"Jammern auf hohem Niveau"

Haruka Gruber
19. April 201312:49
Auch an einem überragenden Mittelfeldspieler wie Xavi nagt inzwischen der Zahn der Zeitgetty
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Borussia Dortmund gelang die nächste taktische Entwicklung, den Bayern die Symbiose aus Louis van Gaal und Jupp Heynckes. Aber was ist mit dem FC Barcelona? Taktik-Chamäleon Jose Mourinho? Und "Defensiv-Tier" Ronaldo? Das Interview mit Taktik-Experte Frank Wormuth, Leiter der Fußball-Lehrer-Ausbildung und Coach der deutschen U-20-Nationalmannschaft, vor den Champions-League-Halbfinals in der nächsten Woche.

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SPOX: Ende März endete der 59. Fußball-Lehrer-Lehrgang. Inwiefern wurde im Rahmen der Ausbildung auf die aktuelle Entwicklung im Spitzenfußball eingegangen und speziell auf die taktische Stärke/Schwäche der Champions-League-Halbfinalisten? Gab es plakative Beispiele?

Frank Wormuth: Wir haben im Rahmen der Schwerpunktwochen im Dezember die Thematik "Übernahme eines Teams während einer Saison". Acht Dreierteams sind für zwei Wochen für eine aktuelle Mannschaft zuständig. Sie beleuchten ihre Mannschaft aus der Sichtweise unserer drei Hauptfächer Fußballlehre, Sportpsychologie und Trainingswissenschaft. Selbstredend haben wir auch unsere deutschen Champions-League-Teams in dieser Phase analysiert. Die grundsätzliche Entwicklung des Spitzenfußballs wird bei uns am Anfang des Fußballlehrerlehrgangs besprochen, also im Rahmen der Thematik "Spitzenfußballanalyse".

SPOX: Keine europäische Mannschaft hat sich taktisch innerhalb des letzten Jahres so weiterentwickelt wie die Bayern. Dennoch ist das unter Louis van Gaal prägende Positionsspiel weiter zu erkennen. Ist das der richtige Eindruck?

Wormuth: Jupp Heynckes hat gut daran getan, seine Philosophie mit der von van Gaal zu kombinieren, weil die Mannschaft zu Großteilen aus Spielern bestehen, die von seinem Vorgänger geholt oder gefördert wurden. Konkret heißt es: Das Positionsspiel ist noch vorhanden, aber nicht mehr in der Ausschließlichkeit. Nun ist bei den Bayern auch Flexibilität vorhanden.

SPOX: Ist das die große Leistung von Heynckes? Die Bayern beherrschen einerseits das Positionsspiel weiter auf höchstem Niveau wie in der zweiten Halbzeit im Rückspiel gegen Juve zu sehen, um ein Ergebnis zu verwalten. Andererseits lernten die Bayern das schnelle Umschalten und Positionswechsel, um aktiver auf ein Tor zu spielen.

Wormuth: Eine Entwicklung hat auf der eine Seite immer etwas mit dem Trainer zu tun, aber auf der anderen Seite hat die Kaderzusammenstellung diese Entwicklung natürlich noch forciert. Dass eine Mannschaft, die kontinuierlich arbeiten kann, sich automatisch entwickelt, ist ja nichts Neues.

SPOX: Ist einer der Profiteure Philipp Lahm? Hinten stand er schon immer bombensicher, aber jetzt kommen lange verschollene Offensivqualitäten hinzu, was 15 Assists in der Bundesliga und Champions League beweisen.

Wormuth: Philipp Lahm besaß schon immer schon diesen offensiven Drang. Ich glaube, dass seine momentane Effektivität zum einen mit der Qualität der Mitspieler zusammenhängt und zum anderen könnte es auch daran liegen, dass er nun bei den Bayern und in der Nationalmannschaft seinen festen Platz auf der rechten Seite gefunden hat. Ich erkenne zugleich aber auch eine persönliche Entwicklung als Spieler.

SPOX: Auffällig ist das neue Defensivverhalten. Früher waren die Bayern "zweigeteilt": Die 4 Offensiv-Spieler waren fast ausschließlich für die Offensive zuständige, die 6 Defensiv-Spieler für die Defensive. Heutzutage arbeiten aber alle mit und "jagen" den Ball, so wie es Barca oder Dortmund vormachten. Wie sehen Sie das?

