Seit 1954 war die deutsche Nationalmannschaft bei Weltmeisterschaften immer unter den besten acht Teams der Welt - eine einmalige Erfolgsstory. In der Rubrik "Damals in..." lässt SPOX zu jeder WM einen deutschen Nationalspieler von seinen Erlebnissen während des WM-Turniers erzählen. Diesmal: Andy Brehme über die WM 1990 in Italien.
Weltmeisterschaft 1990 in Italien. Finale. Argentinien gegen Deutschland. Rudi Völler fällt, ganz Argentinien tobt. Lothar Matthäus geht stiften, Andreas Brehme schnappt sich den Ball. Anlauf, Schuss - Tor! Deutschland ist zum dritten Mal Weltmeister!
Auch zwanzig Jahre danach bekommt Andy Brehme immer noch leuchtende Augen und feuchte Hände, wenn er von dieser "notte magica", dieser magischen Nacht, spricht. Ein Gespräch über den Elfmeter, der Deutschland im Jubel vereinte, die Stollen von Lothar Matthäus, den grantelnden Franz Beckenbauer und Scherze über Bodo Illgner.
SPOX: Herr Brehme, ganz Deutschland befand sich im Sommer 1990 in Aufbruchstimmung. War Ihnen von Anfang der WM an klar, dass der Titel nur über die deutsche Mannschaft führen wird?
Andreas Brehme: Insgeheim haben wir uns das erhofft. Franz Beckenbauer hat vorher gesagt: Wenn wir gut ins Turnier starten, ist alles möglich. Unser erster Gegner Jugoslawien hatte damals eine Riesenmannschaft, war Mitfavorit auf den Titel. Wenn du da 4:1 gewinnst, schwimmst du auf einer Welle und entwickelst unglaubliches Selbstbewusstsein.
SPOX: Das erste Spiel hat den Turnierverlauf also vorgegeben?
Brehme: Wenn wir uns heute treffen, sagt jeder: Das erste Spiel war das wichtigste. Und wenn du so ein Spiel ablieferst, hast du Selbstvertrauen, das glaubt kein Mensch. Da glückt dir alles. Und ich sage immer: Ab dem Achtelfinale geht eine WM erst los. Wir sind mit Holland gleich auf einen großen Gegner getroffen - und haben ihn rausgehauen.
SPOX: Unter anderem dank Ihnen - dieser Schlenzer zum 2:0...
Brehme: Eines der schönsten Tore, das ich je gemacht habe. Und das war mit Sicherheit nicht einfach. Die ganze Situation, am Sechzehner nach innen gezogen und dann mit dem anderen Fuß abgeschlossen...
SPOX: Vorteil Beidfüssigkeit.
Brehme: Ja. Das sind die Spieler ja heute leider nicht mehr. Schauen sie sich Lothar Matthäus an - der kam mit 27 nach Italien und konnte mit links überhaupt nichts. Das hat er erst bei Inter unter Giovanni Trapattoni gelernt. Der hat ihm gesagt: Lothar, Du nimmst im Training nur noch den linken Fuß. Und dann hat er bei der WM gegen Jugoslawien aus vollem Lauf aus 20 Metern mit links getroffen. Man kann immer dazulernen. Diese Einstellung vermisse ich heute manchmal.
SPOX: Arbeiten die Profis heutzutage zu wenig an ihren Schwächen?
Brehme: Neulich habe ich Raimond Aumann getroffen. Ich sagte: 'Balu, kannst Du Dich noch dran erinnern, was wir damals noch nach dem Training alles gemacht haben, wie viele Flanken wir gehauen haben, wie viele Freistöße wir geübt haben?' Matthäus, Karl-Heinz Rummenigge, Dieter Hoeneß sind immer noch draußen geblieben und haben weiter geübt. Nur so wird man ein Großer. Wenn man nur das trainiert, was vorgeben wird, bleibt man irgendwann stehen.
