Der Start ins WM-Jahr wirkt ruckelig wie noch nie in der Amtszeit von Bundestrainer Joachim Löw. Derzeit scheinen nur wenige Spieler gesetzt - der große Rest spielt auf Bewährung. Eine Bestandsaufnahme vor dem ersten Testspiel gegen Chile.
Joachim Löws Gedächtnisstütze hatte es wahrlich in sich am Montag. Der Bundestrainer hatte Inhalt und Schärfe seines Vortrags bewusst gewählt, um 100 Tage vor Beginn der Weltmeisterschaft in Brasilien noch einmal zu verdeutlichen: Sicher ist nur, dass sich kaum einer sicher sein kann.
Löw biegt zum vierten Mal in seiner Amtszeit in ein Jahr ein, das in einem Großereignis mündet. So ungewiss wie jetzt war der Auftakt für den Bundestrainer aber noch nie. Kleine und große Verletzungssorgen plagen Löw, einige seiner Spieler sind zwar mittlerweile wieder gesund, deshalb aber noch nicht in absoluter Wettkampfverfassung.
"Acht, neun Spieler haben lange nicht gespielt. Sie haben keinen Rhythmus. Bei einigen ist es fraglich, ob sie überhaupt rechtzeitig zurückkommen. Das macht mir Sorgen und bereitet mir Kopfzerbrechen", gesteht Löw.
Deutschlands Start ins WM-Jahr: Weckruf im Museum
Für einige Spieler wird die Zeit knapp bis zum ersten Spiel gegen Portugal. Da passt es Löw gar nicht, dass er einige andere ausgemacht haben will, die sich in den letzten Wochen offenbar zu sicher waren in ihrer Nominierung.
"Es gibt einige Spieler, die nicht in der absoluten Topform sind, die sie für das Turnier brauchen. Einige haben bis zum heutigen Zeitpunkt keinen guten Rhythmus. Die Spieler müssen alles dafür tun, um in Topform zu kommen."
Es wird am 8. Mai, wenn Löw seinen vorläufigen Kader bekanntgeben wird, zu einigen sehr harten Entscheidungen kommen. Das kündigte der Bundestrainer jetzt bereits an. "Es wird Entscheidungen geben, die Spielern auch wehtun werden!"
Derzeit gibt es nicht viele Akteure, die unumstritten sind und definitiv das Gerüst der Mannschaft bilden könnten. Probleme gibt es in allen Mannschaftsteilen. Eine Übersicht.
Die Torhüter
Manuel Neuer ist selbstverständlich gesetzt und die Nummer eins. Der Bayern-Torhüter hat sich in dieser Saison noch einmal gesteigert. Hatte er in der abgelaufenen Spielzeit durchaus noch die eine oder andere unglückliche Aktion, spielt er nun nahezu fehlerlos. Das ist insofern besonders bemerkenswert, weil er bei den Bayern in seinem Kerngebiet nur selten gefordert ist, dann aber absolut verlässlich reagiert.
Hinter Neuer sind die Plätze zwei und drei aber heftig umkämpft. In der Vergangenheit war es fast immer so, dass sich der Bundestrainer auf zwei sichere Kandidaten verlassen konnte und ausschließlich bei der Wahl der Nummer drei noch variieren und teilweise auch experimentieren konnte.
Vor dieser WM balgen sich aber gleich fünf Torhüter um zwei Plätze. Rene Adler hat dabei die besten Chancen auf die Nummer zwei. Der Hamburger hat eine lange DFB-Vergangenheit, sollte bei der WM vor vier Jahren als Stammkeeper ins Turnier gehen - bis ihn eine Rippenverletzung den Trip nach Südafrika gekostet hat.
Adler hat bei Bundestorwarttrainer Andreas Köpke das beste Standing, aber der Hamburger hat in dieser Saison mit seinem Klub auch massive Probleme. Adler hält ordentlich, leistete sich aber auch schon einige schlimme Patzer. Die Situation und der ungewisse Ausgang des Abstiegskampfs lassen hinter Adler ein Fragezeichen zurück.
Ähnlich routiniert wie Adler ist Roman Weidenfeller. Der Dortmunder legt eine gute Saison hin, wenngleich auch nicht mehr ganz so spektakulär wie noch im letzten Jahr. Zuletzt hatte sich Weidenfeller kaum noch zum Thema DFB und WM geäußert, der Dortmunder will sich bewusst rausnehmen aus jeglicher Diskussion.
Sein Vorteil könnte gleichzeitig auch ein Nachteil sein: Es gilt als ziemlich sicher, dass Löw zumindest einen Routinier hinter Neuer dabei haben will. Weidenfeller passt da ins Raster - Adler aber auch. Und im Vergleich zum Hamburger weist Weidenfeller deutlich weniger Erfahrung im DFB-Umfeld auf.
