uns so mochten.

Das müssen Sie erklären.

Ben-Hatira: Irgendwann hat er vorgeschlagen, zusammen ins Kino zu gehen. Wir haben Transformers angeschaut. Ich hab' extra die Spätvorstellung gewählt, habe mir die Kapuze von meinem Pulli tief ins Gesicht gezogen und mich dann so hingesetzt, dass zwischen ihm im Nebensitz und mir maximaler Abstand war. Ich schwör: Mir war es unangenehm, mit Frank Rost zusammen gesehen zu werden. Hinter uns meinte auch ein Typ irgendwann "Hey, das sind doch Frank Rost und Ben-Hatira, das passt ja gar nicht!" Ich wär' fast gestorben. (lacht) Ich war halt sehr jung. Heute bin ich sehr froh, ihn als Freund haben zu dürfen.

Der junge Änis Ben-Hatira mit Rafael van der Vaart beim HSV.imago

Ben-Hatira: "Journalisten verstanden bei uns nur die Hälfte"

Wie wichtig ist es Ihnen, auch Freunde zu haben, die nicht so sind wie Sie? Sie und die anderen Protagonisten aus Underground of Berlin wirken ja wie eine uniforme Clique.

Ben-Hatira: Wir Jungs kennen uns, seit wir acht, neun Jahre alt sind. Das ist gar nicht vergleichbar. Frank Rost ist mein Freund, aber die Jungs, das ist wie meine Familie. Selbst wenn wir uns mal zwei Jahre nicht sehen, ist es wenn wir uns treffen sofort wieder so, als ob wir uns erst gestern gesehen hätten. Wir werden für die Leute immer die Clique aus dem Wedding bleiben. Und irgendwo ja auch zu Recht. Wir haben damals eine Tür eingetreten. Wie wir gespielt haben, wie wir geredet haben, wie wir uns angezogen haben. Als wir unsere ersten gemeinsamen Interviews gegeben haben, haben die Journalisten nur die Hälfte von dem verstanden, was wir gesagt haben - und wir haben nicht verstanden, wieso die nichts verstanden. Wir kamen aus einer anderen Welt, das war wirklich so.

Hat Ihnen Berlin, hat Ihnen Ihre Welt gefehlt, als Sie in Hamburg waren?

Ben-Hatira: Was heißt "gefehlt"? Ich habe meinen Traum gelebt, ich war in der Bundesliga, habe bei einem Top-Klub gespielt. Ich war raus aus dem Wedding. Natürlich habe ich meine Familie besucht und habe in der Winter- und in der Sommerpause den Weg zurück zu meinen Leuten gesucht. Aber der Fußball und das Wedding, das waren immer auch unterschiedliche Welten. Seit ich acht, neun Jahre alt bin, habe ich das Glück, auf einem gewissen Niveau Fußball zu spielen. Die Jungs und ich, wir haben alles gegeben, um Profis zu werden. Sie werden sicher keinen Trainer finden, der mir mangelnden Trainingseifer oder die falsche Einstellung zum Beruf vorwerfen wird. Wir sind aus dem Wedding und wir sind dem Image, das uns gegeben wurde, auch gerecht geworden. Aber das ändert nichts daran, dass Fußball mein Beruf ist und dass ich alles gegeben habe und immer noch gebe, um Profi sein zu können.

Ben-Hatira: "Als ob ich ein Massaker veranstaltet hätte im Bus"

Als Sie sich nach ihrer Rückkehr zur Hertha 2011 einen Bentley gekauft haben und damit durch den Wedding gefahren sind - haben Sie da mit den Erwartungen der Leute gespielt?

Ben-Hatira: Ich wollte einen Bentley fahren. Ich bin in einer siebenköpfigen Familie auf zweieinhalb Zimmern groß geworden. Ich musste mir einen Ball klauen, wenn ich einen eigenen Ball haben wollte. Wenn ich dann das entsprechende Geld verdiene und das Standing in der Mannschaft habe, wieso sollte ich dann VW Golf oder Polo fahren? Man gönnt sich etwas. Und es ist ja nicht so, dass ich sofort Bentley gefahren bin. Als ich zum HSV gegangen bin, haben beispielsweise Frank Rost und viele andere erfahrene Spieler schon aufgepasst, dass die Autos dem Alter und Standing der Spieler gerecht waren. Wenn du ein größeres Auto fahren wolltest, musstest du abliefern. Chinedu Ede sagt in Underground of Berlin einen sehr tiefen Satz: Unser Glück war, dass wir gezwungen waren abzuliefern.

