Nach einem 2:2 beim FC Sevilla war für Borussia Dortmund am 15. Dezember 2010 in der Europa-League-Gruppenphase Schluss. Dies geriet jedoch schnell in den Hintergrund, da es rund um das Spiel zu massiver Polizeigewalt gegen die mitgereisten BVB-Fans kam. Dazu wurden nach Schlusspfiff 15 Dortmunder Anhänger einer erniedrigenden Behandlung unterzogen sowie Freiheitsstrafen gegen sie verhängt.
Entgegen der Aussagen der spanischen Polizei fand die Schnellverhandlung in Sevilla jeweils Eintrag in das Bundeszentralregister der Betroffenen. Ein unschuldiger Fan wehrte sich dagegen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Erst nach einem fast zehn Jahre andauernden Rechtsstreit wurde im Mai 2020 seiner Klage auf Löschung der Eintragung stattgegeben.
Im Interview mit SPOX und Goal erzählt der damals 21-jährige Bernd W. (Name von der Redaktion geändert) erstmals öffentlich, welch Leid ihm und den 14 weiteren Betroffenen widerfahren ist. Seinem Wunsch nach Anonymität wurde entsprochen. Einen Hintergrundbericht zu Polizeigewalt gegen Auswärtsfans bei Europapokalspielen in Spanien lest Ihr hier.
Herr W., Sie sprechen nun erstmals öffentlich über die Geschehnisse, die Ihnen am 15. Dezember 2010 in Sevilla widerfahren sind. Warum ist es Ihr Wunsch, dabei anonym zu bleiben?
Bernd W.: Ich denke, die Mehrheit der Fußballfans ist nicht unbedingt darauf aus, namentlich in den Medien erwähnt zu werden. So geht es mir auch. Ich habe zwar ein reines Gewissen, da ich damals absolut nichts getan habe. Das heißt aber leider nicht, dass das jeder so sieht. Selbst wenn die Eintragung im Bundeszentralregister nun gelöscht wurde, vom Tatvorwurf freigesprochen hat man mich ja bedauerlicherweise nicht. Es hieß nur, es seien Fehler im Verfahren gemacht worden.
Wie alt sind Sie heute und seit wann sind Sie BVB-Fan?
Bernd W.: Ich bin 31 Jahre alt und komme aus Nordrhein-Westfalen. Seit meiner Kindheit und den Meisterschaften 1995 und 1996 bin ich Fan, seit der Rückrunde 2006 besitze ich eine Dauerkarte für die Südtribüne.
Damals in Sevilla waren Sie also 21. Wie sehr fieberten Sie dem Spiel entgegen?
Bernd W.: Wie alle anderen Fans habe ich mich sehr darüber gefreut, dass der BVB wieder international spielt. Ich war in dieser Saison auch in Paris dabei, bei fast allen Spielen war ich im Stadion, ob zuhause oder auswärts. Auf Sevilla hatte ich besondere Lust, da in Deutschland Schnee lag und dort angenehme 15 Grad auf uns warteten. Ich bin mit drei Kumpels individuell angereist, wir hatten für zwei Nächte ein Viererzimmer in einem Hostel gebucht.
Wie haben Sie die Zeit bis zum Spiel verbracht?
Bernd W.: Wir sind angesichts des Wetters mit T-Shirt und kurzer Hose durch die Stadt gelaufen und haben uns alles angeschaut. Klar, da gab es schon Momente, in denen man von den dick eingepackten Einheimischen schräg angeschaut wurde. Die meisten Deutschen waren aufgrund der sommerlichen Kleidung klar erkennbar. Auch von der Polizei gab es deshalb ein paar böse Blicke. Wir haben uns aber verhalten wie normale Touristen, waren Tapas essen und mit vielen anderen BVB-Fans in Kneipen. Am Spieltag fanden sich dann alle im Stadtzentrum am ausgemachten Treffpunkt ein, die Stimmung war gelöst. Wir haben das alles sehr positiv empfunden, von der Polizei war da auch nichts zu sehen, es gab keine Vorfälle. Die Freude aufs Spiel wuchs stündlich. Als um 16, 17 Uhr der Fan-Marsch zum Stadion begann, war in keiner Weise absehbar, was später passieren sollte.
Der Marsch wurde von der Polizei begleitet. Im weiteren Verlauf zeigten sich die Polizisten überaus grob und pferchten die Dortmunder Anhänger immer wieder zusammen. Wie haben Sie das beobachtet?
