Roger Schmidt überraschte die Bundesliga nach seiner Übernahme bei Bayer Leverkusen mit wahnwitzigem Pressing und überfallartigem Umschaltspiel. Doch sein System hat zahlreiche Schwächen - und diese sind kaum abzustellen, sondern zwangsläufige Konsequenz. Eine Daten-Analyse mit Hilfe der OPTA-Zahlen
Das Spiel gegen den Ball: Sprintmaschinen und Chaostheorie
"Ein wenig vogelwild" beschrieb Stefan Kießling die Art Gegenpressing, die Roger Schmidt lehrt. Tatsächlich wirkt es manchmal unübersichtlich, wenn das Leverkusener Kollektiv nach Ballverlust sofort nachschiebt, um den ballführenden Gegner zu Fehlern zu nötigen. Doch was mitunter nach Chaostheorie aussieht, ist in den meisten Fällen eingeimpfte, kalkulierte Spielphilosophie.
Vom vordersten Angreifer weg schiebt Bayer vehement gegen den Ballführenden und erzeugt so Druck und Zugriff. Die Gegenspieler werden noch früh in ihrer eigenen Hälfte in Zweikämpfe gezwungen und attackiert.
Nach zehn Spieltagen hat Bayer laut OPTA mit 2469 Zweikämpfen die meisten aller Bundesligisten auf dem Konto. Dass davon viele verloren gehen, ist zwangsläufig Teil der Spielidee, weshalb Bayer mit einer Quote von 49,7 erfolgreichen Duellen in dieser Hinsicht auch nur Mittelmaß ist.
Pressing-Effekt: Herthas Ballverluste gegen Bayer durch gegnerische Tackles
Das auffälligste Stilmittel der Leverkusener Balljagd sind dabei zahllose kurze Sprints, insbesondere durch das Offensivquartett. In der Sprinttabelle der Bundesliga belegt Bayer den zweiten Platz. Am ersten Spieltag gegen Dortmund legte die Werkself dabei gleich mal die bisher unübertroffene Bestmarke fest: Sage und schreibe 316 Mal setzte ein Leverkusener zum Sprint an. Zum Vergleich: Eintracht Frankfurt gönnte sich beim 2:2 gegen Schalke derer gerade einmal 141.
optaDie allgemeine Laufleistung hingegen ist bei Bayer erstaunlich niedrig. Die Sprints beschränken sich meist auf kurze Distanzen und finden ohnehin auf möglichst kleinem Raum statt, um den Gegner in die Enge zu treiben. Darüber hinaus darf Bayer als eine der lauffaulsten Mannschaften der Liga gelten, im Ranking reicht es gerade einmal für Platz 17. Mit 105,02 Kilometern hält Bayer sogar den Rekord für den niedrigsten Wert dieser Saison - er datiert vom sechsten Spieltag (0:0 in Freiburg).
In erster Linie sind die offensiven Vier von Schmidts Sprintpassion betroffen. Sie agieren an vorderster Front und sollen noch so tief wie möglich in der gegnerischen Hälfte den Ball zurückerobern (siehe OPTA-Grafik). Stefan Kießling, Heung-Min Son, Hakan Calhanoglu und Karim Bellarabi sprinten sich regelmäßig auf kleinstem Raum die Seele aus dem Leib.
Vor allem Bellarabi sticht dabei hervor. Der Shootingstar der Saison ist unter den 13 besten Sprint-Werten von Bayer aus einzelnen Partien gleich sieben Mal vertreten und führt diese Tabelle mit Sprints aus dem Dortmund-Spiel sogar an. Mittels gut abgestimmten kollektiven Pressings leitet Bayer die meisten seiner Torchancen ein und hat damit eine der gefährlichsten Waffen im Spiel gegen den Ball.
Das Spiel gegen den Ball: Sprintmaschinen und Chaostheorie
Der Weg zum Tor: Überfall-Umschaltspiel und Fehlpass-Orgien
Rückwärtsbewegung: Fouls als Stilmittel und kalkuliertes Risiko
Der Weg zum Tor: Überfall-Umschaltspiel und Fehlpass-Orgien
Hat Leverkusen die Kugel erobert, geht es meist ähnlich schnell zu wie noch bei der Balljagd zuvor. Schmidts Philosophie zielt auf überfallartiges Umschaltspiel ab.
Dominanz durch Ballbesitz, ziellose Dribblings oder unnötiges Tempoverschleppen sind nicht gern gesehen. Ein zentraler Vorteil der frühen Balleroberung liegt in der kurzen Distanz zum gegnerischen Tor, die auch im Anschluss an den Ballgewinn auf schnellstem Wege überwunden werden soll.
Schmidt bevorzugt dabei vor allem flaches Vertikalspiel oder schnelle Spielverlagerung mittels steiler Diagonalbälle. Viel Ballgeschiebe gibt es dabei nicht zu sehen. Lediglich vier Teams haben weniger Pässe gespielt als die Werkself (3875). Bei Bayer wird der Ball rasch und über wenige Stationen vors Tor gebracht und der Abschluss gesucht - so zumindest der Idealfall.
Dabei präferiert Leverkusen insbesondere den Weg über die Halbräume durch die Mitte. Vor allem das Offensivquartett orientiert sich ins Zentrum und bricht nur selten über die Flügel durch (siehe Aktionsradius auf Seite 1). Selbst die Außenverteidiger gönnen sich nur wenige Flankenläufe bis zur Grundlinie.
Dementsprechend haben Flanken bei Bayer Seltenheitswert: Nur Schalke und Mönchengladbach verzeichnen weniger Hereingaben als das Team von Roger Schmidt (71). Dass auf dieses Stilmittel kaum Wert gelegt wird, beweist auch die miserable Flankengenauigkeit von 15,5 Prozent aus dem Spiel heraus.