Wormuth: Auch bei den Bayern ist die Effektivität des Tempofußballs und der Kompaktheit im Mannschaftverbund als wichtige Voraussetzung dafür nicht übersehen worden, auch wenn sie ihn noch nicht so extrem spielen lassen wie die Dortmunder. Dies hängt aber auch zusammen mit den Spielertypen im Kader ab und der Verhaltensweise der Gegner.

SPOX: Insgesamt 15 Spieler von Bayern und Barca könnten gegeneinander antreten, die bereits an der EM teilgenommen haben. Lässt sich das Klub-Duell auch auf ein Duell der Nationalmannschaften herunterbrechen? Lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die taktische Weiterentwicklung zweier Fußball-Nationen?

Wormuth: Ja und nein. Man hat gesehen, dass die Spanier die Philosophie von Barcelona übernommen haben. Hier war Nationaltrainer Vicente del Bosque klug genug gewesen, nichts an den bestehenden Verhaltensweisen zu verändern. Dennoch darf auch nicht vergessen werden, dass eine Nationalmannschaft mit den Besten der Besten antritt und somit auch andere Verhaltensweisen innerhalb kürzester Zeit zusammengebracht werden müssen. Also irgendwie hängt alles miteinander zusammen, aber dennoch hat jede Mannschaft ihre eigene Duftmarke.

SPOX: Barca ist nicht mehr so brillant wie die Jahre zuvor. Vor allem die Vielzahl der Gegentore verwundert. Kann es sein, dass nach Ballverlust die "Gier beim Jagen" abgenommen hat? Vor allem Xavi und Busquets wirken im Zentrum lange nicht mehr so dominant.

Wormuth: Die Spieler sind nicht jünger geworden. Und mit Verlaub: Spielerische Routine kann irgendwann auch nicht leistungssteigernd sein. Zudem brauchen selbst bei einem kleinen personellen Umbruch die neuen zu integrierenden Spieler ihre Zeit, um die alte Qualität aufrecht zu erhalten. Spieler kann man nicht klonen, weil sie ihre eigene Art und Weise in eine Spielidee einbringen. Dennoch ist es Jammern auf hohem Niveau. Es reicht immer noch aus, um unter die letzten Vier der europäischen Spitze zu kommen.

Seite 2: Wormuth über Dreierkette, Hummels und Ronaldo als "Verteidigungs-Tier"

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SPOX: Statt wie in der Vergangenheit zwischen Vierer- und Dreierkette zu variieren, spielt Barca fast ausschließlich mit Viererkette und zwei klaren Innenverteidigern. Ein Indiz dafür, dass Barca nach Stabilität sucht?

Wormuth: Ich denke, dass die Dreierkette in der Vergangenheit aus der Situation herausgeboren wurde. Da nun fast alle Spieler wieder an Bord sind, wird die Viererkette als Verteidigungslinie wieder der Standard. Die Viererkette beinhaltet grundsätzlich eine offensive Idee und die passt sehr gut mit der von Barcelona zusammen. Stichwort: hoch stehende Außenverteidiger als einzige Außenbahnspieler, um im letzten Drittel sowohl bei Ballbesitz als auch bei Ballverlust Überzahl beziehungsweise Gleichzahl herzustellen.

SPOX: Bei Bayerns Rückspiel in Barcelona wird wie so oft die vermeintlich überdimensionierte Platz-Größe im Camp Nou ein Thema sein. Hat das einen taktischen Einfluss?

Wormuth: Bei den heutigen konditionellen Eigenschaften der Spieler glaube ich nicht unbedingt daran, dass hier Vor- oder Nachteile entstehen. In der Defensive sowieso nicht, da sich hier die abwehrende Mannschaft am Ball orientiert.

SPOX: Dortmund nahm sich in vielen Aspekten ein Vorbild an Barcelona. Um es plakativ zu formulieren: Kann man sagen, dass Dortmund die taktisch stärkste Mannschaft im Champions-League-Halbfinale ist? Denn: Individuell dürfte Dortmund trotz eines Götze oder Lewandowski die schwächste Mannschaft sein.

