Der FC Chelsea steht unter Antonio Conte vor einem Neustart. Doch bis auf Michy Batshuayi hatte der Klub lange Zeit Probleme, namhafte Neuzugänge an die Bridge zu lotsen. Für Conte war N'Golo Kante deshalb ein Segen. Um seine wandelbare Spielphilosophie in London zu implementieren, bedarf es mehr Laufstärke.
Im vergangenen November, nach der geglückten EM Qualifikation und lange bevor Antonio Conte bei der gerade zu Ende gegangenen Endrunde im 5-3-2-System mit Italien für ungeahnte Furore sorgte, befragte ihn die UEFA auf ihrer Plattform nach seiner Spielphilosophie.
Conte wollte sich damals nicht auf ein einziges System festlegen. Die Arbeit eines guten Trainers sei vergleichbar mit der eines guten Schneiders. "Du musst aus den dir verfügbaren Spielern und deren Qualitäten einen netten Anzug schneidern", erklärte der Süditaliener damals und schob hinterher: "Du musst es so machen, dass die unterschiedlichen Besonderheiten der Spieler bestmöglich zur Geltung kommen."
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Bei seinem offiziellen Arbeitsbeginn an der Stamford Bridge vor versammelter Presse wiederholte er dieses Statement mit Nachdruck. Sein neuer Arbeitgeber Chelsea bietet mit seinem momentanen 40 Mann Kader wirklich jede Menge Stoff, um einen neuen Anzug zu schneidern.
Bis zu vier verschiedene Formationen
Zuletzt als Nationaltrainer Italiens, in der Anfangszeit bei Juve und bei seinen beiden Aufstiegen mit Bari und Siena machte er aus der Not eine Tugend. Conte erschuf aus schmalen Budgets Teams, die in Sachen Organisation und Automatismen kaum bis gar nicht zu übertreffen waren und übertünchte damit oft fehlende individuelle Qualität.
Antonio Conte im Porträt: Der verrückte Architekt
In der Meistersaison mit Siena wechselte er über die gesamte Saison von einem klassischen 4-4-2, über das in der vergangenen Saison auch bei Chelsea praktizierte 4-2-3-1, bis hin zu einem 4-3-3. Die Experten rieben sich ob der brutalen Flexibilität, zumal in Liga zwei, verwundert die Augen.
Unberechenbarkeit und taktische Flexibilität erhalten Contes Teams jedoch nicht mit seinem Amtsantritt geschenkt. Chelseas Spieler können sich auf eine intensive Saisonvorbereitung einstellen, sowohl körperlich als auch mental. Spielerkoryphäen wie Andrea Pirlo, Gianluigi Buffon und Leonardo Bonucci berichteten in der Vergangenheit von teils "unmenschlichen Einheiten" unter Conte in der Vorbereitung. Doch die Spieler sind ihm bei seinen letzten Stationen trotz allem stets gefolgt.
Jürgen Kohler, einst Contes Teamkollege bei Juventus und heute ein guter Freund, attestiert dem Trainer Conte in der Zeit "eine akribische, beinahe besessene detaillierte Trainings- und Spielvorbereitung, enormes taktisches Wissen und die Gabe, Spieler hinter sich zu bringen."
Flexibilität war der Schüssel für Juves Durchmarsch im ersten Jahr unter Conte. Bei der alten Dame installierte er in der Saison 2011/2012 zunächst sein schon in Siena funktionierendes 4-3-3-System, bei dem die beiden Außenverteidiger den Angriff mitgestalteten und aus dem deswegen bei Ballbesitz ein 2-5-3 System wurde.
Für die Premier League könnte Conte auf dieses System zurückgreifen. Was zunächst sehr offensiv klingt, ist aber auch defensiv stark - Voraussetzung dafür sind funktionierende Automatismen. Bei Ballverlust wird das defensive Umschaltspiel von Conte gefordert und gefördert. Rasch sollen die Spieler, wie zu jener Zeit bei der alten Dame, in ein stabiles 4-2-3-1 zurückkehren, die Außenverteidiger bewegen sich im Vollsprint in die Abwehrkette.
Links wäre das die Aufgabe für den beidseitig einsetzbaren Cesar Azpilicueta, für die rechte Seite suchen die Blues eine offensivstärkere Variante als Branislav Ivanovic. Noch wichtiger wäre dieser Spielertyp in einem 3-5-2 System, als rechter Part vor der Dreierkette. Kostengünstiger wird es, wenn sich die offensiv talentierten Linksverteidiger Baba oder Kenedy in Contes Augen auch defensiv als fähig erweisen. Dann könnte Azpilicueta auf rechts spielen.