Wieso sind Sie 2011 dann doch zur Hertha zurück? Beim HSV hatten Sie sich nach zwei Leihen zum MSV Duisburg und dem Triumph bei der U21-Europameisterschaft 2009 gerade einen Stammplatz erkämpft.

Ben-Hatira: Das hatte private, aber auch emotionale Gründe. Der HSV wollte meinen Vertrag verlängern, aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, zurückzukehren. Das war später noch ein paar Mal so, dass ich unbedingt gewisse Transfers vollziehen wollte. Damals hat das noch geklappt. Ich habe sogar auf mein Handgeld verzichtet, um den Transfer schon in jenem Sommer realisieren zu können. Hertha war damals gerade wieder aufgestiegen, mir wurde der rote Teppich ausgerollt. "Der verlorene Sohn kehrt zurück", hieß es. Und am Anfang lief es mit Trainer Markus Babbel auch ganz gut. Aber dann kippte es und am Ende war es einfach nur ein freier Fall. Dennoch haben wir auch durch meine zwei Tore am letzten Spieltag gegen Hoffenheim die Relegation erreicht - nur, um dann dort mit Otto Rehhagel doch abzusteigen.

Und Sie sind mitrunter.

Ben-Hatira: Mein Vertrag galt eigentlich nicht für die zweite Liga und ich hatte ein paar Angebote. Aber ich wollte nicht als Verpisser rüberkommen, ich war ja erst seit acht Monaten zurück in Berlin. Ich musste ein paar private Sachen klären, und wie gesagt: Ich war und bin Hertha-Fan, durch meine Adern fließt blau-weißes Blut. Und ich habe es ja auch genossen, für Hertha zu spielen. Auch in der zweiten Liga.

Gab es irgendwann den Moment, in dem Sie realisiert haben, vielleicht doch nicht das Zeug zum Weltklassespieler zu haben?

Ben-Hatira: Nein, das ist nicht in unserer Denkweise drin. Wir waren immer die Besten, als Kinder, als Jugendliche, als Junioren-Nationalspieler, als Jungprofis. Was uns betraf, gab es kein Limit - Jerome Boateng ist ja nicht umsonst Weltmeister und einer der erfolgreichsten Spieler unserer Zeit geworden. Und das hätte jeder einzelne aus der Clique werden können.

Ben-Hatira: "Ohrfeige von Weiser wurde zu groß gemacht"

Wieso sind sie es nicht geworden?

Ben-Hatira: Bei Chinedu Ede waren es zum Beispiel bestimmte Schicksalsschläge (Edes Mutter starb kurz nach seinem Bundesliga-Debüt, die Red.), bei anderen von uns bestimmte Eskapaden, Verletzungen oder hin und wieder auch konstruierte Skandale. Die angenehmsten waren wir sicher nie. Aber wir haben auch nicht alles falsch gemacht. Der Fußball ist so schnelllebig, aber die Boatengs, Chinedu Ede, Ashkan Dejagah, Patrick Ebert und Änis Ben-Hatira kennen die Leute immer noch.

Sie mussten Hertha verlassen, nachdem Sie im Mannschaftsbus Mitchell Weiser eine Ohrfeige verpasst hatten.

Ben-Hatira: Diese ganze Geschichte wurde vom Klub übertrieben groß gemacht. Das war sicher nicht das Schlimmste, was ich bei Hertha gemacht habe. Aber das wurde so dargestellt, als ob ich ein Massaker veranstaltet hätte im Bus. Ich war fünf Jahre bei Hertha und lasse es nicht zu, dass ein oder zwei Aktionen alles kaputt machen. Ich habe bei den Fans nicht umsonst heute noch diesen guten Status. Für Hertha habe ich sogar meine Karriere aufs Spiel gesetzt und damals monatelang mit einem zertrümmerten Fuß gespielt. Letzten Endes habe ich dann sogar auf einen Wechsel zum FC Schalke 04 verzichtet, weil ich mich nicht verletzt von meinem Klub verabschieden wollte.

Erklären Sie!

