Zum achten Mal trifft Deutschland bei einem großen Turnier auf England (18 Uhr im LIVETICKER). Viermal gewann das DFB-Team, zweimal die Three Lions. Wer setzt sich diesmal durch im Klassiker? Und ist der Sieger automatisch EM-Favorit? Das Experten-Panel.
England oder Deutschland: Wer ist die größere Wundertüte?
Beide Mannschaften haben bei der bisherigen EM nur streckenweise überzeugt. Wer ist die größere Wundertüte: England oder Deutschland?
Raphael Honigstein (Journalist bei The Athletic): Ich halte England für das besser funktionierende Team. Sie haben dreimal zu Null gespielt und setzen voll auf das Element Kontrolle, was für Gareth Southgate absolute Wichtigkeit hat. Man hatte in der Gruppenphase das Gefühl: Seine Mannschaft konnte zwar, wollte aber nicht. Sie spielte auf Ergebnis, die Sicherheit stand im Vordergrund. Deutschland sehe ich als größere Wundertüte, weil ihr bei aller individuellen Qualität vor allem mannschaftliche Geschlossenheit und taktische Finesse fehlen.
Sebastian Kneißl (Ex-Spieler beim FC Chelsea und Experte bei DAZN): England ist bisher konstanter und ausgeglichener aufgetreten als Deutschland. Ich habe genau diese Leistungen auch schon vor dem Turnier erwartet, weil die Engländer in der Qualifikation ebenfalls kein Offensivfeuerwerk veranstaltet haben. Sie sind oft sehr energisch ins Spiel gegangen, um schnell zum Torerfolg zu kommen, haben sich dann aber meist zurückfallen lassen, um die Defensive abzusichern. Man weiß bei Southgates Mannschaft also im Grunde, was man kriegt. Bei Deutschland ist das anders, gerade nach den doch sehr unterschiedlichen Auftritten in der Gruppenphase würde ich Löws Team als die größere Wundertüte bezeichnen.
Nizaar Kinsella (Nationalmannschaftsreporter England bei Goal UK): Schwierig zu sagen. Es stimmt, dass beide Teams für wenig Furore gesorgt haben, im Lager der "Three Lions" berufen sich aber viele auf die starke Defensive und halten Southgates Team für ein gefestigtes Kollektiv. Ein Großteil der Fans ist dagegen ein wenig enttäuscht von dem geringen offensiven "Impact" der Mannschaft. Die riesigen Erwartungen vor dem Turnier wurden gerade durch das 0:0 gegen Schottland stark gedämpft. Andererseits wird Deutschland hier aber auch nicht mehr als der alles überstrahlende Gegner angesehen.
Kerry Hau (Nationalmannschaftsreporter Deutschland bei SPOX): Deutschland. Hatte man nach dem 4:2 gegen Portugal noch das Gefühl, jetzt könne sich Löws Mannschaft in einen Rausch spielen, präsentierte sie sich beim 2:2 gegen Ungarn wieder so wie in vielen Partien im Vorfeld des Turniers: schläfrig in der Rückwärtsbewegung, ideenlos im Spiel nach vorne. Bei den Engländern läuft auch nicht alles glatt, immerhin kann Southgate aber nicht erst seit Turnierbeginn auf eine weitgehend funktionierende, weil stabile Defensive zählen.
England: Muss Southgate jetzt Sancho bringen?
In der Gruppenphase fast nur Zuschauer: Muss Englands Nationaltrainer Gareth Southgate jetzt Jadon Sancho von Anfang an bringen?
Raphael Honigstein (The Athletic): Natürlich müsste Gareth Southgate Jadon Sancho bringen, nicht nur gegen Deutschland, sondern auch schon in den vorherigen Spielen, aber er scheint ihm nicht zu vertrauen. Raheem Sterling ist als echter Flügelspieler auf rechts gesetzt, und auf der anderen Seite möchte Southgate einen Hybridspieler, der sich mehr ins Mittelfeld orientiert und auch mehr mit nach hinten arbeitet. Zum Beispiel Phil Foden, Mason Mount oder Bukayo Saka. Das kommt Deutschland in Anbetracht der Qualität von Sancho entgegen.
