BVB - Borussia Dortmund holt Lucien Favre als Nachfolger von Peter Stöger: Trainer am Limit

Jonas Rütten
23. Mai 201816:07
Lucien Favre soll den BVB als neuer Cheftrainer wieder auf Vordermann bringen.getty
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Lucien Favre wird ab der kommenden Saison Cheftrainer beim BVB. Auf den ersten Blick widerspricht die Verpflichtung von Favre nach dem Zerwürfnis mit Thomas Tuchel, den Turbulenzen der Saison und Favres Vergangenheit jeder Logik. Doch sie könnte sich auch als Glücksgriff erweisen. Favres Engagement ist eine Gratwanderung - und zwar für den Trainer und für den Verein. Doch sie kommt zum richtigen Zeitpunkt.

In Gladbach verehren sie Lucien Favre noch immer wie einen Heiligen. Einen Trainer, der in höchster Not aus dem Nichts auftauchte und den Traditionsklub, der immer noch der glorreichen Vergangenheit hinterherzutrauern schien, vor dem Abgrund rettete. Binnen vier Jahren formte Favre aus einer abstiegsbedrohten und chronisch erfolglosen Fohlen-Elf den Champions-League-Teilnehmer Borussia Mönchengladbach. Die Spieler, die damals unter Favre trainierten, sind noch heute voll des Lobes.

"Er ist ein Trainer, der jede Mannschaft besser macht", sagte Dante in einem Interview mit der Sport Bild, als erste Meldungen über eine Einigung zwischen Favre und dem BVB kursierten. Dante selbst weiß genau, wovon er redet, schließlich hat er den "Favre-Effekt" bereits zwei Mal live miterlebt.

Dante war Favre auf der Suche nach der Stärke aus vergangenen Tagen bei Borussia Mönchengladbach zu OGC Nizza gefolgt, wurde unter ihm wieder Leistungsträger und sogar Mannschaftskapitän. Dass Favre ein Versprechen für Verbesserung ist, lässt sich leicht an seiner Trainer-Vita ablesen.

Favre bei Hertha BSC und BMG: Katerstimmung nach dem Vollrausch

Doch besonders bei seinen drei letzten Stationen folgte auf den steilen Anstieg der Leistungskurve immer auch ein brachialer Absturz, eine Art Katerstimmung nach dem Vollrausch des Erfolgs. Bei der Hertha und insbesondere in Mönchengladbach offenbarten Krisenzeiten, dass Favre kein einfacher Charakter ist. Taktisch brillant, aber in seinen Entscheidungen oft sprunghaft, unberechenbar und von Selbstzweifeln geplagt.

Seine Trennung von der Hertha 2009 artete in eine Schlammschlacht aus. In Gladbach zog er 2015 nach sechs Niederlagen zum Saisonstart eigenmächtig die Reißleine, obwohl der Verein unbedingt weiter mit ihm zusammenarbeiten wollte. Sportdirektor Max Eberl soll ihn bereits zuvor mehrmals von einem Rücktritt abgehalten haben. Favre ließ eine - wie Präsident Rolf Königs damals formulierte - "bis ins Mark getroffene" Fohlen-Elf zurück.

So erfolgreich Favre auch bei seinen Trainer-Stationen bislang war, seine zweifelhaften Abgänge in Gladbach und Berlin sowie die Leistungseinbrüche seiner Mannschaften disqualifizieren ihn auf den ersten Blick als künftigen Trainer des BVB, der einen Neustart ausgerufen hat und sich nach den Turbulenzen der vergangenen Jahre nach Kontinuität gerade auf der Trainerposition sehnt.

Doch es gibt gute Gründe dafür, dass der BVB mit dieser Neubesetzung des Trainerpostens der richtigen Logik gefolgt ist. Denn Favre - dem seit Jahren nicht nur taktisches Genie nachgesagt wird, sondern auch das Stigma des Sturkopfs anhaftet - hat nicht nur seine Mannschaften besser gemacht, sondern sich dabei auch selbst weiterentwickelt.

Lucien Favre: Seine Trainerstationen und Punkte-Ausbeute

VereinAmtsantrittAmtsaustrittAmtszeitSpielePunkte/Spiel
Yverdon-Sport12/199606/20001307 Tage471,21
Servette FC07/200006/2002729 Tage681,57
FC Zürich07/200309/20071460 Tage1631,85
Hertha BSC07/200709/2009820 Tage941,48
Borussia Mönchengladbach02/201109/20151679 Tage1891,65
OGC Nizza07/201606/2018729 Tage991,54
Borussia Dortmund07/2018offen---

Favre beim OGC Nizza: Kein Ende mit Schrecken

"Weiterentwicklung" ist bei Favre neben der "Flexibilität" im taktischen Bereich das große Stichwort. "Wenn du das nicht machst, bist du tot", sagte er in einem Sport-Bild-Interview, damals noch in Diensten Mönchengladbachs. Seine Philosophie der stetigen Verbesserung versucht er nicht nur seinen Spielern einzuimpfen, sondern projiziert sie auch immer auf seinen Beruf als Trainer - und das mit Erfolg.

