Deutschland musste sein Offensivspiel neuen Gegebenheiten anpassen. Das erfordert noch mehr Sicherheit und Variabilität in der Paradedisziplin. Die fantastischen Vier sollen es richten, auch beim ersten EM-Gruppenspiel gegen Portugal (Sa., 20.30 Uhr im LIVE-TICKER).
Die Basis des deutschen Offensivspiels
Vor zwei Jahren in Südafrika war Deutschland wie sehr viele andere Teams eine Mannschaft, die aus einer eher passiven Rolle heraus ihr Spiel vortrug.
In der Reaktion auf bestimmte Spielsituationen ging das deutsche Spiel in einen überfallartig vorgetragenen Umschaltmodus, was gegen Teams wie England und Argentinien, die kein besonders durchdachtes Defensivkonzept zur Hand hatten, hervorragend aufging.
spoxDie Aufgabenstellung bei der EURO wird indes eine ziemlich andere sein. Die deutsche Mannschaft geht fast in jede Partie als Favorit, dementsprechend werden die Vorrundengegner dem DFB-Team größtenteils den Ball überlassen, um den deutschen Spielfluss ihrerseits mitunter auch schon früh zu stören.
"Wir werden kaum Freiräume bekommen"
Die deutschen Gegner werden in der Defensivbewegung versuchen, das Spiel langsam und damit auch ein Stück weit langweilig zu machen.
"Wir werden kaum Freiräume bekommen", weiß Joachim Löw. Hierfür braucht es ein probates Gegenmittel und das kann für Deutschland nur das saubere Passspiel sein.
Neben Spanien ist Deutschland die Mannschaft dieses Turniers, deren Fundament am meisten darauf fußen wird. "Das ist die Basis unserer Trainingsarbeit", sagt Hansi Flick.
Keine Zeit für Ruhepausen
Im Trainingslager in Tourrettes wurde bei den Pass- und Spielformen überwiegend einfach geübt - zumindest auf den ersten Blick. Auslösehandlung, Gegenbewegung, Ballan- und mitnahme, Abspiel.
Dabei ging es gar nicht darum, besonders schnell und hart und flach zu passen - obwohl das sehr wohl auch gefordert wird im "richtigen" Spiel - sondern um den individuellen Ablauf bei jedem einzelnen Spieler, der eingebettet in einen Spielablauf einen handelsüblichen Pass spielen soll.
Handlungsmuster wurden immer und immer wieder wiederholt. Das Ziel: Den Spielern klarzumachen, dass nach einem erfolgten Abspiel keine Zeit für Ruhepausen ist. Jeder ist zu jeder Zeit dafür verantwortlich, den Fluss des Balles am Laufen zu halten. Durch Bewegung ohne Ball, klar definierten Laufwegen, Täuschungsmanövern.
All diese Dinge gehören zu einem vernünftig vorgetragenen Passspiel dazu. Im Prinzip setzt es sich zusammen aus Ballsicherheit, Positionsspiel und überraschenden Ideen. Und dafür hat die deutsche Mannschaft in ihren Offensivreihen genau die richtigen Figuren.
Löw: "Ein fließendes Dreieck"
Daneben ist die Flexibilität in Mittelfeld und Angriff Deutschlands größtes Plus. Bundestrainer Joachim Löw umschreibt es für die Mittelfeldzentrale so: "Ich will drei Spieler im Zentrum haben, die flexibel sind. Die ihre Rolle sowohl defensiv als auch offensiv ausüben, die ein fließendes Dreieck bilden".
Mit Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger hat die deutsche Mannschaft auf der Doppel-Sechs zwei Spieler, die früher offensiver zum Einsatz gekommen sind, Khedira auf der Acht, Schweinsteiger als Dribbler und mit gutem Torabschluss aus der zweiten Reihe. Auch Toni Kroos, hinter den beiden die dritte Option für die Position vor der Abwehr, hat als Spielgestalter und Flügelspieler angefangen.
Deutschlands Defensivkonzept: Chancen ohne Ballbesitz
Damit ist dem deutschen Spiel immer auch eine natürliche Vorwärtsbewegung aus der dritten Reihe gegeben. Khedira macht dabei gerne die langen Wege bis in den gegnerischen Strafraum, Schweinsteiger deckt den Halbraum vor dem Tor ab, um in die Abschlussaktion zu kommen.
Der Aufbau aus der Abwehr
Beim verpatzten Test in Basel gab es Mitte der ersten Halbzeit eine untypische Szene. Mats Hummels führte den Ball kurz vor der Mittellinie. Marcel Schmelzer nahm links außen Tempo auf, Hummels spielte einen weiten, hohen Ball.
spoxSchmelzer lief zu langsam ein, der Ball trudelte ins Toraus. Und neben der Bank schimpfte Joachim Löw. Hummels Idee war gut, aber sie passte nicht zu dem, was eine der eisernen Regeln im DFB-Team ist: Keine hohen Bälle aus der Zentrale ohne Gegnerdruck.
Der Spielaufbau sieht immer den Flachpass vor, sollte das Risiko kalkulierbar sein, auch ein Zuspiel direkt ins offensive Mittelfeld oder gar auf die einzige Spitze. Für gewöhnlich sind aber beide Außenverteidiger mit involviert, wobei Philipp Lahm ebenso gerne wie Schweinsteiger gerne auch mal eine Spielverlagerung einstreut.
Außenverteidiger, offensiver Mittelfeldspieler und einer der beiden Sechser spielen im Dreieck, um den Ball dann auf Özil oder in die Spitze zu spielen und nachzulaufen.