Sebastian Kneißl (DAZN): Nein. Das Thema Jadon Sancho ist in Deutschland ohnehin ein größeres als in England. Klar ist: Southgate hat ihm einige Chancen gegeben, aber er hat nicht geliefert, während andere überzeugendere Leistungen gezeigt haben. Raheem Sterling und Harry Kane sind gesetzt. Und bei Spielern wie Mason Mount oder Jack Grealish weiß man sofort, was man kriegt, sie arbeiten auch stark gegen den Ball. Gerade Grealish ist jemand, der den Ball unter Gegnerdruck sehr gut hält, auch mal einen Freistoß zieht. Insofern ist Sanchos Rolle bei dieser EM für mich keine allzu große Überraschung.
England-Offensive: Die bisherigen Spielanteile bei dieser EM:
Pl. | Spieler | Einsätze (davon Startelf) | Minuten |
1 | Raheem Sterling | 3 (3) | 246 |
1 | Harry Kane | 3 (3) | 246 |
3 | Mason Mount | 2 (2) | 180 |
4 | Phil Foden | 2 (2) | 134 |
5 | Jack Grealish | 2 (1) | 95 |
6 | Bukayo Saka | 1 (1) | 84 |
7 | Marcus Rashford | 3 (0) | 58 |
8 | Jadon Sancho | 1 (0) | 6 |
9 | Dominic Calvert-Lewin | 1 (0) | 1 |
Nizaar Kinsella (Goal UK): Southgate hat die Qual der Wahl im Offensivbereich. Zunächst war ich - allein mit Blick auf seine Zahlen und Errungenschaften in Dortmund - auch ein größer Fürsprecher von Sancho, aber Saka hat es auf der linken Seite sehr gut gemacht und auch Grealish, der vielleicht sogar zum populärsten Spieler hier in England aufstiegen ist, wird momentan zurecht gefeiert. Es wird also schwierig für Sancho, auf eine hohe Anzahl an Einsatzminuten bei dieser EM zu kommen. Und man darf nicht vergessen: Marcus Rashford ist auch noch da.
Kerry Hau (SPOX): Kicker wie Foden, Grealish oder Mount haben gewiss ihre Vorzüge. Die Argumentation, in Englands starker Offensive sei kein Platz für Sancho, kann ich trotzdem nicht nachvollziehen. Ein Unterschiedsspieler wie er würde jede Mannschaft weiterbringen. Die Startelf ist in Anbetracht der Qualität kein Muss, doch es wäre aus Southgates Sicht fahrlässig, Sancho erneut nur für ein paar Minuten vor dem Ende von der Leine zu lassen.
Soll Löw Dreier- oder Viererkette spielen lassen?
Ordentlich gegen Frankreich, stark gegen Portugal, schwach gegen Ungarn: Soll Bundestrainer Joachim Löw im Wembley an seinem oft kritisierten 3-4-3 festhalten oder hinten auf Viererkette umstellen?
Raphael Honigstein (The Athletic): Ich bin kein grundsätzlicher Gegner der Dreierkette, aber klar dagegen, dass Joshua Kimmich auf der rechten Seite spielt. Er muss ins Zentrum. Wenn das bedeutet, dass die Dreierkette wieder zur Viererkette wird, wäre ich damit weitaus glücklicher als mit der aktuellen Konstellation. Die Dreierkette hat mal funktioniert, mal nicht funktioniert. Es liegt auch nicht hundertprozentig an der Formation, sondern an der fehlenden Abstimmung. Und die wäre mit Kimmich im Zentrum besser. Ich habe also nichts dagegen, wenn man mit einer etwas defensiveren Viererkette spielt und sich nur einer der Verteidiger mit ins Offensivspiel einschaltet. Dann hätte man im Spiel mit Ball auch wieder eine Dreierkette, der Bundestrainer müsste also gar nicht so viel verändern.
