Ralf Becker führte Dynamo Dresden als Geschäftsführer zurück in die 2. Bundesliga, nachdem er zwei Jahre zuvor beim Hamburger SV entlassen wurde. Im Interview mit SPOX und Goal spricht der 51-Jährige über seine Zeit in Kiel und beim HSV, die Zusammenarbeit mit Fredi Bobic und das Verhältnis zwischen Führungsetage und Fans.
Herr Becker, Sie sind in der Region Stuttgart aufgewachsen, haben in der Jugend für den VfB gespielt und in Ihrer Blütezeit auch für die Stuttgarter Kickers auf dem Feld gestanden. Für welchen Verein schlägt Ihr Herz?
Ralf Becker: Früher waren die Verhältnisse in Stuttgart noch etwas anders. Eine Junioren-Bundesliga gab es noch nicht, also haben sich der VfB und die Kickers Jahr für Jahr duelliert. Aber der VfB war eigentlich immer die Nummer eins. Ich selbst bin zwar als VfB-Fan groß geworden, aber drücke trotzdem beiden Klubs die Daumen.
Als Spieler waren Sie bei Teams wie Leverkusen, St. Pauli oder eben den Stuttgarter Kickers. Dort aber nie länger als zwei Jahre. Erst beim SSV Reutlingen reichte es für über 100 Einsätze. Warum sind Sie nirgends so richtig angekommen?
Becker: Ich habe nach der Jugend vier Jahre in Ditzingen gespielt, das war schon lange. Bei Bayer Leverkusen war ich zwei Jahre und bei St. Pauli ein Jahr. Am Ende hat es aus verschiedenen Gründen nicht gereicht. Mit dem SSV Reutlingen sind wir später in die 2. Liga aufgestiegen, das war eine wunderschöne Zeit. Am Ende war die Sprunghaftigkeit gar nicht so groß.
SPOXIm März 1994 standen Sie mit Bayer Leverkusen an der Seite von Christian Wörns, Bernd Schuster oder auch Ulf Kirsten im Viertelfinale des UEFA-Cups. Ihr Gegner: Benfica Lissabon um den späteren Weltstar Rui Costa. Wie erinnern Sie sich?
Becker: Das war das absolute Highlight meiner Karriere. Ein Jahr zuvor war ich noch in der Regionalliga und dann direkt im Europacup. Damals war ja der Sprung von der dritten in die höchste Spielklasse auch noch ganz anders - der absolute Wahnsinn. Ich muss sagen, in der Zeit verarbeitet man die Dinge ganz anders, es ist einem nicht immer bewusst, was gerade passiert. Du willst dein Spiel spielen und nicht vor Ehrfurcht erstarren, nur weil das Stadion toll ist oder so viele Augen auf dich gerichtet sind. Mit ein bisschen Abstand bin ich aber extrem stolz, dass ich all das miterleben durfte.
Nach dem Karriereende blieben Sie beim Karlsruher SC, schafften dort als Co-Trainer sogar den Aufstieg in die Bundesliga. Was verbinden Sie mit der Zeit beim KSC?
Becker: Ich war damals verletzt und wusste, dass das mit der Karriere nichts mehr so richtig wird. Ich bin dann zu Lorenz-Günther Köstner gegangen (damals KSC-Trainer, Anm. d. Red.) und habe ihm gesagt, dass ich die Gegneranalyse übernehmen will. Während meiner Reha habe ich dann sehr viele Teams studiert und meinen Fußballlehrer gemacht. Für den dort erlebten Einstieg ins Berufsleben bin ich sehr dankbar.
Ralf Becker über den VfB: "Wir hatten wahnsinnig gute Spieler"
Später versuchten Sie sich noch als Cheftrainer beim SSV Ulm. Warum endete Ihre Karriere als Fußballtrainer 2010?