Ben-Hatira: In der Winterpause 2015/2016 rief mich Kevin-Prince Boateng an und wollte mich überreden, zu ihm zu Schalke zu kommen und ihnen in der Champions League zu helfen. Roger Wittmann, mein Berater und Mentor, hat mich gedrängt, das zu machen. Aber ich wollte nicht weg von Hertha, ohne noch ein Spiel für den Klub gemacht zu haben nach meiner Verletzung. Also bin ich geblieben und ein paar Wochen später kam dann die Trennung. Dabei habe ich vom Klub sogar eine Abfindung bekommen. Die hätte ich sicher nicht bekommen, wenn die Sache mit Weiser wirklich so schlimm gewesen wäre.

Sie gingen dann im Februar 2016 zu Eintracht Frankfurt. Wer hat einen größeren Anteil daran, dass die Eintracht damals nicht abgestiegen ist? Trainer Niko Kovac oder Änis Ben-Hatira?

Ben-Hatira: (zögert, lacht) Ich kam damals nach dem Aus in Berlin praktisch von der Reha nach Frankfurt und habe direkt eingeschlagen. Was mir die Frankfurter Fans und das Umfeld damals an Zuneigung und Dankbarkeit entgegengebracht haben, sagt wirklich alles aus. Ich habe mich mit Niko Kovac gut verstanden und natürlich ist der Trainer das wichtigste Glied. Er hat Struktur reingebracht und die richtige Ordnung geschaffen. Es wäre sehr egoistisch, wenn ich sagen würde, ich wäre der Garant für den Klassenerhalt gewesen. Auch wenn ich damals sicher sehr gut gespielt habe. Ich war nur sechs Monate da, die sich angefühlt haben wie sechs Jahre - und das meine ich positiv.

Wieso sind Sie damals nicht geblieben?

Ben-Hatira: Ich bin damals jeglichen Vertragsverlängerungsgesprächen bei der Eintracht aus dem Weg gegangen, weil ich nicht in die Situation kommen wollte, nicht mehr absagen zu können. Mein Gefühl hat mir damals gesagt: "Bleib da, die Eintracht passt zu dir." Frankfurt hat viele Parallelen zu Berlin, ich hatte dort viele Freunde, auch aus der Rap-Szene. Aber mein Wunsch war es, in jenem Sommer zurück nach Hamburg zu gehen. Und wenn ich mir was in den Kopf setze, dann will ich das auch durchziehen. In Hamburg war ich erwachsen geworden, dort hatte ich meine ersten Bundesligaspiele gemacht. Das war wie damals, als ich zurück zur Hertha wollte, eine Mischung aus persönlichen und emotionalen Gründen. Ich bin heute noch ein bisschen traurig, dass es letztlich nicht geklappt hat, weil ich viele andere gute Angebote für den HSV hab liegen lassen.

Hatte Ihr Snapchat-Foto während Ihrer Zeit bei der Eintracht und der daraus entstandene Doping-Wirbel etwas damit zu tun?

Ben-Hatira: Das Foto war da längst kein Thema mehr. Aber das war eine linke Nummer. Ich bin damals immer regelmäßig zum Professor an den Chiemsee geflogen, wegen meines Fußes, und habe einfach ein Foto von einem Tablett gemacht, das da lag und das Foto auf Snapchat hochgeladen. Die Medikamente auf dem Tablett waren nicht mal für mich - und selbst wenn ich sie bekommen hätte, standen sie zu der Zeit auch nicht auf einer Dopingliste. Ein Journalist hat dann wohl die Story seines Lebens gewittert und muss mit irgendeinem Spezialprogramm so nah herangezoomt haben, dass er den Namen des Mittels entziffern konnte. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, als die Geschichte mit dem Doping-Wirbel rauskam. Ich habe dann sofort angeboten, einen Bluttest zu machen und da war dann logischerweise auch alles negativ. Ich wurde komplett rehabilitiert. Aber die Sache hatte auch was Gutes.

Änis Ben-Hatira im Trikot des SC Darmstadt 98.imago

Und zwar?

Ben-Hatira: Beim Spiel nach dem Wirbel um mein Snapchat-Foto haben die DFL und die NADA um sicherzugehen ausnahmsweise Urin- und Blutproben in der ganzen Bundesliga und demnach auch bei vier Eintracht-Spielern angeordnet. Unter ihnen war auch Marco Russ. So wurde bei ihm frühzeitig sein Hodenkrebs entdeckt.