Bernd W.: Anfangs haben sich die Polizisten noch sozial verhalten, aber es war eindeutig, dass sie auf alles vorbereitet waren. Sie waren komplett ausgerüstet, man könnte auch schwer bewaffnet sagen, teils mit Maschinengewehren. Auch Wasserwerfer standen bereit. Ich war beim Marsch relativ weit vorne dabei und habe alles hautnah mitbekommen. Recht bald haben die Polizisten mit ersten Provokationen begonnen: Erst hieß es, wir würden ihnen zu schnell, plötzlich wieder zu langsam laufen. Irgendwann hat der Erste seinen Schlagstock herausgeholt und in die Menge geknüppelt, ohne dass etwas von den Fans ausgegangen ist.
Wie wurde darauf reagiert?
Bernd W.: Natürlich gab es Leute, die sich das nicht gefallen ließen. Es fing daher an, dass sich gegenseitig mit Gesten provoziert wurde, aber es gab noch keine körperlichen Angriffe. Der Marsch ging langsam weiter und es wurde dunkel. Ziemlich unvermittelt brach dann das Chaos aus. Der Ursprung war, dass auf einmal eine große Schar Sevilla-Fans nur knapp an uns vorbeigeführt worden ist, von der natürlich auch noch weitere Provokationen ausgingen. Man hat gemerkt, dass sie bewusst darauf aus waren, uns zu treffen. Kurz danach ist der Marsch komplett auseinandergebrochen. Die Polizei verlor ihre Struktur, lief wild durch die Gegend und ritt mit Pferden durch alle Leute. Das Stadion war zwar in Sichtweite, aber niemand wusste, wo wir genau entlang müssen.
Wie haben Sie sich in dieser Lage verhalten?
Bernd W.: Ich war mit meinen Kumpels wie in einer Beobachterrolle. Wir haben nichts gemacht, uns ging es nur darum, irgendwie ins Stadion zu gelangen, weil wir hofften, dass es ein sicherer Zufluchtsort ist. Vor dem Stadion sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Ich war damals schon bei einigen Spielen im Ausland oder auch beim Derby gegen Schalke, aber das hier war für mich eine komplett neue Erfahrung. Auch wenn mir klar war, dass die spanische Guardia Civil eher als aggressiv einzustufen ist - es gab dort zuvor ja auch schon Auseinandersetzungen mit Bayern- und Schalke-Fans -, so schlimm war es noch nie.
Ab wann waren Sie schließlich im Stadion?
Bernd W.: Irgendwann habe ich mit Glück den Eingang des Gästebereichs erreicht, aber auf dem Weg dorthin meine Kumpels verloren. Das war ungefähr drei Stunden vor Anpfiff, das Stadion war leider noch geschlossen. In unmittelbarer Umgebung des Gästebereichs lief alles kreuz und quer durcheinander: Die Polizisten sind weiterhin mit Pferden durch die Menge geritten und haben die Leute mit dem Schlagstock geprügelt. Ihnen war auch egal, wen es traf, selbst Frauen, Kinder und ältere Personen haben viel abbekommen. Als schließlich der Eingang geöffnet wurde, ging es mir nur darum, schnellstmöglich hineinzukommen. Ich weiß noch genau, wie ich mein Ticket gescannt habe, mit erhobenen Händen ins Stadion ohne Umwege direkt in den Block gelaufen bin und dort zufällig wieder meine Kumpels getroffen habe. Zuvor war das Handy-Netz einfach zu überlastet, um sie telefonisch zu erreichen.
Wie stellte sich die Situation innerhalb des Stadions dar?
Bernd W.: Dort ging es ähnlich weiter, was vollkommen unnötig war, da nur noch Dortmunder in einem abgesperrten und komplett umzäunten Bereich standen. Die Polizei war mit im Block und ist weiter auf die Fans losgegangen, obwohl es relativ ruhig war. Davon haben sich logischerweise diverse Leute provozieren lassen, so dass auf einmal Sitzschalen und Mülltonnen in Richtung der Polizisten und von dort wieder zurückflogen. Da die Polizei um die Sitzreihen herum postiert war, war es auch nicht möglich, seinen Platz zu verlassen, um zur Toilette zu gehen oder sich etwas zum Essen und Trinken zu holen. Ein Bekannter hatte das versucht, wurde auf dem Weg zum Klo aber mehrfach von Polizisten geschlagen und ist unverrichteter Dinge wieder zurück in den Block geschickt worden.
gettyHat sich die Lage dann irgendwann beruhigt?