Bleiben noch die Kronprinzen Marc-Andre ter Stegen, Ron-Robert Zieler und Bernd Leno. Richtig überragend hält in dieser Saison keiner der drei, ter Stegen leistet sich zwischen starken Aktionen gerne auch mal einen leichtsinnigen Fehler. Zieler und Leno spielen nüchterner und nicht so risikoreich wie der Gladbacher, fallen damit aber nicht so auf. Zudem ist Leno eigentlich noch fester Bestandteil der U 21. Was alle drei eint: Derzeit läuft es im Klub alles andere als gut.
Wohl auch an das Trio richtet sich Löws Mahnung: "Wir haben im Moment noch ein paar Probleme. Einige Spieler sind noch nicht in der Top-Form, die man bei der WM braucht."
Fazit: Weil aber ohnehin immer nur ein Torhüter spielen kann, Neuer gesund ist und überragend hält und zur Not auch sehr ordentliche Alternativen bereit stünden, ist die Torhüterposition im Land der Torhüter einmal mehr das kleinste Problem.
Die Abwehr
Das Notstandsgebiet, Teil eins. Gesetzt sind eigentlich Per Mertesacker, Mats Hummels, Jerome Boateng und Benedikt Höwedes. Dahinter wird es aber schon dünn. Heiko Westermann wird vom Bundestrainer immer wieder in den Dunstkreis der Nationalmannschaft gebracht. Die Leistungen des Hamburgers in dieser Saison rechtfertigen dies allerdings in keiner Weise.
Holger Badstuber hat sich gleich zweimal das Kreuzband gerissen und wird die WM verpassen. Philipp Wollscheid saß zunächst in Leverkusen nur auf der Bank und schliddert derzeit mit Bayer immer tiefer in die Krise. Blieben als Alternative noch Matthias Ginter und Shkodran Mustafi. Beide noch ohne Länderspiel und jetzt das erste Mal überhaupt dabei.
Die Alternativen müssen deshalb so eindringlich diskutiert und getestet werden, weil Löw sich nicht darauf verlassen kann und darf, dass etwa Hummels bis zur WM endlich gesund bleibt und seine Form wieder findet. Auch Höwedes war zuletzt immer wieder angeschlagen und ist nicht im Spielrhythmus.
Hummels fehlte dem BVB fast drei Monate wegen eines knöchernen Bandausrisses. Erst die nächsten Wochen werden zeigen, ob und wie schnell der Innenverteidiger seine Bestform erreichen kann. Die Dreifachbelastung im Verein könnte den zuletzt etwas verletzungsanfälligen Hummels Fluch und Segen zugleich sein.
Deutlich schlimmer ist die Lage für den Bundestrainer auf den Außenverteidigerpositionen. Links ist Marcel Schmelzer zwar gesetzt, der Dortmunder spielt aber eine allenfalls durchschnittliche Saison bisher. Dahinter breitet sich die gähnende Leere aus. Marcell Jansen bleibt ein Kandidat - aber ähnlich wie Schmelzer auch nicht wegen seiner besonders positiven Leistungen bisher, sondern weil es schlicht an Alternativen mangelt.
Auf der rechten Seite deutet einiges darauf hin, dass in Abwesenheit vom Philipp Lahm ein gelernter offensiver Mittelfeldspieler derzeit die besten Karten hat. Kevin Großkreutz hat in der Vorrunde beim BVB bewiesen, wie wandlungsfähig er ist und dass er sich schnell und auf einem hohen Level auch in eine Position in der Viererkette einfügen kann. Nicht umsonst wird Löw den Dortmunder heute Abend gegen Chile als rechtes Glied der Abwehr testen.
Lars Bender hat bereits bewiesen, dass er die Position ausfüllen könnte; auch unter großem Druck. Das Aber: Bender steckt wie sein Klub Bayer 04 in der Krise, läuft seiner Form derzeit weit hinterher.
Dahinter blieben allenfalls und mit sehr viel gutem Willen noch Sebastian Jung oder aber der ewige Westermann als Optionen. Jung hat nach einer starken Saison zuletzt in dieser Spielzeit aber mit einigen Tiefen und auch Verletzungen zu kämpfen.
Fazit: Die drei großen Fragezeichen bleiben Löw wohl noch lange erhalten: Wohin mit Kapitän Lahm? Wie sieht die Besetzung der Außenbahnen aus? Wie kann Löw mit Hummels in der Zentrale planen?
Das Mittelfeld
Das Nostandsgebiet, Teil zwei. "Wir sind noch nicht in der Lage zu sagen: Diese 23 Spieler bilden den Kader", sagt Löw. Derzeit wäre er noch nicht mal in der Lage, das vermutlich neun Spieler umfassende Mittelfeld zu benennen.
