Thiago möchte den FC Bayern angeblich nach sieben Jahren verlassen. Ein Abgang des Spaniers würde den Rekordmeister hart treffen. Eine Analyse.
Seit einigen Tagen flammt in Fußball-Deutschland, speziell im Süden der Nation, eine Debatte über einen Spieler neu auf, der in den vergangenen Jahren immer wieder für Kontroversen gesorgt hat: Thiago Alcantara.
Der Grund für die Diskussion, an der sich sowohl Medien als auch Fans derzeit rege beteiligen, ist das angebliche Bestreben des Spaniers, seinen Arbeitgeber Bayern München nach sieben Jahren am Saisonende den Rücken zu kehren - obwohl noch vor Wochen alles darauf hingedeutet hatte, dass der 29-Jährige sein bis 2021 laufendes Arbeitspapier vorzeitig bis 2023 verlängern würde.
Während einige Kritiker mit Blick auf den plötzlichen Sinneswandel Thiagos die Meinung vertreten, der Mittelfeldmann könne getrost das Weite suchen, weil es sicherlich auch ohne ihn laufe, appellieren dessen Fürsprecher an den Verein, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um den technisch beschlagenen Strippenzieher von einem Verbleib zu überzeugen.
FC Bayern mit oder ohne Thiago? Viele Argumente auf beiden Seiten
Die Argumente sind hüben wie drüben mannigfaltig: Thiago sei zwar ein guter Fußballer, doch fehle ihm das viel zitierte Sieger-Gen, in wichtigen Spielen tauche er ab, argumentieren die einen, die im aktuellen Sechser-Tandem Leon Goretzka und Joshua Kimmich eine adäquate Zukunftsoption ausmachen. Thiago verfüge über unglaubliche, gar unersetzliche Qualitäten, sagt der Kreis der Wohlgesinnten.
Nüchtern und oberflächig betrachtet, mag es durchaus nachvollziehbar anmuten, dass die Beckmesser Thiagos vermeintliche Abschiedsgedanken als unmaßgeblich erachten. Immerhin gab es während seiner Zeit beim FCB immer wieder Perioden, in denen Thiago sein Können nicht gänzlich abrief.
Unter Niko Kovac beispielsweise, als das gesamte mannschaftliche Konstrukt bisweilen fragil wirkte, sah sich auch Bayerns Nummer sechs mit Schwierigkeiten konfrontiert, wirkte mitunter wie ein ins Stocken geratener Motor, der nach einer fachgerechten Wartung lechzt. Sie sollte kommen. Hansi Flick hieß der Mechatroniker, der Thiago nach zwischenzeitlichen Stotterern zum Start wieder zu seiner vollumfänglichen Stärke verhalf - ehe der Edeltechniker mit Leistenproblemen und einer daraus resultierenden Operation zurückgeworfen wurde und Goretzka das Feld überlassen musste.
Obwohl dieser seine Sache wirklich außerordentlich gut macht, mit Torgefahr aufwartet, Vorlagen beisteuert, Löcher stopft und seit Wiederaufnahme des Spielbetriebs mit enormer physischer Präsenz zu gefallen weiß, wäre es zu engstirnig, Thiagos Einfluss auf das Münchner Spiel zu missachten.
imago images/Ralf IbingThiago zählt zu den Unersetzlichen beim FC Bayern
Mal davon abgesehen, dass ein Verein, der traditionell über nahezu die gesamte Saisondauer auf drei Hochzeiten tanzt, über einen möglichst breiten, qualitativ homogenen Kader verfügen sollte, zählt der spanische Nationalspieler zu der erlesenen Auswahl an Bayern-Stars, deren Fähigkeiten in die Kategorie "kaum austauschbar" fallen.
Zunächst, und hierbei handelt es sich um die offensichtlichste Begabung, hat Thiago den ersten Kontakt, also Ball-An und -Mitnahme perfektioniert, quasi auf eine neue, vorbildhafte Stufe gehoben. Wie er seine Gegner mit einer scheinbar simplen und kurzen Körpertäuschung regelmäßig ins Leere laufen lässt, quasi schon Millisekunden vor der eigentlichen Aktion potenzielle Fluchtwege ausmacht, um im Anschluss seine Teamkollegen mit bestmöglich temperierten Pässen in Szene zu setzen, verzückt selbst neutrale Fußball-Fans.
