Leeds United war einst ein Klub, den man in den Medien als "Abschaum" bezeichnete. Und dann kam Marcelo Bielsa und eine Fußball-Stadt vergaß all ihre schlechten Manieren. Seine Entlassung nach großem Erfolg ist bitter, aber dass Jesse Marsch sein Nachfolger wird, ist auch eine Hommage an einen verrückt-normalen Typen.
Es war zu Beginn der laufenden Saison, als Marcelo Bielsa einen Brief von einem jungen Fan erhielt. Mit dabei war auch ein Foto, das den Jungen mit dem Trainer von Leeds United zeigt. Nun bat er ihn um ein Autogramm.
Bielsa antwortete unverzüglich. Er signierte das Foto und schrieb dem Jungen, dass er auch gerne eine Kopie des Fotos hätte, damit er es als Erinnerung aufbewahren kann.
In Leeds wunderte sich niemand über diese Geschichte. Nicht der Fan, der in der Innenstadt mit einem Trikot der Newell's Old Boys spazieren ging und von Bielsa angesprochen wurde. Der Klub aus Rosario ist Bielsas Stammverein, er zeigte dem Fan spontan Fotos von früher.
Nicht die Menschen, die Bielsa jeden Tag auf seinem 45-minütigen Fußmarsch auf dem Weg zur Arbeit sahen. Die Bosse von Leeds United quartierten ihn anfangs in einem Luxushotel ein, aber da war es ihm zu langweilig und zu weit vom Trainingsgelände Thorp Arch im gleichnamigen Dorf entfernt.
Marcelo Bielsa: Der Mann aus dem Supermarkt
Er fand eine Ein-Zimmer-Wohnung im Stadtteil Wetherby, die zu klein war, wenn Besuch kam und eigentlich war sie auch zu klein, um zu arbeiten. Gerade für Bielsa, der Mann der unendlichen Notizen. Um es bequemer zu haben, war er meist in einer der Costa-Coffee-Filialen zu sehen. Das Starbucks von Leeds. Auf dem Weg dorthin oder im Supermarkt grüßten sie Marcelo - und er grüßte artig zurück.
Für den 66 Jahre alten Fußball-Lehrer, und das ist in diesem Fall keine obligatorische Umschreibung, sondern genauso gemeint, war es selbstverständlich, dass er Nähe zu den Menschen in Leeds zeigte. Sie lieben ihn, er liebt sie. Warum also keine Wärme zeigen?
Wundern tun sich andere. Die Menschen, die Leeds und den Klub noch von früher kennen. Die Atmosphäre an der Elland Road galt als sehr gefährlich. Die Fans waren aggressiv und gewaltbereit.
Bielsa kennt sie gut aus der Heimat, diese Sorte von "Fans". Sie standen mal in Rosario vor seiner Haustür, als er mit den Old Boys mit 0:6 im Pokal gegen San Lorenzo verloren hatte. Stimmt die Geschichte, kam Bielsa mit einer Handgranate vor die Tür und drohte den Stift zu ziehen, wenn das Gesindel nicht sofort verschwindet. Sie verschwanden und Bielsa gewann den Spitznamen El Loco, der Verrückte, auf Lebenszeit.
Leeds United: "Der Abschaum ist wieder da"
Handgranaten zündeten die Leeds-Fans laut Aktenlage bisher noch nicht, aber sie richteten auch so schon genug Unheil an. Als der Klub 1990 nach vielen Jahren in der Zweitklassigkeit aufgestiegen war, titelte der Mirror: "Leeds Scum are back" - "Der Leeds-Abschaum ist wieder da". So viel als Einordnung, was man lange Zeit von diesem Klub hielt.
Es wäre sicherlich vermessen zu sagen, dass Bielsa die Stadt von ihrer Boshaftigkeit geheilt hat. Aber wahrscheinlich zumindest den Klub. Seine Ankunft im Jahr 2018 hat das Erscheinungsbild, die Vorgehensweise und das Auftreten in jedem Fall entscheidend geprägt. Er hat den Klub so sehr zum Guten verändert, dass man sich in Leeds bereiterklärte, das Mindeste zu tun und sich zumindest ordentlich anstellt.
Ende Februar ereilte Leeds eine Negativserie von sechs Spielen ohne Sieg, allein zuletzt vier Niederlagen mit insgesamt 17 Gegentoren. Und was machten die Fans? Sie feierten ihren Trainer. Als man gegen Manchester United wieder vier Buden kassierte, skandierten sie den Namen Bielsas. Vielleicht weil sie wussten, was bevorsteht und sie es abwenden wollten. Sie wollten es ihrem Klub so schwer wie möglich machen.
Als Leeds an den folgenden sechs Tagen zehn Tore in zwei weiteren Spielen kassierte, passierte es. Bielsa musste gehen. Doch selbst für den Klub, der sportliche Gründe für die Trennung hat, war es nicht einfach. Andrea Radrizzani, Mehrheitseigentümer des Klubs, sagte: "Dies war die schwierigste Entscheidung, die ich während meiner Amtszeit bei Leeds United treffen musste, wenn man bedenkt, welche Erfolge Marcelo im Verein erzielt hat."