Ben-Hatira: Darum platzte der Wechsel zu Galatasaray

Sie sind dann statt beim HSV oder Eintracht Frankfurt bei Darmstadt 98 gelandet.

Ben-Hatira: Es war Ende August, alle Türen waren zu, Darmstadt hat sich sehr um mich bemüht. Davor war ich noch ein paar Tage in Istanbul, weil ich bei Galatasaray unterschreiben sollte. Aber bei meinem Glück landete Galatasaray in jenem Sommer auf der Financial-Fairplay-Liste und durfte keine Spieler mehr verpflichten. Vielleicht habe ich mein Glück herausgefordert, weil ich mir sicher war, dass sich irgendeine gute Option schon noch auftun würde. Aber als dann nichts passierte, bin ich eben nach Darmstadt. Auch wenn das in Anführungsstrichen mein "Todesurteil" war, wegen des Bundeslandes.

Sie haben damals den wegen Islamismusverdacht vom Verfassungsschutz beobachteten und später bundesweit verbotenen Verein "Ansaar International" finanziell unterstützt. Hessens Innenminister Peter Beuth hatte von Darmstadt 98 gefordert, "klare Grenzen" zu setzen. Im Januar trennte sich der Verein von Ihnen.

Ben-Hatira: Ich mache Darmstadt 98 da keinen Vorwurf, der Druck war immens. Auch wenn die Verantwortlichen genau wussten, was ich getan hatte. Egal, wo ich war: Ich habe allen Vereinen immer gezeigt, welche Projekte ich unterstütze. Ich habe meine ganze Karriere lang einen beträchtlichen Teil meines Einkommens für Wohltätigkeitsprojekte ausgegeben, habe mit meinem Projekt "MitternachtsSport e.V." den DFB-Integrationspreis, einen Bambi und den Laureus Award bekommen. "Ansaar" habe ich bei Brunnenprojekten in Ghana und bei einem Wassertank-Projekt im Gaza-Streifen unterstützt. Plötzlich hieß es, der Verein sei radikal-islamisch und salafistisch und plötzlich stand sogar der Vorwurf von Terrorfinanzierung gegen mich im Raum. Das war absurd. Ich wurde dementsprechend auch nie angeklagt, geschweige denn verurteilt wegen dieser Vorwürfe. Es gab nicht einmal ein Verfahren gegen mich.

Ben-Hatira: "Wir haben Kindersklaven befreit"

Sie haben sich nie distanziert von "Ansaar International" und den Werten, die die Organisation vertrat. Hätten Sie nicht einfach sagen können, Sie seien kein Islamist?

Ben-Hatira: Ist meine Mutter Islamistin, weil sie ein Kopftuch trägt? Bin ich Islamist, weil ich mich für ein Wasser-Projekt im Gaza-Streifen einsetze? Ich sehe mich als Deutscher, ich habe sogar bei der Bundeswehr gedient und habe mich mein ganzes Leben von jeglicher Form von Extremismus distanziert! Aber ich konnte mich nicht von meinen Projekten distanzieren, weil ich keine Lüge bestätigen wollte. Ich war in der Zwickmühle. Hätte ich mich von meinen Projekten distanziert, hätten die Leute sagen können, dass da vielleicht doch was Wahres dran gewesen wäre. Und außerdem ...

Ja, bitte?

Ben-Hatira: Ich habe sogar auf den Afrika-Cup verzichtet, um mir von den Projekten in Ghana vor Ort ein Bild zu machen. Es waren zehntausende Kinder abhängig von uns. Hätte ich mich zurückgezogen, hätten sie kein Wasser und kein Essen mehr bekommen und die Schulen wären geschlossen worden. Das war die Verantwortung, die ich hatte. Unter anderem haben wir dort sogar Kindersklaven befreit durch die Projekte! Wussten Sie, dass die Schokolade, die wir essen, zu 80 Prozent von Sklavenkindern in Westafrika verarbeitet wird? Sklavenkinder! Da waren fünf- bis zehnjährige Kinder mit so großen Macheten auf den Kakao-Plantagen. Mein Hirn konnte das damals gar nicht richtig aufnehmen. Diesen Kindern haben wir geholfen! Und dann soll ich mich hinstellen und mich von irgendwelchen Extremisten distanzieren? Und meine Projekte aufgeben?

Sie wechselten dann nach Gaziantep.