Becker: Irgendwann wollte mich der VfB Stuttgart als U19-Trainer holen, am Ende unserer Gespräche hat mir aber Fredi Bobic angeboten, einen langfristigen Vertrag als Chefscout abzuschließen, weil ich schon etwas Erfahrung mitbrachte. Eigentlich lief es als Trainer ganz gut, der SSV Ulm ist dann aber insolvent gegangen, zusätzlich hatte ich auch noch kleine Kinder - da lernt man auch mal die Schattenseiten des Fußballs kennen. Das Engagement beim VfB war zu diesem Zeitpunkt perspektivisch sicherer.
Als Chefscout hatten Sie beim VfB sicherlich auch ein Wort bei den Transfers von Bernd Leno, Timo Werner, Filip Kostic, Kevin Großkreutz oder auch Joshua Kimmich mitzureden.
Becker: Als Chefscout ging es in erster Linie um die Kaderplanung der Profimannschaft. 2012/13 hat der VfB die Abteilungen Scouting und Jugend zusammengeführt, die ich dann auch geleitet habe. Da habe ich diese Jungs natürlich begleitet, das war sehr spannend zu sehen. Wir hatten wahnsinnig gute Spieler, von denen sehr viele Nationalspieler geworden sind. Das spricht auch dafür, dass der VfB Stuttgart in diesem Bereich immer sehr gut gearbeitet hat.
Es blieb vorwiegend bei der Ausbildung. Warum sind diese Talente erst bei anderen Vereinen zu den Besten der Welt aufgestiegen?
Becker: Das ist natürlich komplex. Stuttgart war teilweise eher im unteren Tabellendrittel unterwegs. Und vor allem Abstiegskampf kann immer schwierig sein für die Entwicklung junger Spieler. Außerdem war zu dieser Zeit die Erwartungshaltung in Stuttgart sehr hoch. 2007 wurden Sie Deutscher Meister und waren viele Jahre lang in der Champions League unterwegs. Da wollte keiner akzeptieren, dass dieser Verein nur Zehnter der Bundesliga werden kann.
Vielleicht hat man im Verein verschiedene Dinge falsch eingeschätzt.
Becker: Fest steht, dass Spieler sich über Jahre weiterentwickeln - schade ist nur, dass es diese Jahre nicht beim VfB gab. Das ist aber auch eine ganz normale Erfahrung, die so gut wie jeder Verein einmal macht. Mittlerweile läuft es in Stuttgart sehr vernünftig, Sven Mislintat und Pellegrino Matarazzo machen da einen sehr guten Job. Sie gehen Schritt für Schritt.
IMAGO / RustWie scoutet man einen Filip Kostic?
Becker: In erster Linie muss man sich auf einige Märkte konzentrieren und schauen, dass man vor Ort gute Scouts hat. Teilweise kann man schon über Videoprogramme ein gewisses Vorscouting betreiben und dann überlegen, wo man jemanden zum Scouting hinschickt. Viel wichtiger ist aber der nächste Schritt: Den Spieler davon zu überzeugen, dass dein Verein der richtige für ihn ist. Wenn wir Dynamo Dresden verstärken wollen, entdecken wir keine Spieler, die keiner kennt. Es geht darum, eine Idee und ein Gefühl beim Spieler zu schaffen, dass er bei uns zur richtigen Zeit am richtigen Ort wäre. Wichtig ist, den Spieler zu überzeugen. Etwa durch Gespräche mit den Trainern und einer guten Präsentation der vereinseigenen Infrastruktur.
Kommen wir zurück zu Ihrer Geschichte. Direkt im Anschluss an Ihre Stuttgarter Zeit zog es Sie in den hohen Norden nach Kiel. Wieder in neuer Rolle und auf Anhieb erfolgreich: Dem Aufstieg in die 2. Bundesliga folgte beinahe der Durchmarsch ins Oberhaus. Hätten Sie damals mit diesem Erfolg gerechnet?