Seite 2: Die Sonderstellung von Özil und Müller
Die Sonderstellung von Özil und Müller
Richtig turbulent wird es etwas weiter vorne. In der Offensivreihe haben Mesut Özil und Thomas Müller enorm viele Freiheiten und einen großen Bewegungsradius. Lukas Podolski auf der linken Seite zieht auch ab und an zur Mitte, das aber vornehmlich, um dem nachrückenden Philipp Lahm die Bahn frei zu machen oder einen günstigeren Winkel für den Ball in die Tiefe zu bekommen.
Oder er nutzt seine Dynamik, um mit Zug selbst in den Strafraum zu gelangen. Auch deshalb steht er bei Löw, der Podolskis Durchschlagskraft und dessen Tempo schätzt, immer hoch im Kurs.
Özil bewegt sich sehr oft horizontal von links nach rechts oder umgekehrt. Wobei er sich eine Spur öfter rechts aufhält als auf der anderen Seite. Dadurch soll er in den kleinen Raum zwischen gegnerischer Viererkette und defensivem Mittelfeld kommen.
Nur wenn der Gegner seine Linien eng und kompakt zusammenhält und wenig Platz bietet, lässt er sich auch tiefer fallen, um das Spiel vor sich zu haben.
Özil: Die Sprungfeder
Ansonsten bleibt er aber am Anfang des letzten Angriffsdrittels und gibt von da aus die Impulse, die die Mannschaft braucht. Dabei sind es weniger die großen, ausladenden Zuspiele oder Dribblings, die sein Spiel kennzeichnen. Sondern vielmehr kleine Bewegungen und Pässe, die aus einem trägen Angriff plötzlich einen Schnellzug machen.
Leicht versetzt auf einer der beiden Seiten spielt er dann die Bälle in die Spitze, meist durch den kleinen Spalt zwischen Außen- und Innenverteidiger. Oder er verlagert die Seite. Seine Leichtigkeit ist die Sprungfeder des deutschen Spiels in der gefährlichen Zone.
Neben Özil ist auch Müllers Spiel von besonderer Natur. Es dürfte unter allen EM-Teilnehmern keinen anderen Spieler geben, der so schlau und clever die Räume besetzt, aufreißt, nutzt wie Müller.
Selbst einen schnöden Einwurf auf der linken Seite, 20 Meter vor dem Tor, macht er sofort zu einer scharfen Gefahr, weil er sich bis zur Torauslinie hinter die Abwehr schleicht. Dann bricht er aus seiner Flanke aus, geht den langen Weg.
Müllers großer Vorteil
Oder er hinterläuft, bleibt plötzlich stehen, verschafft sich durch die Richtungsänderung schnell Raum und Zeit. Er kann wie Özil aus dem Nichts den Ball schnell machen und damit das Tempo anziehen, und vor allem: Müller bleibt nach einer Aktion nie stehen.
Er bleibt immer in Bewegung, und wenn es nur dazu dient, ein wenig Verwirrung zu stiften oder Platz für den Mitspieler zu schaffen.
Müller deckt die klassischen Begabungen allesamt ab, aber er sticht nirgends groß heraus. Er hat keinen besonders wuchtigen Abschluss, ist nicht der Schnellste und schon gar nicht sonderlich robust. Auch das Kopfballspiel ist ausbaufähig. Aber er ist dem Gegner fast immer gedanklich einen halben Schritt voraus. Eine Gabe und ein kaum zu kontrollierender Vorteil.
Miroslav Kloses Rolle
Der Römer stieß alles andere als fit zum Team, sieht sich einige Tage vor dem Auftaktspiel aber fast schon wieder in seiner besten Verfassung. Mario Gomez ist sicherlich der kühle Knipser, im Strafraum gefährlicher als Klose. Für den Spielfluss der Mannschaft bringt der Routinier aber eine Spur mehr Impulse mit.
Klose spult dabei das komplette Repertoire des modernen Angreifers ab: Schneidet geschickt, läuft ein, lässt den Ball gut prallen, geht dann wieder tief oder windet sich durch eine einfache Gegenbewegung um den Gegner.
Dabei interpretiert er seine Rolle nicht so sehr über den eigentlichen Torabschluss. Sondern vielmehr darüber, ob und wie er am besten Lücken reißen kann für die flinken Mittelfeldspieler.
Eine seiner großen Stärken ist dabei, dass er sich im Prinzip als verkappter Spielgestalter sieht und das nötige Auge und die Erfahrung mitbringt. Erst seine Laufwege lassen Chancen entstehen. Er versteht es wie nur wenige, einen Innenverteidiger geschickt aus der Viererkette zu ziehen, indem er seine Position bewusst verlässt und sich etwas tiefer anbietet, um den Raum dahinter freizumachen für Müller, Özil oder Podolski.
Die offensiven Standards
Ein Ärgernis seit Jahren. Angesichts der Vorbereitung im Salamiformat blieb aber auch dieses Mal nur wenig bis gar keine Zeit, sich dem an sich wichtigen Thema ausführlicher zu widmen.
Weder Freistöße aus dem Halbfeld noch die Eckbälle der deutschen Mannschaft verursachen beim Gegner Schweißausbrüche. Auffällig ist, dass offenbar auch angesichts fehlender einstudierter Varianten ein Eckstoß immer öfter kurz ausgeführt wird.
Der kleine Vorteil: Aus der Gleichzahl auf dem Flügel kann der Ball an die Strafraumkante zurückgespielt und in einem deutlich günstigeren Winkel zur Mitte geflankt werden. Oder aber flach in die Gasse gespielt werden.
Ansonsten sind Überraschungsmomente kaum eingestreut - den Rückpass an den Sechzehner zum direkten Torabschluss ausgenommen. Wenn man so will, eine der wenigen Schwächen des deutschen Offensivspiels.
EM 2012: Der Spielplan