Sebastian Kneißl (DAZN): Das ewige Thema. Die Kettenfrage ist für mich nicht entscheidend, aus meiner Sicht kommt es in erster Linie auf die Körpersprache und das Eins-gegen-Eins-Verhalten an, speziell defensiv. Unabhängig davon, ob du Dreier- oder Viererkette spielst: Wenn du so verteidigst wie gegen Ungarn und die Spieler vorne nicht konsequent gegen den Ball arbeiten, kannst du hinten auch sechs Spieler reinstellen und gerätst trotzdem unter Beschuss. Vor allem die Offensivspieler sind gefordert, energisch und kompakt gegen den Ball zu arbeiten. Mit Ball braucht es aber dieselbe Körperlichkeit und Zielstrebigkeit.
gettyNizaar Kinsella (Goal UK): Die Systemdiskussion gibt es mittlerweile auch hier in England, Southgate könnte gegen Deutschland ebenfalls auf ein 3-4-3 setzen. Die Grundordnung mag zwar nicht entscheidend sein, doch nach der Gruppenphase bleibt festzuhalten, dass sich England im zweiten Gruppenspiel sehr schwer mit Schottlands 3-4-3 getan hat. Die Schotten haben gut nach hinten gearbeitet und das letzte Drittel dicht gemacht. Mit solchen Gegnern haben die Engländer Probleme.
Kerry Hau (SPOX): Löw hat recht, wenn er sagt, das System ist zweitrangig. Wichtiger ist die Umsetzung, sprich: das Nachrücken, das Gegenpressing, die generelle Raumaufteilung und nicht zuletzt die Laufbereitschaft. Bei den Blamagen gegen Spanien (0:6) und Nordmazedonien (1:2) spielte die deutsche Mannschaft zum Teil auch mit einer Viererkette, insofern lässt sich schwer beurteilen, ob die Mannschaft mit dieser Formation defensiv gefestigter wäre. Das Portugal-Spiel hat durchaus gezeigt, dass die Dreierkette funktionieren kann, gerade wenn die beiden Schienenspieler auf den Außen gut ins Spiel eingebunden werden. Gegen Ungarn war es nun einmal so, dass sowohl das Zentrum als auch die Außen dicht waren, weil der Gegner mit zehn Spielern im letzten Drittel verteidigte. Die Engländer legen zwar auch hohen Wert auf eine kompakte Defensive, sind aber nicht derart destruktiv wie die Ungarn. Ich würde mit der Dreierkette starten - und gegebenenfalls zur Pause umstellen.
Was wird das Schlüsselduell des Spiels?
Mit England und Deutschland treffen zwei Top-Nationen mit Weltklasse-Spielern aufeinander. Welches individuelle Duell könnte zum entscheidenden werden?
Raphael Honigstein (The Athletic): Für mich gibt es nicht das eine Schlüsselduell, wir dürfen uns auf mehrere spannende Duelle einstellen, vor allem auf den Außen. Bei den Engländern sieht man, dass sie oft versuchen, den Ball in den "Channel", also in den Halbraum zwischen Abwehr und Mittelfeld, zu spielen. Wenn Sterling, Saka und Co. da zur Entfaltung und in Eins-gegen-Eins-Situationen mit Ginter, Hummels und Rüdiger kommen, wird es brenzlig. Auf der anderen Seite hat die deutsche Mannschaft auch einige Waffen, ein Kai Havertz kann sich ebenfalls sehr gut in den Zwischenräumen bewegen. Da müssen Spieler wie Declan Rice oder Kalvin Philipps auch erstmal hinterherkommen.