Bernd W.: Ja, nach einer halben, dreiviertel Stunde ungefähr. Als alle halbwegs sortiert im Block waren und auch die Mannschaften zum Aufwärmen aufs Feld kamen, war erst einmal alles überstanden. Man hat sich aber ständig beobachtet gefühlt, weil extrem viel Polizei im Block war und es auch Leute gab, deren Funktion ich nicht zuordnen konnte, die aber herumgelaufen sind und auf Fans gezeigt haben. Ich hatte die ganze Zeit ein komisches Gefühl, es herrschte eine trügerische Ruhe. Trotz allem habe ich mich auf das Spiel gefreut, denn es war ja sportlich brisant und ging für uns ums Weiterkommen. Daher habe ich auch nicht darüber nachgedacht, was nach dem Spiel passieren könnte.
Das Spiel endete 2:2, der BVB schied aus der Europa-League-Gruppenphase aus. Was geschah nach Schlusspfiff?
Bernd W.: Ich bin mit meinen Kumpels wie alle anderen vor uns ganz normal eine Treppe hinunter gegangen, als zehn Meter vor dem Ausgang auf einmal die Ansage der Polizei kam, dass man das Stadion nur noch in Zweiergruppen verlassen darf. Ich bin also mit einem meiner Jungs neben mir weitergelaufen. Als ich unten ankam, wurde ich völlig unvermittelt von rechts am Arm gepackt und zur Seite unter die Treppe gezogen. Mir gegenüber stand ein Polizist, der mit hektischen Gesten verlangte, dass ich ihm meine Hände zeige. Ich wusste nicht, was passiert ist und passieren wird, denn ich war wirklich der Erste, der herausgezogen wurde. Nach und nach gesellten sich rund 15 Fans hinzu, deren Aufpasser deutlich brutaler als bei mir vorgegangen sind. Der Großteil kam aus der aktiven Fanszene, aber es war auch ein Herr im Rentenalter dabei. Sie wurden teils in eine dunkle Ecke gezogen und geschlagen. Da wir uns nicht bewegen durften, habe ich das zwar nicht gesehen, aber die Schreie und Schläge deutlich gehört.
Wann wurde Ihnen mitgeteilt, wie der Vorwurf für die Festnahme lautete?
Bernd W.: Gar nicht, niemand hat mit uns gesprochen. Es wurde natürlich gefragt, was nun mit uns passieren wird, aber die Polizisten konnten oder wollten kein Englisch sprechen. So standen wir mindestens eineinhalb Stunden unter der Treppe mit dem Kopf an der Wand und jeweils einem Polizisten hinter uns. Wir mussten die Hände aus den Taschen halten und haben dann in der mittlerweile doch extremen Kälte einfach nur gewartet, bis irgendetwas passiert.
Wie sahen Ihre Gedanken in diesem Moment aus?
Bernd W.: Ich hatte einfach nur die Hoffnung, dass sie uns irgendwann ein paar Fragen stellen und wir dann wieder gehen können. Auch meine Kumpels standen irgendwo in Sicherheit vor dem Stadion und haben auf mich gewartet. Das habe ich mitbekommen, als wir schließlich an den Händen gefesselt zu zweit in einen Polizeiwagen verfrachtet worden sind. 'Wir warten auf dich, wir holen dich da raus', haben sie mir entgegengerufen. Da habe ich erstmals realisiert, dass die Sache wohl doch ernster wird als gedacht. Man fuhr uns dann mit Blaulicht zu einer Polizeiwache. Kommuniziert hat aber weiterhin niemand mit uns. Ich stand natürlich unter Schock, aber im Nachhinein kann ich mir kaum erklären, wie ich das alles durchgestanden habe.
Wie ist es auf der Wache weitergegangen?
Bernd W.: Wir wurden gefesselt nebeneinander in einem Gang aufgereiht und standen auch dort wieder sehr lange, ohne dass jemand mit uns gesprochen hat. Man nahm uns Handys und Kameras ab, ein Polizist löschte direkt vor meinen Augen alle Daten. Uns wurden auch Fingerabdrücke abgenommen. Da nirgends eine Uhr hing, hatte ich keine Ahnung, wie spät es war. Plötzlich tauchte für drei Minuten eine Dolmetscherin mit sehr schlechten Deutschkenntnissen auf. Sie meinte, dass uns allen derselbe Vorwurf gemacht wird, wir nun kurz in Untersuchungshaft kommen und dann wieder freigelassen werden. Ich habe gefragt, wie lange das dauern wird, da mein Rückflug am nächsten Tag um 12 Uhr ging. Es hieß, das werde ganz schnell gehen, den Flug bekäme ich auf jeden Fall.