Marcelo Bielsa analysierte Leeds United und rief zurück
Und ergänzte dann den entscheidenden Satz: "Er hat die Kultur des Vereins verändert und uns allen eine Siegermentalität vermittelt." Siegen, das hatte man in Leeds verlernt. Mentalität war ebenso nicht ihre beste Disziplin in Yorkshire. Nach UEFA-Pokal-Halbfinale und Champions League Anfang der 2000er Jahre stürzte der Verein ab - bis runter in die Drittklassigkeit. Ein Ergebnis vieler Jahre von Misswirtschaft - sportlich wie finanziell.
Seit Mai 2004 arbeiteten 16 Trainer für den Verein. Der eine oder andere stand für den Neuanfang, andere hatten gerade einfach nur Zeit. Klub-Boss Radrizzani, der den Klub 2017 übernahm, kam mit der Absicht klare Strukturen zu schaffen und Kontinuität walten zu lassen. Aber der Italiener schoss genauso schnell wie seine Vorgänger. Bis zur Ankunft Bielsas im Juni 2018 hatte er schon drei Trainer auf seinem Gewissen.
Als er Bielsa kontaktierte, ging der Argentinier erst nicht ran. Radrizzani sprach ihm auf die Mailbox und bat um einen Rückruf. Als Bielsa zurückrief, hatte der "Verrückte" schon zahlreiche Notizen darüber, was besser werden muss, weil er schon mehrere Leeds-Spiele analysiert hatte. Zwei Wochen dauerten die Verhandlungen. Es ging nicht um das (üppige) Gehalt des Trainers, sondern um seine Sonderwünsche. Swimming Pool und Schlafbereiche für die Mannschaft, Küchenzeile und Bett für das Trainerzimmer.
Radrizzani sagte zu. Auch wenn er nicht alle Maßnahmen verstand, erfüllte er dem Trainer jeden Wunsch. Denn die Mannschaft hatte Erfolg, die Fans waren dem Klub wieder zugewandt und die Medien feierten Leeds United und die tolle offensive Spielweise. Der Rest ist schnell erklärt: Der erste Aufstieg nach 16 Jahren in die Premier League, Platz neun im Aufstiegsjahr. Bielsa verwandelte Leeds zu einem gestandenen Erstliga-Klub.
gettyWie Marcelo Bielsa Robin Koch überzeugte
Die Zielstrebigkeit, die Bielsa an den Tag legte, war hier vorher noch nie dagewesen. Ihm war der ganze Schnickschnack im Profifußball schon immer egal. Es ging ihm um die Arbeit und nichts als die Arbeit. Und wenn die Arbeit keine Früchte trug, tat es ihm weh.
Die früheren chilenischen Nationalspieler Mark Gonzalez und Jose Pedro Fuenzalida berichteten kürzlich in der chilenischen TV-Sendung Abrazo de GOL von Bielsas kurioser Reaktion auf Niederlagen. "Nach einem Spiel gegen Ecuador kam er in die Kabine, lief aufgeregt hin und her und redete dabei mit niemanden", erzählte Gonzalez: "Er ging in einen anderen Raum neben unserer Kabine. Wir gingen ihm nach und er lag dort vollkommen nackt auf einer Liege, wie auf einem OP-Tisch. Er lag etwa 30 Minuten so da, völlig nackt."
Um in Leeds nicht nackt auf der Trage liegen zu müssen, arbeitete er wie ein Besessener. Er analysierte das Training, die Gegner, die eigenen Spieler und wurde dabei nicht müde. Auch bei den Neuzugängen war es so.
Als Robin Koch 2020 auf den Markt kam, wurde der ehemalige Freiburger von vielen Klubs umworben. Auch von Leeds. Bielsa fertigte mit seinem Team eine Präsentation an, um Koch zu zeigen, wie er in Leeds integriert werden soll und warum er so wichtig wäre.
Und es fruchtete. "Wenn ein Verein dich haben will, ist es normal, dass sie sich mit dir auseinandersetzen", sagte Koch im Socrates Magazin: "Aber die Vorarbeit von Leeds war schon sehr akribisch und das ist nicht überall so. Sie wussten, wie meine Spielweise ist und sie wussten, wie ich ins System integriert werden kann. Man hat schon da gesehen, wie Marcelo Bielsa arbeitet."
Die Wärme, die Bielsa den Fans zeigte, gab es intern nicht. Er gilt nicht als Kumpeltyp wie Jürgen Klopp, der einen Spieler auch mal herzlich umarmt oder fragt, wie es der kranken Katze geht. Mittelfeldspieler Mateusz Klich verglich die Methoden gar mit dem "Militär". Aber das war den Spielern auch egal, weil sie besser wurden. Viel besser, als sie je waren oder dachten, dass sie es je sein können.
Ein untrainierbarer Klub trifft auf einen ungenießbaren Trainer
Bielsa investierte Zeit für sie, trimmte sie so lange, bis sie zum einen das System verstanden und zum anderen so fit waren, es auch zu spielen. Das gnadenlose Pressing, das furchtlose Offensivspiel, bei dem aber jeder Spieler mitziehen muss. Bielsa formte seine Figuren, machte aus ihnen Maschinen.