Sebastian Kneißl (DAZN): Kane gegen die deutsche Defensive. Er arbeitet sehr viel für die englische Mannschaft, deshalb ist es wichtig, ihm ständig auf den Füßen zu stehen. Auch Grealish, sollte er spielen, und Sterling darf man nicht zur Entfaltung kommen lassen.
gettyNizaar Kinsella (Goal UK): Auch für mich steht das Duell Kane - deutsche Abwehr im Fokus. Er ist, auch wenn er noch auf sein erstes Tor bei dieser EM wartet, noch immer Englands wichtigster Angreifer. Stoppen die deutschen Verteidiger ihn, wird es für die Elf von Southgate kompliziert, zum Erfolg zu kommen.
Kerry Hau (SPOX): Declan Rice und Kalvin Philipps beackern voraussichtlich das zentrale Mittelfeld der Engländer, Toni Kroos und Leon Goretzka das der Deutschen. In diesem Mannschaftsteil rechne ich mit einigen hochinteressanten Duellen, die darüber entscheiden, welche Mannschaft das Spiel kontrolliert.
England oder Deutschland: Wer setzt sich durch?
Zum Abschluss unseres Panels: Wer setzt sich durch? Und: Darf sich der Sieger dieses Duells automatisch als Favorit auf den Titel bezeichnen?
Raphael Honigstein (The Athletic): Vieles spricht für England, aber die Unterschiede zwischen beiden Mannschaften sind nicht riesig. Ich würde sagen, Englands Chancen aufs Weiterkommen liegen höchstens bei 60:40 - und das heißt bei einem einzigen Spiel in einem K.o.-System wenig. Es wird ein sehr enges Duell, bei dem kleine Details entscheiden. Vor dem Turnier habe ich auf England als Sieger in einem möglichen Duell mit Deutschland getippt. Dabei bleibe ich - lieber lasse ich mich positiv überraschen. Der Top-Favorit auf den Titel ist für mich aber keiner der beiden.
Sebastian Kneißl (DAZN): Deutschland kommt weiter, weil ich a) davon ausgehe, dass Leroy Sane nicht spielt und Thomas Müller in die Startelf zurückkehrt und b) meine Zuversicht groß ist, dass Robin Gosens wieder besser eingebunden wird als gegen Ungarn. Da hat er nämlich sehr wenige Bälle von Toni Rüdiger bekommen und sich nicht so entfalten können wie gegen Portugal. Ob ein Weiterkommen Deutschland zum Titelfavoriten machen würde? Ein klares Nein. Ich sehe Italien deutlich gefestigter. Ja, sie hatten ihre Probleme gegen Österreich und sie haben nicht diesen einen Weltklasse-Stürmer, dennoch gefällt mir diese Kompaktheit und diese Power, nach vorne zu spielen. 31 Spiele ungeschlagen, wenig bis keine Gegentore und im Schnitt mit zwei bis drei Treffern pro Spiel. Da kennen wir andere Zahlen der italienischen Nationalmannschaft.
Nizaar Kinsella (Goal UK): England setzt sich auch dank des Heimvorteils nach sehr ausgeglichenen 90 Minuten durch. Klar ist: Sollte das schiefgehen, herrscht hier Weltuntergangsstimmung. Die Fans erwarten mindestens einen Einzug ins Halbfinale. Der Druck wird bei den Deutschen aber nicht sonderlich geringer sein. Egal, welche Mannschaft am Ende weiterkommt: Der Sieger würde automatisch zu den Titelfavoriten zählen.
Kerry Hau (SPOX): Joachim Löw hat noch kein Spiel im Wembley-Stadion verloren und dabei bleibt es auch. Die deutsche Mannschaft trotz allen Widerständen und wächst über sich hinaus - auch, weil sie sich beim Kreieren von Torchancen generell weitaus leichter gegen mitspielende als ultratiefstehenden Gegner tut. Mein Tipp: 2:1 für das DFB-Team. Und dann muss auch der Finaleinzug das Ziel sein. Das vorgezogene Endspiel ist für mich Belgien - Italien.