Stattdessen sollen die offensiven Vier durch zielgerichtetes Kombinationsspiel in aussichtsreiche Positionen gebracht werden. Der Abschluss bleibt dabei meist denselben Protagonisten vorbehalten: Bellarabi führt mit 39 Versuchen die Torschussliste der kompletten Liga an, Calhanoglu liegt immerhin auf Rang sechs (33).
Dabei sind es nicht nur die üblichen vier Verdächtigen, die regelmäßig den Abschluss suchen. Die Vorlage kommt in den meisten Fällen ebenfalls von einem der vier Offensivleute, die beinahe jedes Spiel in der gleichen Konstellation bestreiten. Mit Calhanoglu (18), Kießling und Bellarabi (beide 16) rangieren gleich drei Leverkusener in den Top 20 der Spieler mit den meisten Torschussvorlagen.
Beinahe zwangsläufig produziert das Angriffsspiel von Schmidt auch eine große Menge Ausschuss. Das schnelle Umschalten und die hohe Risikobereitschaft bei Pässen hat zahlreiche Fehlpässe zur Folge. Mit einer erschreckend schlechten Passgenauigkeit von nur 67,9 Prozent lässt Bayer in dieser Hinsicht nur zwei Teams hinter sich. Zum Vergleich: Die Konkurrenz aus München kommt auf einen knapp 20 Prozent besseren Wert.
Dass die hohe Fehlpassquote zu großen Teilen auf die neue Spielidee zurückzuführen ist, beweist ein Vergleich mit der Vorsaison. Vergangene Spielzeit kam Bayer noch auf 78,2 Prozent Passgenauigkeit - der damals fünftbeste Wert aller Bundesligisten. Auch gegen den Hamburger SV leistete sich die Werkself zuletzt bemerkenswert viele Fehlpässe (siehe OPTA-Grafik).
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Wie bereits eingangs erwähnt folgt Leverkusens Gegenpressing klar vorgegebenen Richtlinien und nachvollziehbaren Automatismen - meistens. Doch sobald ein Spieler zu langsam mit aufrückt, das Pressingkommando zu spät begreift oder einen falschen Laufweg wählt, können sich verhängnisvolle Lücken bilden.
Bayers Pressingfallen können auch die eigenen Leute ins Verderben reiten, sobald einer ausschert - besonders gegen spielstarke Teams, deren Defensivleute sich auch unter Druck spielerisch befreien können. Ist die erste, wild angreifende Pressingreihe überspielt, bieten sich dem Gegner vielversprechende Räume.
Ein Problem, dem Schmidt mit einem simplen aber effektiven Mittel beizukommen versucht: Fouls. Selbstverständlich sind diese nicht alle taktischer Natur, sondern oft bloß ungünstigem Timing oder mangelnder Konzentration geschuldet. Doch Anzahl und Ort der Leverkusens Fouls geben in dieser Hinsicht reichlich Aufschluss.
Ohnehin haben nur drei Teams mehr Fouls und lediglich zwei Teams mehr Gelbe Karten als Bayer auf dem Konto. Zudem ist auch ein deutlicher Anstieg im Vergleich zur Vorsaison zu erkennen. Während Bayer letztes Jahr noch auf durchschnittlich 15 Fouls und exakt zwei Gelbe Karten pro Spiel kam, sind es unter Schmidt bisher 17,9 Fouls und 2,3 Verwarnungen.
Das Ziel der Strategie ist offensichtlich: Wenn der Gegner sich dem eigenen Pressing entzieht oder sich vielversprechende Lücken im Leverkusener Verbund auftun, sollen einfache taktische Fouls solche Chancen bereits im Keim ersticken. Dabei werden die Gegenspieler meist noch in der gegnerischen Hälfte attackiert, um Gelegenheiten möglichst früh und sicher zu unterbinden.
Die hohe Anzahl an (taktischen) Fouls ist ebenfalls ein unverzichtbarer Aspekt von Schmidts Philosophie. Sie sind als Absicherung einkalkuliert, falls die mutige und oft riskante Balljagd schiefgeht.
Gegnerische Chancen früh unterbinden: Leverkusens Fouls im Spiel gegen Freiburg
Wenn mal kein Bayer-Spieler rechtzeitig Zugriff bekommt, kann es schnell brandgefährlich werden. Bayer lässt zwar die zweitwenigsten Schüsse aufs eigene Tor zu (89), doch die Chancen, die Leverkusens Gegner erhalten, sind aufgrund der weiten Räume und Bayers behäbigem Umschalten auf Defensive meist sehr erfolgsversprechend.
Die Zahlen untermauern diese Theorie mit Nachdruck. Während die Bayer-Gegner vergangene Saison noch durchschnittlich 11,1 Torschüsse brauchten um zu treffen, reichen in der aktuellen Spielzeit bereits 5,9 Schüsse für ein Tor.
Eine gewisse Formschwäche von Keeper Bernd Leno, der mit 64,1 Prozent abgewehrter Bälle nur auf Platz 16 der Bundesliga-Torhüter rangiert, ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Wenngleich man zu Lenos Verteidigung betonen muss, dass er oft in Kontersituationen auf sich allein gestellt ist.
Zwar kann die hohe Anzahl an Gegentoren keineswegs im Interesse von Trainer Schmidt sein, doch auch sie ist zwangsläufig ein Element seiner Spielidee, das kaum abstellbar scheint. Denn wer in der Offensive derart viel Chaos stiftet, wird mit ein wenig Anarchie in der eigenen Defensive leben müssen.
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