Wormuth: Das Wort "schwach" würde ich bei diesen Mannschaften komplett aus der Analyse herausnehmen. Wenn alle vier Mannschaften ihr normales Leistungsvermögen abrufen, dann gibt es nur noch Stärken. Am Ende entscheidet dann die "stärkere Stärke" des Tages.

SPOX: Ein Thema bei der EM war die Fähigkeit Italiens, in verschiedene Grundordnungen spielen zu können. Dortmund praktiziert das diese Saison, indem gegen starke Gegner im zentralen Mittelfeld drei Sechser auflaufen. Ist diese Variante ein Zeichen der taktischen Weiterentwicklung?

Wormuth: Ein Zeichen der taktischen Weiterentwicklung ist, dass wir nicht mehr über drei Sechser oder zwei Sechser reden müssen, sondern über die Spielidee, das Spielverhalten der gesamten Mannschaft. Die Flexibilität der zentralen Mittelfeldspieler wird immer mehr vorhanden sein. Wir sprechen in der Ausbildung gerne davon, dass nicht mehr der Name entscheidend ist, sondern die Positionsbesetzung. Jeder kann jede Position spielen. Der SC Freiburg hat dies seit Jahren in seine Ausbildungsphilosophie verankert.

SPOX: Die Maxime "Jeder kann jede Position spielen" illustriert kaum einer so gut wie Mats Hummels. Wie wichtig ist er als Spielmacher aus der Abwehr heraus? Weil Subotic und Santana fußballerisch nicht ganz so stark sind, holte Ilkay Gündogan "als Libero" die Bälle hinten ab. Wenn Hummels gegen Real zurückkehrt, besitzt Dortmund gefühlt einen Mittelfeldspieler mehr?

Wormuth: Der Aussage ist nichts entgegenzusetzen. Genauso ist es.

SPOX: Während Dortmund einen Stil verkörpert, fällt es extrem schwer, Reals Fußball zu kategorisieren - anders als Chelsea oder Inter unter Mourinho, die für Effizienz und Defensive standen. Trotz der Erfolge in dieser Saison: Erkennen Sie bei Real eine Mourinho-Identität?

Wormuth: Keine einfache Frage, weil sie sich auf Mourinho und dessen Handschrift fokussiert. Vielleicht ist die Handschrift von Mourinho die, dass er so spielen lässt, wie es seine Mannschaft anbieten kann beziehungsweise der Gegner es überhaupt zulässt. Mit Chelsea und Inter musste er so spielen lassen, damit Erfolg möglich war. Mit Real hat er andere Spielertypen und daher auch eine andere Handschrift. Die Fähigkeit von Mourinho ist es wohl, aus einer Mannschaft die Philosophie herauszuholen, die diese Zusammenstellung überhaupt erbringen kann. SPOX

SPOX: Dennoch: Vieles im Real-Offensivspiel wirkt undurchdacht. Man hat das Gefühl, dass nur die individuelle Stärke eines Ronaldo oder Özil für die besonderen Momente sorgen. Wie sehen Sie das?

Wormuth: Daran ist nichts auszusetzen. Am Ende des Tages sind es immer die Ausnahmespieler, die ein Spiel entscheiden. Von daher bedeuten für mich persönlich die Kaderzusammenstellung mindestens 50 Prozent des Spielerfolges. Um es lustiger auszudrücken: Manch eine Mannschaft kann eben den Erfolg eines Trainers nicht verhindern.

SPOX: Widerspricht Cristiano Ronaldos exponierte Stellung nicht den Regeln des modernen Spiels - in dem alle elf Spieler zu jeder Zeit am Defensivverhalten teilnehmen sollen wie bei den Bayern und Dortmund?

Wormuth: Überspitzt gesagt: Cristiano Ronaldo ist hundertprozentig in der Abwehrarbeit involviert und zwar, in dem er vorne links stehen bleibt und zwei Gegenspieler, manchmal sogar drei, auf sich lenkt, die sich allein durch ihn nicht am Angriff der eigenen Mannschaft beteiligen. Und hier komme ich wieder zu meiner Ausgangshypothese: Man muss immer das Gesamtgefüge einer Mannschaft betrachten.