Rechts vor einer Dreierkette kann ebenfalls Juan Cuadrado agieren, den Conte nach der einjährigen Leihe zu Juve wieder im Training erwartet und unlängst Hoffnung auf mehr Spielanteile machte.
Neapels Coulibaly neuer Wunschkandidat
Für die zentrale Verteidigerposition hatte Conte Ziehsohn Leonardo Bonucci vorgesehen, der bei Juve und in der Squadra Azzurra zu einem der besten Verteidiger Europas gereift ist. Doch der 29-Jährige steht kurz vor einer lukrativen Unterschrift bei Manchester City, wo ihm neben einem ähnlichen Gehalt von kolportierten acht Millionen, anders als in London, die Teilnahme in der Champions League winkt.
Deshalb hat sich Chelsea intern auf Kalidou Koulibaly festgelegt. Der 25-jährige Senegalese soll für 36 Millionen vom SSC Neapel losgeeist werden. Er könnte eine Schlüsselrolle in den Defensivplänen Contes einnehmen.
Bis dahin erhebt Kurt Zouma, der bis zu seiner schweren Knieverletzung mit guten Leistungen zu überzeugen wusste, den Anspruch auf einen Stammplatz. Völlig offen erscheint derzeit noch, welche Rolle Gary Cahill und Vereinslegende John Terry, der nochmals ein Jahr dranhängt, unter Conte einnehmen können und werden. "Terry ist der Kapitän dieses Klubs, ob er spielt oder nicht", sagte Conte bei seiner Vorstellung. Unumstrittene Stammkraft klingt anders.
Die größte Baustelle war bis Samstag jedoch die zentrale Position vor der Abwehr. Hier installiert Conte in der Regel einen ballsicheren und laufstarken Mittelfeldmotor. Bei Juve kam diese Rolle Arturo Vidal zu, der mit Claudio Marchiso und den zurückeilenden Außenstürmern quasi eine zweite Abwehrkette bildete. Diese Rolle soll in der kommenden Saison nun N'Golo Kante ausfüllen. Ein echter Box-to-Box-Spieler fehlte den Blues bisher.
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Nachdem man Wunschkandidat Radja Nainggolan nicht bekommen konnte, überwiesen die Verantwortlichen schließlich satte 38 Millionen Euro Richtung Leicester. Zu viel für einen zweikampfstarken Antreiber mit leichten technischen Mängeln und nur einer herausragend konstanten Saison auf der Habenseite?
Flüchtet Fabregas?
Cesc Fabregas war vergangene Saison meilenweit von der Form früherer Jahre entfernt, Laufstärke steht zudem nicht im Bewerbungsschreiben des Welt- und Europameisters. Englische Medien spekulieren nicht erst seit Kantes Verpflichtung, ob Conte den Spanier auf die Bank setzen wird. Denkbar ist auch ein Abschied.
Nemanja Matic wird seit Tagen mit Juventus in Verbindung gebracht, dem technisch limitierten John Obi Mikel kommt nach zahlreichen Verletzungen unter Conte wohl nur die Rolle des Ergänzungsspielers zu.
Bleibt noch der junge Ruben Loftus Cheek, der nach einer guten Rückrunde weiter an das Team herangeführt werden soll. Unter diesen Gesichtspunkten macht der Kante-Transfer Sinn. "Ein toller Spieler mit guter Technik und überragender Ausdauer. Wenn du gewinnen willst, brauchst du solche Spieler", sagte Conte, kurz nachdem der Deal bekannt wurde.
Grafik: Chelsea im 4-3-3. Für weitere Aufstellungsvarianten Bild anklicken
Der Brasilianer Willian, intern zum Spieler des Jahres gewählt, hat vor Wochenfrist bis 2020 verlängert und könnte von der linken Halbposition aus das Spiel ankurbeln. Im defensiven Umschaltspiel müsste er in dieser Formation jedoch deutlich mehr mitarbeiten als bisher.
Gegenüber streiten sich Pedro und Oscar um einen Startplatz, der sofort wegfällt, wenn Conte gegen offensivstarke Teams mehr Stabilität benötigt. Dann ergeben sich Chancen für Loftus-Cheek oder Mikel. Dennoch soll Conte intern bereits seine Wertschätzung für Oscar zum Ausdruck gebracht haben und ihn neben Diego Costa und Eden Hazard für unverkäuflich erklärt haben.
Von Hazard, der unter Hiddink gegen Ende der Saison wieder in Schwung kam und mit Belgien eine ordentliche EM spielte, erwarten nicht nur seine Landsleute mehr als das Attribut "ordentlich". Auch bei Chelsea fordern sie, dass einer der talentiertesten Spieler des Kaders endlich konstante Leistungen abruft.