Wie schnell wurde klar, dass das nicht eintreten wird?
Bernd W.: Nach und nach. Als alle Daten aufgenommen waren, ging es in einen dunklen Keller, wo wir wieder aufgereiht und uns alle weiteren Habseligkeiten abgenommen wurden. Also auch Gürtel und Schnürsenkel, damit wir bloß nichts mehr am Körper führten. Wir sind dann wie durch Ruinen über mehrere Räume hinweg zu komplett gefliesten Zellen ohne Fenster gebracht worden, in die man uns zu zweit steckte. Der Rest war gegenüber und neben uns untergebracht. Das war alles in Hörweite und man konnte miteinander reden, aber nichts sehen, da die Türen versetzt waren.
Bekamen Sie dort Verpflegung?
Bernd W.: Es gab stinkende, ungewaschene Decken und ein gammliges Sandwich, aber nichts zu trinken. Auch eine Sitzgelegenheit war nicht vorhanden. Spätestens da war klar, dass die Aussage der Dolmetscherin nicht eintreffen wird. Mittlerweile dürfte es auch zwei oder drei Uhr nachts gewesen sein. Ganz selten ist ein Polizist durch den Gang gelaufen. Wenn jedoch jemand eine Panik bekommen hätte, uns hätte niemand helfen können. Es gab keine Möglichkeit, um jemanden zu verständigen. Zwischendurch ist einer von uns zu einem Arzt abgeführt worden, weil er zuvor bereits verletzt wurde und starke Schmerzen hatte.
War es in dieser Nacht möglich, einmal ein Auge zuzudrücken?
Bernd W.: Nein, an Schlaf war nicht zu denken. Das ließen die Kälte und die Situation nicht zu. Hinzu kam: Wenn die Polizisten durch den Gang liefen, fielen allen Ernstes Worte wie "Hitler", "Nazi" oder "vergasen". Dazu wurden Zisch-Geräusche gemacht, die wohl an eine Gaskammer erinnern sollten.
Kein Schlaf, kaum Essen, keine Getränke - mussten Sie zumindest nicht irgendwann einmal auf die Toilette?
Bernd W.: Doch, aber die gab es nicht. Ich hatte auch sehr großen Durst. Es muss am Morgen gewesen sein, als eine Putzfrau und ein Polizist vorbeikamen und wir gefragt wurden, ob jemand auf die Toilette müsste. Dann bekam jeder nur eine Minute, der Polizist wartete vor der Tür. Man konnte also nicht viel verrichten. Bei der Gelegenheit habe ich nach Stunden ohne Flüssigkeit endlich mal einen Schluck Wasser aus dem Hahn nehmen können. Das war alles mehr als entwürdigend.
Wann sind Sie dort schließlich herausgekommen?
Bernd W.: Wohl gegen Mittag. Jeweils zu zweit aneinandergekettet holte man uns aus den Zellen. Mit der freien Hand musste man seine Hose festhalten, da die ohne Gürtel sonst zu Boden gerutscht wäre. Wir sind aus der Wache in einen großen Transporter geführt und mit Blaulicht quer durch die Stadt gefahren worden - weiter ohne zu wissen, was passieren wird. Bis dahin hatten wir alle immer noch nur dieses elende Sandwich und höchstens ein paar Schlucke Wasser intus. Wie sich herausstellen sollte, fuhren wir zum Strafgericht.
Dort kam es zur Verhandlung, allerdings in Abwesenheit der Betroffenen.
Bernd W.: Genau. Uns steckte man erneut in Zellen, diesmal waren sie größer und wir waren zu sechst. Es gab auch eine als Toilette getarnte Stahlschüssel, doch die war genau mittig platziert. Wenn man sie also benutzen wollte, hätten alle anderen zuschauen müssen. Dort haben wir rund fünf, sechs Stunden verbracht. Die Stimmung unter uns war da nun etwas lockerer. Wir waren freilich weiter stark gefrustet, aber irgendwie auch optimistisch, dass wir es nun bald überstanden haben.