SPOX: Nach einem eher schwachen Viertelfinale gegen die Tschechoslowakei warteten 1990 im Halbfinale die Engländer.
Brehme: Das war für mich das beste Spiel der WM.
SPOX: Wirklich?
Brehme: Ja. Das Spiel war über 120 Minuten total intensiv. Da wurde sich beharkt, gekämpft, aber hinterher gab man sich die Hand. Ich habe immer gerne gegen England gespielt. Die haben zwar körperbetont gespielt, aber nie unfair. Ich glaube, dass die Engländer dieses Mal noch stärker sind als damals. Fabio Capello hat Disziplin rein gebracht, der starke Vereinsfußball tut sein Übriges. Für mich gehört England neben Brasilien, Spanien und Holland zu den Favoriten.
SPOX: Aber England auch nur, wenn es kein Elfmeterschießen gibt.
Brehme: Unglaublich, dass die das nie gebacken kriegen. Wovor haben die denn immer Angst? Beim Elfmeterschießen muss man mit voller Überzeugung hingehen und das Ding rein machen. Und wenn nicht - keiner reißt einem danach den Kopf ab, wenn man nicht trifft. Ball schnappen, reinhauen. Sage ich zu meinem Sohn auch immer. Der hat mal gesagt: 'Aber wenn ich ihn verschieße?' So darf man gar nicht denken!
SPOX: Ihr Elfmeter im Finale gegen Argentinien kurz vor Schluss...
Brehme: ...war unhaltbar! Ich habe ihn mir kürzlich mit Freunden noch mal angesehen, den Elfmeter, und die sagten dann, uiii, der war knapp neben dem Pfosten, der Torwart in der richtigen Ecke... Aber den kann er nicht halten. Das einzige Problem an dem Elfmeter war, dass ich sieben, acht Minuten warten musste, bis ich schießen konnte.
SPOX: Weil die Argentinier so Theater gemacht haben.
Brehme: Genau. Die haben wild diskutiert, immer wieder den Ball weggehauen, Riesentheater. Ich habe mir den Ball dann hingelegt, bin raus aus dem Sechzehner, und wieder ist so ein Idiot gekommen und hat ihn weggehauen. Ich habe ihn trotzdem reingemacht.
SPOX: Waren Sie nervös?
Brehme: Nein. Wenn ich zuvor ein schlechtes Spiel gemacht hätte, wäre ich vielleicht nicht hingegangen. Wir hatten drei Schützen vereinbart: Rudi Völler, Lothar Matthäus, ich. Rudi ist gefoult worden und der Gefoulte schießt nicht. Lothar wollte nicht und ist abgehauen. Irgendeiner musste ja schießen.
SPOX: Lag es bei Matthäus wirklich daran, dass aus seinem Schuh in der ersten Halbzeit Stollen raus gebrochen waren und er sich in den neuen Tretern nicht sicher fühlte?
Brehme: Das fragen alle. (überlegt) Ich weiß es nicht. Er hat sich zumindest bis heute nicht genau dazu geäußert.
SPOX: Sind Sie den Elfmeter danach noch öfter durchgegangen?
Brehme: Sicher habe ich noch ein paar Mal davon geträumt. Meistens hab ich ihn dann auch reingemacht. Und vor ein paar Jahren bin ich für einen guten Zweck noch mal gegen Sergio Goycochea angetreten. Er sagte: 'Komm, wir machen Gaudi und Du haust ihn wieder ins selbe Eck.' Und ich: 'Klar, hundertprozentig.' (lacht) Und dann habe ich ihn ins andere geschoben. Da war Goycochea wieder fix und fertig.
spoxSPOX: Als der Elfmeter 1990 rein ging - war Ihnen sofort klar: Wir sind Weltmeister?
