Das Löw-Optimum und die Hummels-Debatte: Im ersten Teil des Taktik-Interviews spricht Frank Wormuth über die Synchronisierung gegensätzlicher Ideen. Und warum Augsburg eine Rolle spielt. Wormuth, Leiter der Fußball-Lehrer-Ausbildung und Coach der deutschen U-20-Nationalmannschaft, wird bei der EM als SPOX-Eperte tätig sein.
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SPOX: Im SPOX-Interview nach der Hinrunde bezeichneten Sie die Leistungsunterschiede der Dortmunder in der Bundesliga und in der Champions League als "Rätsel". Aber kann man zumindest festhalten, dass das kein Zufall ist, nachdem Mats Hummels und Marcel Schmelzer in der EM-Vorbereitung ähnliche Probleme zeigten wie in der Champions League?
Frank Wormuth: Wenn es stimmt, müsste man beiden Spielern die internationale Klasse absprechen. Dem ist beileibe nicht so. Insbesondere Hummels hat diese Klasse schon mehrmals bewiesen und er wird in der Nationalmannschaft mittelfristig, wenn nicht sogar schon kurzfristig bei der EM, eine wichtige Komponente werden. Bei Schmelzer muss man abwarten. Grundsätzlich sind Leistungen bei der EM-Vorbereitung kein Indikator von Qualität, sondern von hartem Vorbereitungstraining und diverser anderer Faktoren.
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SPOX: Nämlich?
Wormuth: Speziell im Falle der A-Nationalmannschaft sind diese mentalen Ursprungs. Auch wenn die Bayern-Spieler Profis sind, sind es nur Menschen. Und dauernd Zweiter zu werden, ist mental nicht immer leicht zu verarbeiten. Das hat zumindest kurzfristig Einfluss auf die Leistung. Zudem sind Endspiele Saisonhöhepunkte, die danach zu einem kräftigen Durchatmen und einem Nachlassen der Spannung führen, was sich auf eine Leistung in einem Freundschaftsspiel auswirkt.
SPOX: Kölns Ex-Trainer Stale Solbakken hatte im "Kicker"-Interview eine systematische Erklärung für das schwache internationale Abschneiden der Dortmunder: Weil beim BVB der Innenverteidiger und nicht der offensive Außen dem Außenverteidiger beim Doppeln an der Seite aushelfen würde, stünden die Innenverteidiger "oft nicht zentral vor dem Tor", weswegen deutlich mehr Gegentoren fielen. Ist diese These stichhaltig - auch mit Blick auf das DFB-Team?
Wormuth: Bei dieser Aussage war ich zunächst selbst ein wenig überrascht, denn ich hatte dieses Verhalten der Dortmunder ganz anders in Erinnerung. Ich bin in der letzten Saison mit einem Vortrag durch die Republik gereist, der da hieß: "Der große Fußball entscheidet sich im Detail." Dabei habe ich beim Themenpunkt "elementares Abwehrverhalten", worunter "schieben, stellen, sichern, doppeln, Zweikampfverhalten" fällt, Dortmunder Szenen als Beispiele gezeigt. In denen hatte Großkreutz als 11er seinem Kollegen Schmelzer als 3er unterstützt. Auf der rechten Seite war es nicht anders. Okay, ich sehe nicht alle Spiele der Dortmunder und von daher kann es schon solche Situationen, wie von Stale Solbakken beschrieben, gegeben haben. Das jedoch alleine als Erklärung internationaler Schwäche zu bezeichnen... ich weiß nicht. Außerdem hat der 1. FC Köln mit seinen innen gebliebenen Innenverteidigern nicht gerade Erfolg gehabt. So einfach ist der Unterschied der Dortmunder Leistung nicht zu erklären.
SPOX: Liegen die Probleme von Hummels und Schmelzer in der Nationalmannschaft darin begründet, dass Ihnen die Umstellung aus Dortmund nicht gelingt?
Wormuth: An der These ist meiner Meinung nach nichts dran, um die Frage dennoch konkreter zu beantworten, möchte ich darauf hinweisen, dass die Spielweise der Nationalmannschaft und der von Dortmund in einigen Situationen sehr ähnlich oder sogar identisch ist. Spieleröffnungen laufen nicht mehr mit langen Flugbällen ab, sondern mit flachen, scharfen und vertikalen Pässen. In beiden Mannschaften wird hoch verteidigt, entsprechend muss die Viererkette schnell nachrücken, die Räume eng halten und immer auf der Hut sein, wenn der Gegner sich aus dem ersten Pressing befreien kann oder mit langen Bällen agiert. Die Außenverteidiger müssen sich ständig hoch aufstellen und nach vorne agieren. Also: Wo müssen sich die Dortmunder verändern? Wenn, dann nur im Zusammenspiel mit den vielen Bayern auf dem Platz. Doch dafür sind sie Profis und haben Trainer, die ihnen da behilflich sind.