Ben-Hatira: Das mich bis heute nicht bezahlt hat. Dass die Stadt nur 200 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt liegt, habe ich auch erst später realisiert. Aber natürlich wurde es so dargestellt, dass ich zu meinen Terror-Kumpels fahren würde. Ich musste mich mit Dingen auseinandersetzen, zu denen ich gar keinen Bezug hatte vorher, und die mich eigentlich auch nicht interessieren. Wenn man es positiv betrachtet, habe ich meinen Horizont erweitert in den letzten Jahren.

Änis Ben-Hatira: Seine Karriere in Zahlen

JahreKlubSpieleToreAssists
2007 - 2011Hamburger SV3632
2009 -2010MSV Duisburg (Leihe)3134
2011 - 2016Hertha BSC771713
2016Eintracht Frankfurt1112
2016 - 2017Darmstadt 981110
2017Gaziantepspor1421
2017 - 2018Esperance Tunis810
2019Honved Budapest2762
2020Karlsruher SC1111
2021AE Larisa1201
2022Berliner AK1022

Ben-Hatira: "In Afrika wirst du mit Steinen beworfen"

War Ihnen die Karriere egal in dieser Zeit?

Ben-Hatira: Fußball ist mein Leben. Ich gehöre auch zu den Spielern, die immer für Spektakel gesorgt haben und für die man gerne das Eintrittsgeld bezahlt hat. Das macht auch mir Spaß! Es ist schon etwas anderes, wenn du plötzlich in Ländern und Ligen spielen musst, in die du einfach nicht hingehörst. Aber ich habe auch viel gelernt in dieser Zeit. In Afrika Fußball zu spielen war für mich anstrengender, als in der Bundesliga zu spielen. In der Bundesliga konnte ich Gegnern wegsprinten, in Tunesien gehen die Spieler körperlich ganz anders zur Sache. Dann ist da die Stimmung, du wirst mit Steinen beworfen. Ich halte mich jetzt beim Berliner AK in der Regionalliga fit. Auch wenn mir der Verein ans Herz gewachsen ist und die Mannschaft top ist: Glauben Sie, das ist einfach für mich? Ich bin sicher, dass ich noch in der Bundesliga und zweiten Liga mithalten könnte. Meine Fitnesswerte sind top, ich habe nichts verlernt.

Hat die Affäre Ihre Karriere zerstört?

Ben-Hatira: Natürlich! Was soll ich da drum herumreden? Wie viel Geld ich verloren habe, wie viel Geld mir noch zugestanden hätte! Ich war 27 Jahre, als das Thema losging, hatte noch einiges in mir. Ich hatte immer Angebote. Ich konnte seit der Geschichte nie mehr dahin wechseln, wohin ich wechseln wollte. Mich fragen heute noch sehr viele Leute: "Warum gehst du nicht da hin, warum gehst du nicht dort hin?" Als ob ich mir das aussuchen könnte! Das ist anstrengend. Ich war die ersten Jahre nach Darmstadt nur unterwegs, war teilweise in drei Ländern in einem Jahr. Ich war so glücklich, als ich mich im Januar 2020 der Karlsruher SC holte. Sportchef Oliver Kreutzer und ich haben uns damals per WhatsApp geeinigt! Dann bin ich da hin, habe geholfen das Ziel des Vereins zu erreichen. Und dann ging es schon wieder los: "Ansaar International" und meine Stiftungen wurden verboten, Schlagzeile: "Terror-Razzia bei Ex-Bundesligastar". Das war es dann mit dem neuen Vertrag. So geht das seit Jahren. Im letzten Januar ist wieder im letzten Moment ein Wechsel in die zweite Liga geplatzt. Das hat mir dann auch wieder den Boden unter den Füßen weggezogen.

Wie äußert sich das dann?

Ben-Hatira: Ich saß teilweise tagelang im Dunkeln in der Wohnung, wollte dann wirklich alles hinschmeißen, meine Trainerscheine machen oder auf meinen Berater Roger Wittmann hören und bei ihm in der Agentur anfangen. Nach ein paar Tagen ging es dann wieder. Ich bin insgesamt schon stabil geblieben im Kopf. Aber es ist nicht schön. Manchmal habe ich mir gewünscht: "Bitte, lass was dran sein. Dann bekomme ich eine Strafe und kann damit abschließen."