War dem so?
Bernd W.: Letztlich schon. Zunächst kam erst wieder ein Dolmetscher vorbei, der auch besser Deutsch sprach. Seine Aussage war: Oben wird gerade verhandelt, das dauert noch ein, zwei Stunden und dann kommt ihr frei. Wir haben gefragt, ob die Urteile auch nach Deutschland übermittelt und uns dort angelastet werden. Es hieß, wir müssten nur etwas unterschreiben und würden dann nie wieder davon hören. Das käme in Deutschland nicht an und gelte nur in Spanien, wohin wir zudem zwei Jahre lang nicht reisen dürfen. Später verkündete der Dolmetscher, dass wir alle zwölf Monate auf Bewährung und eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen a sechs Euro bekommen. Der Tatvorwurf war weiter unklar, auch der Dolmetscher wusste von nichts. Wir hatten lediglich die Wahl: Entweder wir unterschreiben oder bleiben dort und bekommen eine richtige Verhandlung, die aber bis zu vier Wochen auf sich warten lassen kann.
Es hat also jeder ohne Umwege unterschrieben?
Bernd W.: Klar. Wir wurden einzeln aus der Zelle gebracht, bekamen all unsere Habseligkeiten wieder und sind in einen größeren Raum geführt worden. Dort stand ein Tisch, auf dem ein Blatt Papier lag. Erneut hieß es: Das musst du unterschreiben, danach kannst du gehen. Auf dem Blatt standen zwei spanische Sätze, sonst nichts. Alle mussten darauf unterschreiben, dieses Schuldeingeständnis sah letztlich aus wie eine Geburtstagskarte. Das klingt natürlich sehr abstrus und unseriös, aber es war schlichtweg alternativlos.
War Ihnen damals bewusst, dass die rechtlichen Versprechungen womöglich nicht in Deutschland Bestand haben werden?
Bernd W.: Darüber habe ich keinen Gedanken verloren. Ich wollte nur, dass es vorbei ist. Als wir irgendwann alle draußen waren, nahm uns der Fanbeauftragte des BVB in Empfang. Da war es auch schon wieder dunkel, ungefähr 19, 20 Uhr. Er meinte, der BVB habe 7000 Euro dagelassen. Er hatte für uns ein Hostel gebucht und sich um den gemeinsamen Rückflug nach Düsseldorf gekümmert. Das war die absolute Rettung für uns, ich war extrem erleichtert.
IMAGO / Sven SimonWohin ging es unmittelbar nach der Freilassung weiter?
Bernd W.: Der Fanbeauftragte hatte sich um Taxis gekümmert, da ungefähr 200 Meter vom Gericht entfernt zahlreiche Sevilla-Fans standen und ganz offensichtlich auf uns gewartet haben - woher auch immer sie die Information hatten, dass wir dort sind und zu diesem Zeitpunkt freikommen würden. Wir stiegen daher sofort ein und sind zu einem Burger King gefahren. Ich hatte 24 Stunden lang nichts gegessen und quasi nichts getrunken, war körperlich komplett platt, aber nicht unbedingt müde, weil wohl noch immer genug Adrenalin in mir war. Im Burger King wurde alles weitere besprochen und dort auch der Rückflug gebucht.
Haben Sie dort auch erstmals wieder mit Ihren Eltern und den Kumpels telefoniert?
Bernd W.: Genau. Der Fanbeauftragte hatte im Tagesverlauf bereits mit unseren Angehörigen Kontakt aufgenommen und ihnen erklärt, was passiert ist. Als meine Mutter davon hörte, schaltete sie unverzüglich einen Anwalt ein. Das taten auch einige andere und wurde schließlich so koordiniert, dass uns der Fanbeauftragte vor Ort weiterhelfen konnte. Nach einer Nacht im Hostel und dem Rückflug haben mich meine Eltern um 21 Uhr am Flughafen abgeholt. Zum Glück war ich damals noch Student und musste mir in Sachen Arbeitgeber keine Sorgen machen.
Zurück in Deutschland beantragten Sie 2011 ein polizeiliches Führungszeugnis - und dort wurde die spanische Verurteilung doch aufgeführt. Hatten Sie selbst diese Idee oder bekamen Sie einen Tipp dazu?
