Craig Harrison überstand eine Verletzung, die man sich nicht einmal vorstellen will. Er zog sich aus dem Sumpf von Depression und Einsamkeit und führte die walisische Mannschaft The New Saints zu einer Siegesserie, die einen 44 Jahre alten Weltrekord von Ajax Amsterdam gebrochen hat.
Ein junger englischer Fußballer, Teamkollege vom späten Paul Gascoigne, eine Horror-Verletzung, Karriereende, Depressionen und tagelange Saufgelage. Dann: die Liebe seines Lebens, eine schicksalhafte Begegnung mit einem Gitarristen und ein neuer Weg, an dessen vorläufigem Ende ein 44 Jahre alter Fabelweltrekord von Ajax Amsterdam fällt.
Das ist nicht die Storyline des neuen Guy-Ritchie-Blockbusters. Es sind die Eckpunkte der letzten zwanzig Jahre im Leben von Craig Harrison und die erzählen die Geschichte eines Mannes, der die Liebe zum Fußball schon völlig verloren hatte, bevor sie ihn unverhofft wieder einholte.
Craig Harrison stammt aus der kleinen Stadt Gateshead ganz im Nordosten Englands. Wie der ungleich bekanntere Sohn der Stadt, Paul Gascoigne, lernte er das Kicken beim kleinen Klub Redheugh FC. Zu Beginn seiner Profikarriere spielte er eine kurze Weile sogar mit dem zehn Jahre älteren, stets zwischen Genie und Wahnsinn pendelnden Dribbler in einem Team. Spricht Harrison heute von dieser Zeit, kommt es einem vor, als ginge es um ein früheres Leben.
Zwei Leben: Von Paul Gascoigne zum Weltrekord
imago"Ich musste mich selbst kneifen. Mit einem meiner absoluten Lieblingsspieler Zeit zu verbringen. Ich denke heute noch daran, dass ich beim gleichen Jugendverein wie einer der besten Fußballer Englands spielte und dann am Ende seiner Karriere sogar mit ihm zusammen", schildert der 39-Jährige dem Guardian-Reporter Stuart James seine Zeit beim FC Middlesbrough und kramt in scheinbar weit entfernten Erinnerungen: "Seine beste Phase als Spieler war vorbei und persönlich hatte er viele Probleme, wie wir jetzt wissen. Aber er war so ein netter Typ."In der Gegenwart ist Harrison Trainer von The New Saints FC aus Oswestry, dem Tabellenführer der walisischen Premier League. Am 30. Dezember 2016 gelang Harrison mit TNS, wie der Klub kurz genannt wird, etwas Einzigartiges: Mit einem 2:0-Auswärtssieg gegen die Cefn Druids schaffte der Klub wettbewerbsübergreifend den 27. Sieg in Folge und beerdigte damit den 1972 von Johan Cruyff, Johan Neeskens und Arie Haan mit Ajax aufgestellten Uralt-Weltrekord. Craig Harrison war plötzlich wieder ganz oben, doch der Weg dahin war dunkel und lang und hätte gut und gerne ganz anders enden können.
Fatales Laufduell
Das einschneidende Erlebnis, das Harrisons Leben auf den Kopf stellte und es seitdem in "davor" und "danach" teilt, ereignete sich am 9. Januar 2002. Harrison spielte inzwischen bei Crystal Palace und hatte sich gerade von einer ausgekugelten Schulter erholt. In der Zweitvertretung sollte er gegen Reading Spielpraxis sammeln. Der robuste Linksverteidiger, der ab und zu als Innenverteidiger aushalf und ein gepflegtes Tackling wertschätzte, lieferte sich ein hitziges Privatduell mit einem Reading-Spieler, als einer der Sprints um den Ball folgenschwere Konsequenzen hatte.
"Wir gerieten beide in einen Zweikampf, den man heute wohl für lächerlich halten würde. Ich glaube nicht, dass einer von uns den Ball erwischte und es ging vielleicht um eine hundertstel Sekunde, ob er oder ich es geschafft hätte. Leider hat er es übertrieben und mich genau am Schien- und Wadenbein erwischt. Die Knochen kamen vorne und zur Seite raus", erinnert sich Harrison drastisch plastisch an die Szene. "Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, ich bin gegrätscht und am Boden dachte ich: 'Irgendwas stimmt hier nicht.' Ich konnte meinen Fuß hin und her wabbeln sehen." spox
Harrison wurde sofort operiert. Zusätzlich zum offenen Bruch waren auch die Sehnen gerissen. Sein linkes Bein war komplett kaputt, eine Rückkehr schien von Anfang an ein sehr optimistisches Unterfangen. Doch 15 Monate, weitere Operationen, eine Knochentransplantation aus der Hüfte und unfassbar vielen Schmerzen später stand fest: Craig Harrisons Karriere ist mit nur 25 Jahren vorbei - zu diesem Zeitpunkt fast schon eine Erleichterung nach all den Torturen, der Hoffnung und den unzähligen Rückschlägen: "Wenigstens wusste ich dann, was Sache war."
"Besäufnisse - bis ich gar nicht mehr nach Hause gegangen bin"
Es folgten vier dunkle Jahre. Harrison ging zurück in seine Heimat, den Nordosten, streifte ziel- und antriebslos umher, unfähig mit der Tatsache umzugehen, nie wieder Fußball spielen zu können. "Ich hatte eine richtig schlimme Phase. Ich litt an Depressionen, ohne Zweifel. Ich will das nicht über-dramatisieren, aber die beste Art es in meinem Kopf zu beschreiben ist, dass es wie ein Verlust bei einem Todesfall war", erklärt Harrison im Guardian.