Denn anders als bei seinen Stationen in der Bundesliga, verlief seine Trennung vom OGC Nizza für Favre-Verhältnisse ungewohnt geräuschlos, ja fast schon überraschend friedlich. Auch an der Cote d'Azur folgte auf eine herausragende erste Favre-Saison mit ehrgeizigen Nachwuchsspielern anstelle von großen Stars eine katastrophale Hinrunde (Platz 18 nach 14 Spielen). Der Unterschied: Favre blieb im Amt, wurde weder entlassen noch kehrte er seiner Mannschaft den Rücken.

Zwar verpasste Nizza am letzten Spieltag die erneute Qualifikation für das internationale Geschäft, doch Favre schaffte zum ersten Mal in einer Krisenzeit den Turnaround. "Er ist mit einer schwierigen Situation sehr gut umgegangen. Er hat unsere Probleme sehr gut analysiert und war dabei auch kritisch mit sich und uns. Danach haben wir große Schritte nach vorne gemacht", beurteilte Dante die Rolle von Favre während der suboptimalen Hinrunde in Nizza.

BVB unter Lucien Favre: Der Anti-Bosz mit einer Brise Tuchel

In Nizza integrierte Favre innerhalb von zwei Jahren unterschiedliche Spielsysteme, um auf die Taktik des Gegners reagieren zu können. Das sei heutzutage eine Notwendigkeit, wie er auf die Frage von französischen Journalisten nach seinem System antwortete. Mal ließ Favre im 3-5-2 spielen, mal im 4-3-3 und mal im altbewährten Gladbacher 4-4-2-System.

Favre wird diese Flexibilität und Anpassungsbereitschaft an den Gegner auch beim BVB integrieren. Gerade diesbezüglich ist Favre eine Art Anti-Bosz, der nur selten von seinem rigorosen Offensiv-Spiel absah. "Favre weiß immer, wie sich welcher Spieler und die gegnerische Mannschaft in welcher Situation verhält", sagte Kai Peter Schmitz, ehemaliger Spielanalytiker unter Favre in Gladbach, gegenüber 11Freunde bezüglich der Spielvorbereitung von Favre.

Diese kann den 60 Jahre alten Schweizer auch mal stundenlang beschäftigen. Favre ist wie Tuchel ein akribischer Matchplaner, der sich ebenfalls durch ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft auszeichnete. Nur "mit harter Arbeit" habe Favre beim OGC Erfolg gehabt. Allein für ein Liga-Spiel gegen Bordeaux habe er acht Spiele am Computer angeschaut und analysiert. "Ich habe noch nie in meinem Leben so intensiv gearbeitet. Ich bin an meinem Limit", sagte Favre gegenüber Zeit Online.

Taktik unter Lucien Favre: Diszipliniert bis in die Haarspitzen

Favres Teams stehen in der Regel tief, lassen dem Gegner bis kurz vor dem eigenen Sechzehner seine spielerischen Freiheiten, greifen dann jedoch resolut und entschlossen an. Die vielen Abschlüsse, die sich daraus zwangsläufig für den Gegner ergeben, sollen nur unter höchstem Druck erfolgen. Die Keimzelle sei für Favre das Eins-gegen-Eins, beurteilte Schmitz die Spielidee von Favre. Eine Tugend, die dem BVB nach Ansicht von Hans-Joachim Watzke unter Bosz und Stöger abhanden gekommen war.

Denn nicht umsonst forderte er beim Sky-Talk mit Jörg Wontorra Spieler, die ihre Präsenz auf dem Platz auch mal durch Körperlichkeit zum Ausdruck bringen: "Wir brauchen einen Spieler mehr, der etwas böser guckt, der auch mal einen wegsenst." In Favre hat der BVB nun einen Trainer, der gerade solche Spielertypen wertschätzt. In der letzten Saison unter Favre führte Borussia Mönchengladbach insgesamt 7.222 Zweikämpfe (52,2 Prozent gewonnen). Unter Stöger und Bosz kam der BVB im Kollektiv auf lediglich 4.547 direkte Duelle.

Der Fußball unter Lucien Favre ist ballbesitzorientiert, körperbetonter, abhängig von der disziplinierten Umsetzung der Raumdeckung und des kollektiven Verschiebens. "Wenn du mitziehst, macht dich Favre jeden Tag besser", beurteilte der Ex-Gladbacher Alexander Ring Favres Eigenschaften als Trainer im Interview mit SPOX. Er habe auf Kleinigkeiten geachtet, auf die andere Trainer nicht so achten: "Zum Beispiel erklärt er haarklein, wie man sich beim Blocken einer Flanke drehen muss, wie man zum Pass stehen und ihn dem Mitspieler in den richtigen Fuß spielen muss."