Bernd W.: Die Fanabteilung hat uns darauf hingewiesen, dass wir über sie auf anwaltliche Hilfe zurückgreifen können. Die Rechtswissenschaftlerin Dr. Alexandra Schröder hat damals zu den Geschehnissen und dem Thema Polizeigewalt in Spanien promoviert, zudem waren mit Professor Dr. Thomas Feltes, der seinerzeitige Leiter des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und dem Münchner Rechtsanwalt Marco Noli drei Personen von Anfang an direkt beteiligt. Auf deren Initiative hin habe ich das Führungszeugnis beantragt.
Andere Betroffene hatten automatisch ein Schreiben vom Bundesamt für Justiz bekommen und wurden darin über die Eintragung der Verurteilung in Spanien im Bundeszentralregister informiert.
Bernd W.: Bei mir war das zunächst nicht der Fall. Der Tatvorwurf gegen mich wurde erst klar, nachdem wir eine deutsche Übersetzung des Urteils in Auftrag gegeben hatten und ich das Führungszeugnis bekam. Ich soll beim Betreten des Stadions versucht haben, über ein Absperrgitter zu springen und dabei einen Polizisten angegriffen haben.
Wie lange wäre die Eintragung denn bestehen geblieben?
Bernd W.: Drei Jahre im Führungszeugnis und elf Jahre im Bundeszentralregister.
Sie legten daraufhin beim Bundesamt für Justiz sowie beim Bundesjustizministerium Beschwerde ein mit der Begründung, die spanische Schnellverurteilung weise schwere rechtsstaatliche Mängel auf und dürfe daher nicht im Führungszeugnis geführt sein. Doch die Behörden sowie 2012 das Kammergericht Berlin zweifelten nicht an der Rechtmäßigkeit des spanischen Verfahrens. War Ihnen da schon klar, dass Sie alle Mittel ausschöpfen würden, um Gerechtigkeit zu erfahren?
Bernd W.: Ja. Frau Schröder hat mich darauf hingewiesen, dass das so nicht hinnehmbar sei. Es hieß, auch wenn die Erfolgsaussichten gering sind, könne man etwas machen und es zumindest versuchen. Ich selbst war damals weiterhin fassungslos, dass wir in einem EU-Land auf diese Art und Weise behandelt wurden, nur weil wir Deutsche und Fußballfans sind. Als ich dann erfuhr, dass alle anwaltlichen Kosten übernommen werden, wollte ich diesen Weg mitgehen. Wir hatten ja nichts zu verlieren.
Wie machtlos fühlten Sie sich nach diesen ersten Urteilen?
Bernd W.: Ich hatte das Gefühl, dass es in Deutschland niemanden interessiert, was ich als deutscher Staatsbürger zu dem Fall zu sagen habe. Die glauben einfach den Spaniern, so fühlte sich das im ersten Moment an. Zumal es ja wie erwähnt nachweislich nicht der einzige Fall von Polizeigewalt in Spanien gegen deutsche Fans war.
Wie sind die anderen Betroffenen verfahren?
Bernd W.: Manche haben nichts gegen die Eintragung unternommen, andere sind den Weg mit Frau Schröder, Herrn Feltes und Herrn Noli mitgegangen. Mein Fall war aber sozusagen das Paradebeispiel, das für die grundsätzliche Anfechtung des Urteils herangezogen wurde.
Bevor das Bundesverfassungsgericht eingreifen konnte, mussten Sie alle möglichen behördlichen und gerichtlichen Instanzenzüge durchlaufen - was jeweils erfolglos war. Wie sehr waren Sie in dieses ganze Prozedere involviert?
Bernd W.: Vieles lief im Hintergrund ohne meine direkte Beteiligung. Es war daher nicht permanent präsent bei mir, da teils auch jahrelang so gut wie gar nichts passierte. Ich wurde bei unterschiedlichen Dingen immer wieder um Einverständnis und Unterschriften gebeten. Für mich stand von Beginn an ohnehin fest: In den nächsten elf Jahren wird bei mir keine Eintragung hinzukommen und danach wird dieser - ich sage es mal, wie es ist - Scheiß auch endlich wieder gelöscht.
Da der Rechtsweg erschöpft war, wurde der Weg zum Bundesverfassungsgericht frei. Dieses urteilte im Januar 2017, dass das Berliner Gericht das spanische Verfahren hätte prüfen müssen. Es war falsch, davon auszugehen, dass es rechtsstaatlichen Mindeststandards genügte. Wie erleichtert waren Sie wenn man bedenkt, dass weniger als zwei Prozent der eingelegten Verfassungsbeschwerden erfolgreich sind?