Becker: Absolut nicht. Holstein Kiel war ein gut aufgestellter Drittligaverein mit ehrgeizigen Zielen. Das große Ziel war der Schritt in die 2. Bundesliga, auf das haben wir uns total fokussiert. Nachdem wir aufgestiegen waren, haben wir unsere Mannschaft zusammengehalten und nur wenige Neuzugänge auf dem Platz gehabt. Ausschlaggebend war aber, dass wir über eine Euphorie in einen Lauf reingekommen sind. Wenn das passiert, sind die Unterschiede auch in dieser Liga nicht so groß. Der Aufstieg wäre die Krönung gewesen, aber unter dem Strich war für uns die Stabilisierung in der 2. Bundesliga am wichtigsten. Dabei habe ich gelernt, dass man ganz viel Power aus der Kabine herausholen kann und man das Team dann nur noch begleiten muss. Diese Denkweise ist Grundvoraussetzung, um eine langfristig erfolgreiche Entwicklung anzutreten.
Ralf Becker: Seine Stationen im Überblick
Station | Zeitraum | Rolle |
TSF Ditzingen | 1989 bis 1993 | Spieler |
Bayer 04 Leverkusen | 1993 bis 1995 | Spieler |
FC St. Pauli | 1995 bis 1996 | Spieler |
Stuttgarter Kickers | 1996 bis 1998 | Spieler |
TSF Ditzingen | 1998 bis 1999 | Spieler |
SSV Reutlingen 05 | 1999 bis 2003 | Spieler |
Karlsruher SC | 2003 bis 2006 | Spieler |
Karlsruher SC | 2006 bis 2009 | Co-Trainer |
SSV Ulm 1846 | 2009 bis 2010 | Cheftrainer |
VfB Stuttgart | 2011 bis 2016 | Leiter Junioren & Scouting / Chefscout |
Holstein Kiel | 2016 bis 2018 | Geschäftsführer Sport |
Hamburger SV | 2018 bis 2019 | Sportvorstand |
SG Dynamo Dresden | seit 2020 | Geschäftsführer |
2018 wagten Sie noch einmal einen Sprung nach oben. Beim frisch abgestiegenen Bundesliga-Dino aus Hamburg unterschrieben Sie als Geschäftsführer. Im Nachhinein die richtige Entscheidung?
Becker: Grundsätzlich würde ich diese Entscheidung immer wieder treffen. Klar ist der HSV speziell, aber insgesamt ist das ein fantastischer Verein. Als die Anfrage kam, habe ich mit großer Leidenschaft und Euphorie zugesagt. Da denkt man dann weniger über Gefahren nach, sondern man stürzt sich darauf, wenn man davon überzeugt ist.
Welche Dinge haben Sie bei Ihrer Arbeit bestärkt?
Becker: In Kiel hatten wir zwei sehr erfolgreiche Jahre und diese Selbstüberzeugung habe ich dann einfach mit nach Hamburg genommen. Auch mit dem Wissen, dass in Hamburg einige Dinge anders waren - vor allem medial und der Einfluss von außen.
Der HSV startete ordentlich in seine erste Zweitligasaison und stand nach zehn Spielen zwei Punkte hinter der Tabellenspitze. Daraufhin entließen Sie den einstigen Hoffnungsträger Titz aus seinem Amt als Cheftrainer. Würden Sie heute anders handeln?
Becker: Wir waren damals davon überzeugt, dass es der richtige Schritt war. Mit zwei, drei Jahren mehr Erfahrung habe ich jedoch gemerkt, dass man auch mal etwas länger abwarten sollte. Wenn ich heute nach Magdeburg schaue, sehe ich, dass Christian dort einen super Job macht. Damals in Hamburg habe ich versucht abzuwägen, mit welcher Entscheidung die Wahrscheinlichkeit, am Ende aufzusteigen, am größten sein könnte. Unter seinem Nachfolger Hannes Wolf lief es bis zum Winter auch sehr gut.
IMAGO / Sportfoto RudelHat Sie Ihre eigene Entlassung ein halbes Jahr später damals enttäuscht?