Gesetzt und fit sind derzeit Lahm, Toni Kroos und Bastian Schweinsteiger für die (defensive) Zentrale. Wobei es bei zwei der drei auch Vorbehalte gibt: Soll Löw seinen Kapitän Lahm wirklich ins Herzstück der Mannschaft verschieben und damit zwangsläufig eine Baustelle in der Abwehr aufmachen? Und wie schnell findet Schweinsteiger zur absoluten Topform? Denn nur so kann er der Mannschaft auch helfen. Das haben die Erfahrungen der letzten EM mit einem nicht fitten Schweinsteiger gezeigt.
Dazu gibt es eine ganze Reihe prominenter Wackelkandidaten: Ilkay Gündogan, Sami Khedira und Sven Bender sind entweder schon lange verletzt oder fallen noch lange Zeit aus oder sogar beides. Das ehemalige Prunkstück der deutschen Mannschaft krankt. Die beiden Spieler, auf die Löw unter allen Umständen nicht verzichten wollte, sind Gündogan und Khedira.
"Wir brauchen Spieler, die hundertprozentig fit sind. Es gibt aber auch Spieler, die 80 oder 90 Prozent fit sind, und trotzdem einen Mehrwert für die Mannschaft bringen", sagt Löw über Khedira, für den er sogar eine Ausnahme machen würde, nur absolut fitte und voll belastbare Spieler mit nach Brasilien zu nehmen.
Immerhin gibt es Grund für etwas Optimismus. Khediras Genesung schreitet schneller voran als gedacht. "Ich glaube, dass er in den nächsten 15 bis 20 Tagen in Madrid wieder mit der Mannschaft arbeiten kann", sagt Real-Coach Carlo Ancelotti.
Khediras Plus im Gegensatz zu Gündogan: Der ehemalige Stuttgarter hat eine klar diagnostizierte Verletzung mit geregeltem Heilungsverlauf. Da fällt die Prognose über eine Rückkehr leichter als bei Gündogan.
"Es ist nicht leicht, darüber eine Prognose abzugeben", sagt Dortmunds Sportdirektor Michael Zorc. Gündogan leidet an Rückenbeschwerden, leichtes Lauftraining ist derzeit das Äußerste, das er sich zutrauen kann. Wenige Wochen waren für eine Rückkehr veranschlagt. Mittlerweile fällt der spielstärkste deutsche Sechser schon über ein halbes Jahr aus. "Das ist eine knallharte Phase, die härteste in meiner Karriere bisher", sagt Gündogan selbst.
Ob und wann er wieder zurückkehren wird, ist momentan völlig unklar. Löw hofft inständig auf die Genesung seines Mittelfeldspielers, wobei die Hoffnung mit jeder Woche ein Stück weiter schwindet. "Ich hoffe noch auf ihn, aber ob es reicht, weiß ich jetzt noch nicht. Da bin ich ein Stück weit überfragt", sagt Löw.
Entspannter als im defensiven Zentrum ist die Lage in der Mittelfeldoffensive. Thomas Müller, Marco Reus, Lukas Podolski, Julian Draxler, Andre Schürrle und Mesut Özil sind derzeit fit und im Spielbetrieb. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Nicht jeder der Kandidaten erreicht derzeit seine Topform. Müller ist zwar leicht angeschlagen, wird aber schon sehr bald wieder mitmischen können.
Der Bayern-Spieler hat wie Reus in dieser Saison schon sehr starke Phasen gehabt und dürfte sich rechtzeitig zur WM auch wieder auf das entsprechende Level bringen. Podolski war in der Vorrunde lange verletzt und kämpft sich bei Arsenal wieder an die Stammformation heran. Schürrle sitzt beim FC Chelsea nach guten Start derzeit etwas zu oft auf der Bank.
Draxler hat in der Rückrunde noch gar nicht Fuß gefasst und zuletzt auf hohem Niveau gegen Real und die Bayern komplett enttäuscht. Der Schalker bestimmte die Schlagzeilen in den vergangenen Wochen nicht wegen seiner sportlichen Leistungen, sondern füllte anderweitig die Gazetten. Womöglich sind auch an ihn Löws mahnende Worte gerichtet, wenn der sagt: "Die Uhr tickt - und nur der, der sie hört, wird eine Chance haben. Die Zeit bis zum Turnier wird für die Spieler mindestens genauso hart wie das Turnier selbst."
Beim Bundestrainer unumstritten, aber derzeit weit von seiner besten Form entfernt, ist Özil. Die Diskussionen, wie wichtig der Spielmacher in Spielen gegen Top-Gegner sein kann, nahmen nach dem 0:2 des FC Arsenal gegen die Bayern neue Fahrt auf. Auf der anderen Seite muss man auch sehen, dass ein Leistungseinbruch bei einem Spieler, der in einem neuen Land und einer neuen Mannschaft Fuß fassen soll, nach einigen Monaten auch völlig normal ist.