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SPOX: Um es mit Ihren Begrifflichkeiten "Grundordnung" und "System" zu illustrieren: Das DFB-Team und Dortmund spielen mit dem 4-2-3-1 in der gleichen Grundordnung. Gibt es allerdings beim System, also den Verhaltensweisen auf den einzelnen Positionen, ebenfalls keine grundlegenden Unterschiede?
Wormuth: Beide spielen in der Tat die gleiche Grundordnung - grundsätzlich. Und auch die Verhaltensweisen sind sich immer ähnlicher geworden. Insbesondere für die kommende EM will Jogi Löw, und das hat er in vielen Interviews preisgegeben, wie Dortmund oder Barcelona nach Ballverlust innerhalb von vier bis sechs Sekunden den Ball sofort zurückerobern. In der Offensive wird es dagegen schon Unterschiede geben. Das Gros der ersten Elf ist bayrisch und von daher wird das schnelle Umschalten der Dortmunder mit der geduldigen Spielweise der Bayern konfrontiert. Aber das wird der Bundestrainer schon hinbekommen.
SPOX: Können Sie die Unterschiede in der Offensive konkreter beschreiben?
Wormuth: Die Bayern lieben es, den Ball in den eigenen Reihen zu halten, um den Schnittstellenpass als finalen Pass zu suchen. Geduld ist deren Maxime. Das heißt: Nach Balleroberung schalten sie nicht unbedingt schnell um. Dies hat sich zwar verbessert, es ist trotzdem nicht das erste Ziel. Im Gegenteil zu Dortmund, die sofort nach Balleroberung den Ball nach vorne bringen wollen. "Erster Blick nach vorne" heißt die Devise. Beide Verhaltensweisen sind in der Nationalmannschaft das Ziel. Nach Balleroberung sofortiges vertikales Spiel in die Spitze oder alternativ die Ballzirkulation in Gegners Hälfte, wenn der "erste Blick nach vorne" nicht funktioniert.
SPOX: Plakativ gefragt: Löw will das Beste von Dortmund von Bayern mischen?
Wormuth: Der optimale Fußball bei der A-Nationalmannschaft könnte in der Tat so aussehen, dass nach Ballverlust der Gegner erst "spanisch" gejagt wird, um in vier bis sechs Sekunden den Ball zurückzuerobern. Danach heißt es nur noch "augsburgisch" hinter den Ball kommen. Und dann entscheidet die Kompaktheit, wo man wieder klassisch gegen den Ball arbeitet. Nach der Balleroberung wäre der optimale Fall so, dass das Team sofort den aufgerückten Gegner durch ein vertikales Spiel in die Spitze "dortmundisch" aushebelt oder eben alternativ den Ball "bayrisch" in den eigenen Reihen, aber in Gegners Hälfte, hält und auf den finalen Pass spielt.
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SPOX: Der Unterschied in der Offensive lässt sich an Hummels festmachen: Während Klopp in Dortmund Hummels dazu ermutigt, lange und hohe Pässe zu spielen, verbietet Löw dies und hält Hummels an, vor allem kurz und flach zu passen. Was spricht für und gegen die jeweiligen Vorgaben?
Wormuth: Ich glaube, dass Jürgen Klopp diese Ansicht schon ein wenig revidiert hat. Hummels spielt immer mehr eher flach die Bälle nach vorne als hoch. Lange Flugbälle haben den Vorteil, dass hinten kein Ballverlust entstehen und vorne ein gewonnener "zweiter Ball" zu einem Abschluss in Tornähe führen kann. Hier entsteht jedoch ein 50:50-Verhältnis zwischen Ballgewinn und Ballverlust. Wenn man den Ball eben nicht dauernd hinterherrennen will, sollte man ihn nach vorne flach tragen, um die "Red Zone" zu erreichen, also die Zone vor dem Strafraum des Gegners, aus der der finale Pass kommt. Flach erhöht die Wahrscheinlichkeit des Ballbesitzes und hat den Vorteil, den Zufall auszuschalten, einstudierte Angriffszüge umzusetzen und die Torabschlussquote zu erhöhen.
SPOX: Keine Nachteile?
Wormuth: Der Nachteil: Man kann unterwegs den Ball verlieren, während die eigene Abwehr "geöffnet" steht - was im Toplevel-Fußball einer EM sehr schnell zu einem Gegentor führen kann, weil dort Fehler eher bestraft werden.
Der zweite Teil des EM-Interviews mit Frank Wormuth erscheint am Samstag. Das Thema: Die Rückkehr der Manndeckung und die Krux mit den Standards.Wormuth wird während der EM als SPOX-Eperte tätig sein und sich regelmäßig zu Wort melden, um über taktische Trends bei der EM aufzuklären.
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