Becker: Na klar, ich glaube, das ist auch normal. Ich habe einen Dreijahresvertrag unterschrieben, wir standen in dem Jahr sogar im Pokalhalbfinale. Da würde ich lügen, wenn ich sagen würde, es hat mich gefreut.
Ralf Becker: Rostock, Aue, Dynamo? "Das ist noch Fußball pur"
Wie haben Sie den öffentlichen Druck während Ihrer Arbeit in Hamburg wahrgenommen?
Becker: Ich glaube, dass ich mit Druck ganz gut umgehen kann. Ich bin schon eine Weile dabei und habe demzufolge auch die Emotionalität dieses Sports kennengelernt. Wenn man es nicht schafft, das einzuordnen, kann das auch für die Gesundheit schwierig werden. Ich versuche, fleißig zu sein und alles zu überdenken - immer mit dem Wissen, dass es auch mal nicht funktionieren kann. Das gehört einfach dazu.
Im Juli 2020 dann also der Neustart bei Dynamo. Warum haben Sie sich für Dresden entschieden?
Becker: Dynamo ist ein unglaublich spannender Klub. Hier wird Fußball so gelebt, wie ich es tue. In Dresden gibt es eine unheimlich große Euphorie um den Fußball, dazu eine gute Atmosphäre und großartige Unterstützung. Ohne, dass ich vorher Zahlen oder Interna kannte, hatte ich sofort das Gefühl, dass man in Dresden einiges bewegen kann.
Dresden ist Ihre erste Station im Osten Deutschlands. Wie nehmen Sie die Fußballkultur in den neuen Bundesländern wahr?
Becker: Ich würde mich nach 14 Monaten in Dresden nicht als Experten für dieses Thema betrachten. Man merkt aber, dass es eine große Verbindung zwischen dem Verein und der Fangemeinde gibt. Leipzig ist vielleicht ein anderes Modell, aber diese Traditionsvereine von früher wie Rostock, Aue, Magdeburg oder eben auch Dresden - das ist in gewisser Weise noch Fußball pur.
Fußball pur ist auch Ihr Vorgänger Ralf Minge. Er wurde bereits als aktiver Spieler in Dresden verehrt. Wie tritt man eine solche Stelle an, wenn man weiß, dass der Vorgänger Legendenstatus besitzt?
Becker: Ralf ist total berechtigt eine der größten Persönlichkeiten von Dynamo Dresden. Er hat hier in den letzten Jahrzehnten unglaublich viel geleistet. Es wäre völlig vermessen, sich mit ihm zu vergleichen. Das ist unmöglich. Ich konzentriere mich auf meine Aufgabe, aber selbst wenn ich zehn Jahre sensationell arbeite, wird Ralf Minge trotzdem ein Mann sein, der diesen Verein geprägt hat wie kein Zweiter.
In Stuttgart, Hamburg und nun auch Dresden haben Sie eine breit ausgeprägte Fankultur kennengelernt. Welche Rolle spielt das für Ihre Arbeit?
Becker: Man merkt, dass dieser Verein den Menschen sehr wichtig ist und es eine brutale Verbindung gibt. Du hast stets das Gefühl, dass es den Leuten nicht egal ist, was hier passiert. Ich weiß, dass in Dresden am Samstagabend nach einer Niederlage unglaublich viele Menschen traurig sind. Wenn wir aber erfolgreichen Fußball spielen, dann kann man Menschen glücklich machen und die Leute im Alltag begleiten. Das motiviert unheimlich. Das ist auch das, was bei den ganzen Traditionsvereinen den Unterschied ausmacht.
Wie schafft man als Geschäftsführer den richtigen Umgang mit den Fans?
Becker: Man darf nie gleichgültig oder arrogant werden, sondern muss immer versuchen, die Leute mitzunehmen und Probleme Schritt für Schritt gemeinsam zu lösen. Wichtig ist, dass man auf Augenhöhe diskutiert und man sich auch als Verein an verschiedene Dinge hält. Das ist im Endeffekt wie Politik - du musst viel reden und versuchen, die Leute zu überzeugen.