Fazit: Der eigentlich völlig überfüllte Mannschaftsteil ist erheblich ausgedünnt. Löw hat viele offene Fragen, auf die er sich in den nächsten Wochen die entsprechenden Antworten erhofft. "Auf dem Papier haben wir eine Top-Mannschaft mit Top-Qualität und Top-Individualisten. Die Realität sieht anders aus", sagt er. Und das völlig zu Recht.
Der Angriff
Das Notstandsgebiet, Teil drei. Mario Gomez hat in Florenz quasi die gesamte Vorrunde verpasst, ist erst vor wenigen Tagen wieder auf den Platz zurückgekehrt. Gomez merkt man die lange Pause an, ihm fehlt es noch gewaltig an Spritzigkeit und Timing in den entscheidenden Situationen. Gomez absolvierte in der gesamten WM-Qualifikation keine einzige Minute für die DFB-Auswahl, er fängt bei Löw quasi wieder bei Null an.
Als Gomez' Verletzung im September bekannt wurde, reagierte der Bundestrainer noch gelassen darauf: "Es gibt genügend Alternativen." Die sind im Moment aber auch rar gesät. Miroslav Klose ist ebenso wie Gomez gesetzt - sofern er gesund und zu hundert Prozent fit wird. Für den dann 36-jährigen Klose soll die WM der Abschluss einer langen Karriere werden, der Torrekord von Ronaldo (15 Treffer) ist ein weiteres großes Ziel von Klose (14 Tore).
Dafür muss der Lazio-Star aber über einen längeren Zeitraum auch fit bleiben. Zum Nationalteam reiste er mit einer leichten Reizung der Bauchmuskulatur an, er soll nach dem Ausfall von Pierre-Michel Lasogga aber gegen Chile auflaufen.
In den letzten Monaten plagten ihn immer wieder kleinere Blessuren, Klose ist auch deshalb immer noch auf der Suche nach seiner Form. "Bei einer WM ist man nicht automatisch dabei", sagt Löw. Allerdings hat Klose immer wieder bewiesen, dass er sich rechtzeitig vor und für ein großes Turnier auch in Form bringen kann.
Hinter den beiden klassischen Stoßstürmern bleiben Löw noch andere Alternativen. Die wahrscheinlichste ist Mario Götze. Mittlerweile hat Löw eine Ausrichtung ohne "echte" Spitze bereits mehrfach ausprobiert, mit Götze als Zielspieler vorne drin. Der Bayer ist in guter Verfassung und für die WM definitiv gesetzt. Wo Götze dann eingesetzt wird, hängt auch stark von den Personalien Gomez und Klose ab.
Dahinter lauern Sidney Sam, Max Kruse und vielleicht noch Kevin Volland. Lasogga dürfte auf Grund seines Spielstils allenfalls geringe Chancen haben, wenn sich Gomez oder Klose oder sogar beide abmelden sollten. Sam hat nach einer starken Vorrunde zuletzt ebenso stark nachgelassen. Ein Muskelfaserriss hat ihn den Rückrundenauftakt gekostet und seitdem rennt Sam seiner Form weit hinterher.
Kruse spielt bei Borussia Mönchengladbach zwar ordentlich, ist aber ähnlich wie Sam in der Rückrunde auch in ein Loch gefallen. Seit acht Spielen wartet Kruse auf ein Tor, zuletzt traf er Anfang Dezember gegen Schalke. Auf Grund seiner sehr variablen Spielanlage besitzt Kruse, der auch bei seinen bisherigen Auftritten im DFB-Dress zu gefallen wusste, aber noch einen Bonus.
Ein kleiner Geheimtipp ist U-21-Kapitän Volland. Der ist fit, war kaum verletzt, ist körperlich robust und scheint auch deshalb wie geschaffen für das "Turnier der Urkräfte", wie Löw die zu erwartenden Strapazen in Brasilien gerne umschreibt.
Fazit: Die Masse ist da. Es fehlt derzeit aber an der entsprechenden Klasse. Die hätten Klose und Gomez allemal - nur müssen sie langsam auch ihre Form steigern. Die Optionen abseits des bewährten Duos sind da. Aber sie sind zum einen nicht im Überfluss vorhanden und zum anderen nicht erprobt in der Bewältigung eines großen Turniers. "Wir haben jetzt die Phase der Wahrheit und Klarheit begonnen", sagt Löw. "Für mich sind es keine 100 Tage mehr, sondern 70, bis die wichtige Entscheidung der Kadernominierung ansteht."
Der Kader für das Spiel gegen Chile