Bernd W.: Extrem erleichtert. Es gab mir von behördlicher Seite erstmals das Gefühl, dass man sich der Sache einmal vernünftig angenommen hat und uns Gehör geschenkt wurde, anstatt sozusagen blind darauf zu vertrauen, dass es schon rechtens gewesen sein muss, was in Spanien passierte.
Der Fall wurde dann zur Neuverhandlung an das Berliner Kammergericht zurückgegeben. Über drei Jahre später, am 27. Mai 2020, hat dieses dann Ihrer Klage auf Löschung der Eintragung stattgegeben. Die Begründung lautete, "dass im vorliegenden Fall die Vermutung, dass grundsätzlich von der Richtigkeit von Strafurteilen europäischer Mitgliedsstaaten ausgegangen werden kann, erschüttert ist". Wie erfuhren Sie davon?
Bernd W.: Frau Schröder rief mich an. Da wurde mir auch so richtig klar, was das eigentlich bedeutet und dass damit ein echter Präzedenzfall geschaffen wurde, der künftig anderen Betroffenen weiterhelfen kann. Sechs weitere Betroffene sind dann denselben Weg mit Frau Schröder gegangen, auch bei ihnen wurden die Eintragungen auf Antrag von Herrn Feltes gelöscht. Ich empfand daher Freude und Genugtuung, da ich erst zu diesem Zeitpunkt sicher war, dass mir doch noch jemand glaubt. Es kam mir in all den Jahren immer wieder so vor, als dachte man, ich hätte mir alles nur ausgedacht - teils selbst im privaten Bereich. Es hieß häufig: Du kannst viel erzählen, du musst ja etwas gemacht haben, denn die Polizei hat immer Recht.
War denn irgendwann abzusehen, dass es auf dieses Urteil hinauslaufen würde?
Bernd W.: Nein, das kam sehr überraschend, da ja auch die Prognosen im Vorfeld nicht rosig waren. Selbst die Anwälte haben damit in dieser Form nicht gerechnet. Es hat mich natürlich auch sehr gefreut, dass deren jahrelange Arbeit belohnt wurde. Am selben Tag traf ich mich mit meinen drei Kumpels und habe bei einem Bierchen darauf angestoßen. Auch für sie war das ja leider ein unvergessliches Erlebnis.
Würden Sie sich wünschen, dass die Polizeibeamten, die in Sevilla gegen grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen haben, bestraft werden?
Bernd W.: Ja. Es nervt mich total, dass sie ohne Strafe davongekommen sind. Sie haben ihre Machtposition ausgenutzt und uns fertiggemacht, ohne dass wir etwas getan hatten. Das ist für mich eigentlich das viel schlimmere Vergehen. Gerade im Ausland wurde mir bewusst, dass die Polizei nicht zwingend dein Freund und Helfer ist - besonders, wenn man Deutscher ist. Ich habe anschließend auch in der ersten Zeit die Polizisten in Deutschland mit einem anderen Auge und nicht mehr als die Respektspersonen gesehen, die sie eigentlich sein sollten.
IMAGO / Sven SimonSind Sie danach weiter zu Auswärtsspielen ins Ausland gereist oder hatte Sie dieser Vorfall abgeschreckt?
Bernd W.: Nein, ich hatte mir ja nichts vorzuwerfen und alle anderen Reisen waren auch wunderschön. Es gab beispielsweise in Marseille oder Manchester ähnlich brenzlige Situationen, aber dort habe ich nichts Vergleichbares mehr erlebt. Gerade im Ausland achtete ich darauf, mich noch dezenter im Hintergrund aufzuhalten. Bis 2014 bin ich überall mitgefahren, anschließend nahm das aufgrund persönlicher Gründe ab.
Wie sehr verfolgt Sie all das, was Ihnen in Sevilla widerfahren ist, heute noch?
Bernd W.: Ich kann mich an fast jede Sekunde noch sehr gut erinnern. Daher habe ich diesem Gespräch auch zugestimmt, da ich es richtig und wichtig finde, unser Schicksal noch einmal zu thematisieren. Ich habe die negativen Gefühle und Gedanken von damals aber nicht mehr in meinem Kopf. Ich bin mir aber sicher, dass es mich ganz anders belastet hätte, wenn ich das alles allein hätte durchstehen müssen.