Brehme: Ja. Die Argentinier waren am Ende ja auch nur noch zu neunt und sind gar nicht mehr an den Ball gekommen. Wir hätten schon ein Eigentor machen müssen. Bodo Illgner hat im ganzen Spiel keinen Ball aufs Tor bekommen. Ich weiß gar nicht, was der Trainer denen gesagt haben muss.
SPOX: Weil Argentinien so defensiv gespielt hat?
Brehme: Das war wirklich kein schönes Finale. Nicht wegen uns, wegen den Argentiniern. Die haben sich schon im Viertelfinale und Halbfinale nur durch Elfmeterschießen durchgemogelt. Und dann das Finale - ich habe noch nie eine so schlechte argentinische Mannschaft gesehen. Die hatten keinen Eckball, keine Torchance. Die haben nur auf Elfmeterschießen gespielt.
SPOX: Es waren aber auch fünf Stammspieler im Finale nicht dabei.
Brehme: Die hatten aber auch einen Kader von 22 Mann. Das lasse ich nicht gelten! Wir hätten uns mit Sicherheit auch nicht aufgehängt, wenn bei uns fünf Mann gefehlt hätten. Wir hatten so einen guten Kader, mehr als ausgeglichen. So eine Nationalmannschaft wird es wahrscheinlich nie wieder geben.
SPOX: Eigentlich wäre ja alles für ein Finale Italien gegen Deutschland angerichtet gewesen.
Brehme: Stimmt. Ich erzähle Ihnen mal was: Die Italiener hatten ja acht Spieler von Inter Mailand dabei, wir drei, also Jürgen Klinsmann, Matthäus und mich. Und wir haben laufend mit den Italienern telefoniert, mit Walter Zenga, Giuseppe Bergomi, Riccardo Ferri, und uns quasi fürs Finale verabredet. Und dann fliegen die Italiener raus. Mammamia! Aber die haben sofort bei uns angerufen und gesagt: Hoffentlich haut ihr die weg!
SPOX: Das Gerüst der Mannschaft stand über das gesamte Turnier. Dennoch hat Beckenbauer immer wieder für Überraschungen gesorgt.
Brehme: Das stimmt. Im Halbfinale hat Franz auf einmal Olaf Thon in die Elf genommen, der vorher nur zwei Minuten gespielt hatte. Und dann liefert der Olaf ein Weltklassespiel ab und macht im Elfmeterschießen auch noch seinen Elfmeter rein. Alles dachte, der spielt jetzt auch im Finale. Und dann hat Pierre Littbarski gespielt. So war er eben, der Franz.
SPOX: Ist Beckenbauer auch mal böse geworden?
Brehme: Ja, nach dem Spiel gegen die Tschechen. Da ging's richtig rund. Ui, war da Theater. Mammamia! Er war nicht beleidigend, aber er hat uns ordentlich angepfiffen. 'Ihr könnt doch nix', und so Zeug. Da hat er so getobt, wie ich ihn selten erlebt habe.
SPOX: Und wie war das sonst mit Beckenbauer?
Brehme: Er war eine absolute Respektsperson für die Spieler. Man hat zu ihm aufgeschaut, zu seinen Leistungen als Spieler. Allerhöchster Respekt. Was er gesagt hat, hat sich jeder zu Herzen genommen. Egal ob es richtig war, oder nicht.
SPOX: Und das, obwohl es bei der WM 1986 im Team nicht wirklich rund gelaufen war.
Brehme: Ja, aber Beckenbauer hatte uns damals in Mexiko zusammengeschweißt. Wir hatten keine gute Mannschaft und ständig dieses Theater untereinander. Der Gipfel war natürlich die Sache mit Uli Stein. Er war zwar der bessere Torwart in der Vorbereitung, aber Franz hat sich für Toni Schumacher entschieden. Und der hat dann ein überragendes Turnier gespielt, bis aufs Finale.
SPOX: Torhüter sind ein gutes Stichwort.