War bei all seinen Trainer-Stationen zunächst erfolgreich: Lucien Favre.getty

Favre und der BVB-Kader: Alte Freunde und die Jugend von heute

Spieler zu finden, die mitziehen, dürfte Favre beim BVB erstmal nicht schwer fallen. Mit Mahmoud Dahoud, Marco Reus und Lukasz Piszczek stehen beim BVB gleich drei Spieler im Kader, die bereits unter Favre gespielt haben, unter ihm aufgeblüht sind und seine Arbeitsweise im Training kennen. Spielzüge bis ins Detail in Zehn-gegen-Null-Spielformen einzustudieren ist ihnen genauso wenig fremd, wie Favres Pochen auf ein geduldiges, fast schon behäbiges Aufbauspiel aus der Mitte über die Außen.

Favre gilt außerdem als Förderer von ehrgeizigen Nachwuchstalenten. Das stellte er auch in Nizza mit Dalbert und Valentin Eysseric unter Beweis. Mit Alexander Isak, Christian Pulisic, Dan-Axel Zagadou, Jadon Sancho und Sergio Gomez stehen beim BVB gleich fünf U20-Spieler bereit, denen mehr oder weniger eine große Zukunft vorhergesagt wird und die sich unter Favre Hoffnung auf mehr Einsatzzeiten machen dürfen - Stichwort Weiterentwicklung.

Dazu müsste Favre aber bereit sein, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen und etablierte BVB-Spieler auf die Bank setzen.

BVB-Trainer Lucien Favre: Kein zweiter Thomas Tuchel

Mit Entscheidungen solcher Art hatte Tuchel beim BVB keine Probleme, allerdings sorgte unter anderem die Art und Weise, wie er diese Entscheidungen kommunizierte, teilweise für einen Bruch im Verhältnis zwischen Mannschaft, Trainer und Vorstand.

Dahingehend tickt Favre anders als Tuchel, weswegen Sorgen in BVB-Fankreisen über mögliche Parallelen der Ereignisse eigentlich unbegründet sind. "Das Wichtigste ist Ehrlichkeit. Einem Spieler zu erklären, warum er nicht spielt. Das gilt auch in die andere Richtung: Meine Tür steht immer offen, für jeden. Die Kommunikation ist sehr wichtig. Auch mit dem Vorstand, mit dem Sportchef, mit Mitarbeitern, dem Schiedsrichter oder anderen Trainern", erklärte Favre gegenüber der Sport Bild seinen Standpunkt.

Favre wird nicht nur bei solchen Entscheidungen auf die Rückendeckung der BVB-Führungsriege um Watzke, Michael Zorc und Sebastian Kehl angewiesen sein, sondern auch auf richtige Entscheidungen auf dem Transfermarkt. Für Favres System sind flexible und bewegliche Spitzen ebenso essentiell wie eine stabile Defensive. In beiden Mannschaftsteilen soll der BVB dem Vernehmen nach Neuverpflichtungen planen.

BVB und Lucien Favre: Guter Zeitpunkt für eine Gratwanderung

Das Konstrukt "Favre beim BVB" kann also funktionieren. Die Voraussetzungen dafür sind entweder schon gegeben, oder sollen geschaffen werden. Favre selbst hat sich seit seinem Abgang aus der Bundesliga geändert. Galt er früher noch in Krisenzeiten als nicht stressresistent und sprunghaft in seinen Entscheidungen, hat er in Nizza unter Beweis gestellt, dass er auch schwierige Phasen, in denen schon an seinem Stuhl gesägt wurde, mit Ruhe und Gelassenheit überstehen kann.

Dennoch ist sein Engagement sowohl für den BVB als auch für Favre selbst eine Gratwanderung, wenngleich beide Seiten zum richtigen Zeitpunkt zusammenfinden. Während Favre mit der Hertha, Gladbach und Nizza die klassischen Underdog-Teams trainierte, bei denen er ohne die ganz große Erwartungshaltung phasenweise das Maximum rausholte, ist sein Handicap zum Amtsantritt beim BVB ungleich größer. Er soll die Schwarz-Gelben zurück zu alter Stärke und mindestens auf Platz zwei in Deutschland führen.

Der BVB hingegen geht das Risiko ein, dass Favre mit dieser ihm unbekannten Drucksituationen nicht zurechtkommt und in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Es wird unter anderem davon abhängen, wie viel Zeit Favre eingeräumt wird, um bestehende Probleme beim BVB zu lösen. Der Trainer Favre erfordere Nerven und Energie, sagte Dieter Hoeneß, der als Manager der Hertha mit dem Schweizer Übungsleiter zusammenarbeitete: "Aber es lohnt sich."