Ein über Jahre untrainierbarer Klub trifft auf einen ungenießbaren Trainer. Zwei Negativpole, die eigentlich nicht zusammenpassen, fanden eine spezielle Bindung, die die Whites in neue Sphären führte.
Wenn man Bielsa etwas vorwerfen kann, dann, dass er es nicht schaffte, neue Impulse zu setzen. Er vertraute der Mannschaft, die er akribisch aufgebaut hat und wollte keine neuen Elemente. Er wollte keinen großen Kader. Und wenn es Verletzte gab - und davon gab es einige zuletzt in Leeds - füllte er den Kader mit U23-Spielern auf.
Transfers waren ihm sowieso ein Dorn im Auge. Im Winter wollte der Klub den einen oder anderen Deal landen, machte Budgets locker und beispielsweise Donny van de Beek von Manchester United ausleihen, aber Bielsa lehnte ab. spox
Marcelo blieb stur, der Vorstand von Leeds United gelähmt
Bei Leeds fand man die Vorgehensweise anfangs gut, weil der Klub jahrelang wie wild einkaufte und wenig Erfolg hatte. Jetzt war jemand da, der auf die Bremse trat und das Geld nicht zum Fenster rauswarf. Aber die Probleme waren nach dem Aus von Kalvin Philipps und Co. offensichtlich. Aber Bielsa stellte sich weiter quer. Es war zu spüren, dass die Dinge, die die Menschen an ihm geliebt haben, sie irgendwann beunruhigt haben.
Der Vorstand um Radrizzani wirkte ehrfürchtig, Bielsas Methoden nicht in Frage zu stellen. Doch dies kam einer Lähmung in der Entwicklung gleich. Sie wagten es nicht, Zweifel zu haben. Hinterfragt man ihn zu oft, spürt Bielsa vielleicht Vertrauensverlust. Der hochsensible Argentinier, der in seiner Karriere so manch hochdekorierten Job aus Eitelkeiten wegwarf, wäre in dem Fall nicht mehr zu halten gewesen.
Die Leeds-Chefs mussten abwägen: Weiter unangefochtene Ehrerbietung für den besten Trainer der Vereinsgeschichte oder das Wagnis der Trennung, um neue Impulse zu setzen. Sie entschieden sich für den zweiten Weg. Dass nur einen Tag nach der Entlassung Jesse Marsch schon als Nachfolger parat stand, darf man aber nicht als heimliche Demission werten.
Bielsa verlängerte seine Verträge von Jahr zu Jahr und jedes Mal hätte der Argentinier sagen können, dass seine Reise endet. Der Klub musste immer mit einem Plan B arbeiten. Die schnelle Installation von Jesse Marsch ist daher keine Überraschung und sie ist sogar eine kleine Hommage an Bielsa.
imago imagesJesse Marsch soll den Bielsa-Fußball fortsetzen
Es ist die stille Nachricht, dass man den Weg Bielsas zumindest in der Spielanlage fortführen will. Leeds soll mutig bleiben, Leeds soll offensiv bleiben - sowie es Bielsa seinen Schülern beigebracht hat. Marsch, der an den RB-Standorten New York, Salzburg und auch in Ansätzen in Leipzig ballbesitzorientiert und mit hohem Pressing spielen ließ, soll die Geschichte fortsetzen.
Sein sehr guter Draht zu Leeds-Sportdirektor Victor Orta wird dem US-Amerikaner den Einstieg vereinfachen. Orta bestätigte bei der Vorstellung: "Wir glauben, dass seine Philosophie und sein Fußballstil mit dem des Vereins übereinstimmen und sehr gut zu den Spielern passen werden."
Vielleicht ist die menschliche Komponente ein Vorteil für Marsch, der für seine Spieler sicherlich nahbarer als Bielsa ist und da Blockaden lösen könnte. Doch das Wichtigste ist, dass er Bielsa-Fußball spielen lassen soll.
Auch Leeds-Geschäftsführer Angus Kienaar sieht es ähnlich: "Wir glauben, dass er den Mut und den Ehrgeiz hat, auf dem starken Fundament, das wir in den letzten vier Jahren geschaffen haben, aufzubauen und die Leistung des Vereins langfristig zu steigern." Ein Fundament, das Bielsa geschaffen hat und dem Klub eine Identität verschaffte.
Der Schatten des Verrückten wird allgegenwärtig sein. In der Stadt gibt es den Marcelo Bielsa Way in der Innenstadt, der auch weiter so heißen soll. In den Pubs gibt es Bielsa-Bier. Und der Argentinier hat Leeds auch noch nicht verlassen. Er wurde neulich beim Einkaufen im Supermarkt gesehen. Und wie er dann wieder in seine Ein-Zimmer-Wohnung ging.
Und auch an der Elland Road wird Bielsa noch lange nachwirken. Eine große Fahne weht vor jedem Heimspiel vor dem Block. Darauf zu sehen sind sein Antlitz und drei Worte. Teacher. Visionary. Legend. Lehrer. Visionär. Legende. Besser kann man ihn nicht beschreiben.