Brehme: Ich halte Rene Adler aktuell für den besten. Gar keine Diskussion, dass der die WM spielt. Und bei Bayern gefällt mir Jörg Butt sehr gut, das habe ich auch schon zu Paul Breitner gesagt. Wenn Butt so weiter hält, können die Bayern warten, bis der Vertrag von Adler oder Manuel Neuer ausläuft und dann einen von beiden holen. Wie alt ist Butt? 35? Das ist doch für einen Torwart kein Alter.
SPOX: Wie war das bei der WM 1990?
Brehme: Da gab es keine Torwartdiskussion. Bodo Illgner war gesetzt, Raimond Aumann und Andi Köpke haben keinen Stress gemacht. Bodo hat gut gehalten, aber auch wirklich wenig auf die Kiste gekriegt. Es hat glaube ich kein Turnier gegeben, wo Deutschland so wenige Chancen zugelassen hat. (lacht) Neulich saß ich mit Rudi Völler zusammen und da sagt er: 'Wir hätten auch mit elf Feldspielern spielen können, Letzter macht Hand.' Und Sepp Maier sagte neulich zu mir: '1990, da hätten wir gar keinen Torwart gebraucht.' (lacht laut) Aber das darf man dem Bodo nicht erzählen, sonst bricht er zusammen.
SPOX: Beckenbauer beherrschte die Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche perfekt. Nach dem Achtelfinale hat er dem Team einfach mal eineinhalb Tage frei gegeben.
Brehme: Ja. Da haben wir viel mit unseren Frauen unternommen, die ja nur ein paar Orte weiter ein Hotel hatten. Wir sind zum Comer See gefahren, einige sind Essen gegangen.
GettySPOX: Klingt nach Urlaub.
Brehme: Nicht falsch verstehen, wir haben im Training hart gearbeitet. Bei einer WM muss man ständig unter Strom stehen, so eine Chance kriegst du nur alle vier Jahre. Aber man muss während des Turniers auch mal abschalten, mal locker lassen.
SPOX: Wie war die Stimmung im Quartier?
Brehme: Herrlich. Die vier Wochen davor waren harte Arbeit, aber als das Turnier dann los ging, war es wie Urlaub. Damals hat man sehr viel gemeinsam unternommen. Keiner hatte einen Computer oder einen Walkman dabei. Wir haben Karten oder Tischtennis gespielt, haben Grillabende veranstaltet, meine und Lothars Frau haben Dinge für die Spielerfrauen organisiert, wir haben eine Bootstour auf dem Comer See gemacht - uns ist jedenfalls nicht langweilig geworden. Heute gehen die Spieler ja immer sofort aufs Zimmer, was ich sehr schade finde.
SPOX: Haben Sie sich bei der WM in Italien wie zuhause gefühlt?
Brehme: Es war für mich wie eine Heim-WM. Ich habe als Spieler von Inter Mailand ja damals nur acht Kilometer vom Quartier in Erba entfernt gewohnt. Dazu waren in Mailand im Stadion immer über 60.000 Deutsche, im Finale in Rom dann sowieso. Nur in Turin gegen England war es ausgeglichen.
SPOX: Haben Sie heute noch Kontakt zu den Weltmeistern von damals?
Brehme: Klar. Bei Werbeaufnahmen oder Benefizspielen sieht man immer mal wieder den einen oder anderen. Wir treffen uns auch alle fünf Jahre, dieses Jahr ist Zwanzigjähriges. Da sind dann immer alle drei Tage zusammen, mit Golfen. Außerdem gratuliere ich immer noch jedem zum Geburtstag.
SPOX: Und was trauen Sie der deutschen Nationalmannschaft bei der kommenden WM zu?
Brehme: Ich glaube, in vier Jahren sind wir stärker. Wenn dann die ganzen jungen Europameister dabei sind, von der U 21, U 19, vielleicht sogar von der U 17. Schlecht aufgestellt sind wir bei dieser WM nicht, aber ich glaube nicht, dass es für den Titel reicht. Da sind viele andere Nationen stärker.