Auch hier wird Antonio Conte gefordert sein. Der italienische Startrainer hatte zu seinem Amtsantritt betont: "Es ist wichtig für uns, Hazard technisch, taktisch und physisch wieder in Topform zu bringen."
Hazard käme im 4-3-3 als Linksaußen ein offensiverer Part zu, bei dem er nicht nur dynamisch nach innen ziehen, sondern auch von der Grundlinie aus flanken müsste. Ein wichtiges Stilmittel der neuen Blues: Denn in der vergangenen Spielrunde schlug nur Sunderland weniger Flanken (404) als Chelsea (406). Folgerichtig war die Torausbeute nach Flankenläufen mit fünf Treffern mickrig und ist mehr als ausbaufähig.
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Die rechte Sturmposition wäre im neuen System für Michy Batshuayi reserviert, der sich in der Ligue 1 für Olympique Marseille als abschlussfreudiges Phantom präsentierte. Denn hinter Zlatan Ibrahimovic (155) und Andy Delort (121) gab Spongebob zwar die meisten Torschüsse in der vergangenen Saison ab, nahm mit nur 36 Ballaktionen pro Spiel jedoch nur selten aktiv am Spielgeschehen teil.
Hier muss sich der Youngster deutlich weiterentwickeln, damit nicht nur seine Statistiken (17 Tore, 9 Vorlagen), sondern auch die Offensivdaten des Teams stimmen.
Lauffaule Blues müssen sich steigern
Auch in der Rückwärtsbewegung kommt auf die Außenstürmer unter Conte einiges zu. Nach Ballverlusten rücken, zumindest nach Conte Vorstellungen, beide Außenstürmer eine Reihe nach hinten in ein 4-2-3-1 System.
Ein laufintensives Spiel, an das sich die Blues erst gewöhnen müssen. Vergangene Saison war der Hauptstadtklub mit durchschnittlich erreichten 108 Kilometern pro Match lediglich auf Rang 17 der Liga. In anderen Systemen könnte Batshuayi, für den Chelsea 40 Millionen Euro an OM überwies, aber schnell die Bank oder Jokerrolle drohen.
Außerdem warten Bertrand Traore und Loic Remy auf Einsatzminuten. Letzterer könnte sich noch verabschieden, da Swanseas Andre Ayew in den Fokus der Blues gerückt ist. Laut der Sun hat man den Walisern bereits ein Angebot über 14,3 Millionen Euro gemacht. Zentral schein Diego Costa ohnehin gesetzt.
Abseits der Trainingsarbeit mit den arrivierten Kräften lohnt sich für Conte ein Blick auf die erfolgreiche Jugendakademie: Zweimal in Folge hat der FC Chelsea die Youth Champions League gewonnen. Vier Spieler aus dem Talentschuppen dürfte Conte dabei mittelfristig bereits auf seinem Zettel haben. Zum einen die beiden Angreifer Dominic Solanke (18) und Isaiah Brown (19), die in der vergangenen Saison an den Kooperationsklub Vitesse Arnheim ausgeliehen waren.
Genügend Spielzeit erhielten beide. Solanke, der körperlich noch zulegen muss, erzielte in 25 Einsätzen immerhin bereits sieben Treffer, bevor er sich mit Achillessehnenproblemen herumplagte.
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Zum anderen ist da noch Verteidiger Fikayo Tomori. Er wurde zum Spieler des Jahres der Akademie gewählt, gewann neben der Champions League auch den FA Cup. Zusammen mit Stoßstürmer Tammy Abraham, der wie Tomori bereits schon in die Premier League reinschnuppern durfte, gilt er als die Nachwuchshoffnung der Blues.
Contes Nachwuchsasse bei der U19-EM
Alle vier Akteure sind Teil der Nationalmannschaft, die in diesen Tagen an der U19-EM in Deutschland teilnimmt. Ob sie danach ausgeliehen werden, oder der ein oder andere bereits eine Chance erhält, werden sich Conte und seine Assistenten nach der EM genau anschauen.
Antonio Conte bleibt in diesem Sommer nicht viel Zeit, um all diese Aufgaben zu erledigen und die Vorschusslorbeeren umzusetzen und bereits zum Start der Premier League auf den Platz zu bekommen. Einige seiner Spieler befinden sich ohnehin noch im Euro-Urlaub. Andere große Premier League Klubs haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen.
Doch auch sie haben gute Schneider, würde Antonio Conte wohl sagen: Signore Mourinho, Signore Guardiola, Signore Klopp, um nur die größten Namen zu nennen. Sie alle wollen den besten und strapazierfähigsten Anzug entwerfen.