Durch eine Versicherung war er finanziell zwar abgesichert, aber psychisch und gesundheitlich manövrierte er sich an den Rand des Abgrunds. Es habe Zeiten gegeben, in denen er zwei oder drei Tage ausgegangen sei, um zu trinken, "Besäufnisse - bis zu dem Punkt, dass ich gar nicht mehr nach Hause gegangen bin, in einen Laden, um neue Klamotten zu kaufen, ins Hotel und dann wieder auf die Piste."
Depression und Alkoholismus führten soweit, dass Harrisons große Leidenschaft, der Fußball, keine Rolle mehr in seinem Leben spielte und Einsamkeit seine Existenz umfing. "Ich hatte überhaupt kein Interesse an Fußball. Es dauerte zwei oder drei Jahre, bis ich mir nach der Verletzung wieder ein Spiel live angeschaut habe."
Weihnachten - allein mit Bohnen auf Toast
Wenn ihm gegenüber jemand zu dieser Zeit einen Trainer- oder Managerjob erwähnt hätte, wäre es das Schlimmste gewesen, an das er hätte denken können, sagt er heute. "Rückblickend war ich total verloren. Es gab zwei Weihnachten, an denen ich allein daheim geblieben bin und Bohnen auf Toast gegessen habe - weil ich es so wollte", zeichnet Harrison ein düsteres Bild seines damaligen Zustands.
Betrachtet man heute, 15 Jahre nach der folgenschweren Verletzung, Harrisons linkes Bein, klafft nach wie vor ein großer, vernarbter Krater darin wie ein Mahnmal, das ihn auf ewig an diesen Wendepunkt erinnern wird. Doch die psychischen Wunden sind verheilt und Harrison hat seine Lebensfreude und auch die Liebe zum Fußball zurückgewonnen. Dabei halfen ihm Danielle, mit der er inzwischen verheiratet ist, seine Familie, Freunde und eine große Portion Zufall und Glück.
Der Schicksalsengel: ein Gitarre spielender Fußballtrainer
Zu seinem dreißigsten Geburtstag buchte Danielle eine Band für die Party. Der Gitarrist der Combo war Gareth Owens, zu diesem Zeitpunkt Spielertrainer bei Airbus UK Broughton in der walisischen Premier League. Als der die Collage mit Bildern aus Harrisons aktiver Karriere sah, die Danielle für ihn zusammengestellt hatte, erzählte er ihm, er suche einen Assistenten. Harrison war nicht sonderlich begeistert und dachte außerdem, Owens wolle nur nett sein.
Einen Monat später unterlag er Danielles Überredungskünsten, meldete sich doch noch bei Owens, bekam den Job und übernahm am Ende der Saison als Cheftrainer, weil Owens den Verein verließ. "Es war, als sei ein Hebel in mir umgelegt worden", sagt Harrison heute. Plötzlich war er wieder mittendrin im Fußballgeschäft, machte Trainerkurse und entwickelte einen neuen, unbändigen Ehrgeiz, der ihn zurück ins Leben trieb.
Der Weltrekord
Nun ist Craig Harrison wieder da und maschiert mit beiden Beinen auf einem neuen Weg. 2011 wechselte er zu TNS, mit denen er seit 2012 fünfmal in Folge walisischer Meister wurde und kurz davor steht, zum dritten Mal in Folge sogar das Triple aus Pokal, Ligapokal und Meisterschaft zu gewinnen. Der geschichtsträchtige Höhepunkt dieses neuen Kapitels in Harrisons bewegter Lebensgeschichte war die unglaubliche Siegesserie von 27 Spielen in Folge, wettbewerbsübergreifend: ein Weltrekord, den Ajax Amsterdam unglaubliche 44 Jahre lang innehatte.
Zwar hatte der schottische Fünftligist East Kilbride nur Monate zuvor dieselbe Anzahl an Siegen erreicht, doch der offizielle Guinness Weltrekord gilt nur für Klubs, die in der höchsten Liga ihres Landes spielen. So oder so, eine herausragende Leistung. Fernsehteams aus allen Ecken des Landes waren beim historischen 2:0-Sieg gegen die Druids zu Gast im Stadion der New Saints, in dem sich ansonsten meist nur rund 300 Fans einfinden. Auch Ajax Amsterdam gratulierte via Twitter.
Wie schnell es nämlich gehen kann, zeigt, dass TNS schon im nächsten Match nach dem Rekord, zwei Wochen später gegen Newtown, nur 3:3-Unentschieden spielte. Es war also nichts mit dem Vorsatz den Rekord bis über 30 Spiele auszuweiten.
Ein Mann für höhere Aufgaben?
Craig Harrison wird sich nicht lange gegrämt haben. Am 21. Januar holte er mit seiner Mannschaft durch ein 4:0 im Finale den Nathaniel MG Cup. Außerdem hat er längst höhere Ziele als die walisische Liga. "Ich habe keinen Hehl daraus gemacht: Ich bin ein ehrgeiziger Mensch."
Was er mit TNS erreicht hat, sei nicht im Vorbeigehen passiert, sagt er selbstbewusst und denkt schon einen Schritt weiter. Trotz der hervorragenden Grundlagen sei der Erfolg ein Puzzle gewesen, das er zusammengesetzt habe "mit dem Trainerstab, Sportwissenschaft, Spielanalyse, Spielerverpflichtungen und Spielstil - alles Dinge, die woandershin übertragbar sind und dort erfolgreich wären. Alles was ich von der Zukunft erhoffe, ist diese Möglichkeit zu bekommen."
Diese Möglichkeit wird sich Craig Harrison nicht entgehen lassen, sollte sie kommen. Und wenn nicht, dann erinnert ihn das Mahnmal an seinem linken Bein daran, dass er das Wichtigste schon wiedergefunden hat: seine Lebensfreude.