"Das ist für Außenstehende vielleicht schwer nachvollziehbar. Aber die Wahrheit ist: Du hast minus eine Sekunde Zeit. Schon vor der Ballannahme musst du eine Idee haben und immer schneller als der Gegner denken", verriet er diesbezüglich im Gespräch mit der klubeigenen Webseite und schob nach: "Orientierung ist der Schlüssel."
Neben der technischen Finesse, der viel zitierten feinen Klinge, die dem Betrachter zwangsläufig ins Auge springt, spielen sich in Thiagos Fall jedoch viele entscheidende Aktionen im Verborgenen ab und gehen somit bei der Bewertung des Schöngeistes aufseiten der Mäkler unter.
Statistik: Thiagos Zahlen untermauern seinen großen Stellenwert
Gerne wird angeprangert, dass der Rechtsfuß verhältnismäßig selten als Scorer, sprich Torschütze oder Vorlagengeber in Erscheinung tritt, dabei zeichnet Thiago nicht selten für den letzten Pass vor dem Assist verantwortlich, dient also als verlässlicher Angriffsinitiator. 87,31 Prozent (Quelle: Opta) seiner Pässe fanden in der laufenden Saison in des Gegners Hälfte einen Mitspieler, kein anderer Bayern-Akteur weist eine bessere Quote auf.
Auch in der Kategorie "Dribblings" lesen sich Thiagos Zahlen beeindruckend. Satte 83,53 Prozent seiner offensiven Eins-gegen-Eins-Duelle schloss er bis dato erfolgreich ab und verweist damit Goretzka (73,91) sowie Kimmich (70 Prozent) auf die vereinsinternen Plätze zwei und drei. Besonders ersichtlich wird die Thiago-Signifikanz jedoch im Defensivverhalten.
Mit einer Bilanz von 59,42 Prozent gewonnener Zweikämpfe führt er die Münchner Rangliste an (zumindest, wenn man ausschließlich die Spieler berücksichtigt, die mehr als 1000 Spielminuten abspulten), die Rubrik "abgefangene Bälle" gilt in den Büchern ebenfalls als Paradedisziplin des zentralen Mittelfeldspielers. 45-mal las Thiago einen gegnerischen Passweg richtig, nur Benjamin Pavard (51), der allerdings 991 Minuten länger auf dem Platz stand, kommt auf eine höhere Zahl.
Thiago ist aufgrund seiner hohen Spielintelligenz in der Lage, das Verhalten seiner Gegner nicht nur offensiv, sondern auch im Verteidigungsmodus zu antizipieren. Dementsprechend passt er auch so gut ins Flick'sche System, das hohes Pressing und schnelles Umschaltspiel bei Balleroberungen vorsieht. Kein Wunder also, dass der Bayern-Trainer von Thiagos Plänen, dem FC Bayern und der Stadt München den Rücken zu kehren, nicht sonderlich begeistert sein dürfte.
Hansi Flick kämpft um seinen Dirigenten: "Thiago ist ein Ausnahmekönner"
"Thiago ist ein Ausnahmekönner", schwärmte Flick, der ganz genau weiß, wie hart ein Abgang des Dirigenten wiegen würde, noch am vergangenen Freitag. "Er ist einfach ein exzellenter Fußballer, der jeder Mannschaft ein tolles Spielniveau gibt und Spielintelligenz mitbringt. Ich möchte schon gerne, dass er hierbleibt. Das weiß er, das weiß der Verein." Letztendlich sei das, was passiert jedoch "immer auch eine Entscheidung der Spieler."
Ein letztes öffentliches Bauchpinseln, um einen erneuten Sinneswandel herbeizuführen? Wer weiß! Fest steht: So lange in der Causa Thiago keine offizielle Entscheidung getroffen ist, wird die Debatte um ihn weiterlaufen. Dass derart leidenschaftlich über einen Fußballer diskutiert wird, spricht in puncto Stellenwert der Person, an der sich die Geister scheiden, allerdings für sich.