"Özil ist ein Weltklasseverteidiger"

Haruka GruberDaniel Börlein
05. Juli 201215:01
Mesut Özil bekämpft Klaas-Jan Huntelaar im Gruppenmatch gegen die Niederlande (2:1)Getty
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Spanien entdeckt das echte Ich, Italien verlangt nach Gegentrends - und Deutschland? SPOX-Experte Frank Wormuth, Leiter der Fußball-Lehrer-Ausbildung und Coach der deutschen U-20-Nationalmannschaft, über Jogi Löws Probleme und "Weltklasseverteidiger" Mesut Özil.

SPOX: Spanien verteidigt den EM-Titel und wird nach dem Finale allseits gelobt. Im vorherigen Turnierverlauf überwog die Kritik ob des vermeintlich einschläfernden Kurzpassspiels. Waren Sie ebenfalls gelangweilt von Spanien und wurden erst im Finale unterhalten?

Frank Wormuth: Die spanische Spielweise war uns allen bereits vor dem Turnier bekannt. Entsprechend waren die Erwartungen. Überraschenderweise spielten sie nicht in der ballbesitzenden Penetranz vergangener Tage. Es mag sein, dass das pfeifende Publikum nach den ersten Tiki-Taka-Ballpassagen die Spieler verunsicherte und sie deswegen sehr schnell den Risikopass spielten. Vielleicht waren die Spanier ein wenig überspielt, denn dieses Jagen des Balles nach Ballverlust in Gegners Hälfte, genauso wie das Investieren in Läufen aus der Tiefe in die Tiefe wie beim Tor von Jordi Alba im Endspiel, kostet eine Menge Kraft. Es könnte aber ebenso sein, dass das erste Spiel gegen die Italiener die Spanier verunsicherte. Dennoch bleibt es Fakt: Spanien zeigte im Endspiel das wahre Gesicht. Von daher ein absolut verdienter Europameister.

SPOX: Eine zugegeben hypothetische Frage: Hätte Deutschland besser ausgesehen als Italien?

Wormuth: Eine meiner Lieblingsfragen, denn auf diese Art der Fragen kann ich nur antworten: keine Ahnung. Um trotzdem einen zweiten Satz anzufügen: Ich glaube ja. Denn seit Jahren wird der spanische Spielstil von den Verantwortlichen der A-Nationalmannschaft analysiert und mit den Erfahrungen der letzten Begegnungen hätte man sicherlich bessere Maßnahmen getroffen als im Spiel gegen die "unbekannteren" Italiener.

SPOX: Welche Fehler beging Italien? Im Auftaktspiel sah Italien im 3-5-2 gegen Spanien wesentlich besser aus. Unter anderem hatte der im Finale überragende spanische Linksverteidiger Jordi Alba große Probleme gegen Italiens rechten Flügelspieler Christian Maggio, der im Finale nur auf der Bank saß.

Wormuth: Ich glaube, dass der einzige Unterschied zwischen den beiden Spielen im Verhalten der Spanier lag. Die spanischen Spieler standen mit einer ganz anderen Einstellung auf den Platz. Von der ersten Sekunde an hatte ich das Gefühl, dass sie wieder in Laufwege investierten. Und genau das ist das Geheimnis der Spanier: Immer den Gegner beschäftigen, nie zur Ruhe kommen lassen. Den Gegner mit Ball jagen, die Läufe in die Schnittstellen der Ketten der Italiener forcieren, auch wenn man umsonst läuft. Nicht nachdenken, sondern rennen und passen, passen, passen. Und in der Handlungsschnelligkeit sahen wir wieder die alten Xavis und Iniestas. Allein der Pass zu dem bereits erwähnten Jordi Alba, der zum Torabschluss kam, war das Eintrittsgeld - zumindest für den Ausbilder - wert.

SPOX: Das Finale war die mit Abstand beste Leistung der Spanier. Nicht nur wegen der spektakulären Offensive, sondern auch wegen der Defensive. War es das perfekte Gegenpressing?

Wormuth: Zunächst sollte man das Wort "Gegenpressing" definieren. Dieser Begriff stimmt nur, wenn ein Team gepresst wird, es dann den Ball verliert und unmittelbar danach den Ball wieder durch Pressing erobern will. Diese Art des Fußballs kommt seltener vor, doch im Endspiel sahen wir in der Tat öfters ein Gegenpressing und es war die beste Turnierleistung der Spanier. Aber: In vergangenen Tagen war ihr Gegenpressing schon bedeutend besser. Die Spieler wurden nun mal älter und hatten eine lange Saison hinter sich.

SPOX: Auffällig war, dass die Italiener weit vom Tor weggehalten wurden und so niemand für Pirlo abgestellt werden musste.

Wormuth: Es ist in der Spielphilosophie der Spanier verankert, dass sie in der Offensive durch einrückende Außen und nachrückende Innen eine Überzahl, mindestens eine Gleichzahl hinter ihrer Spitze herstellen. Bei Ballverlust in dieser Region, im letzten Drittel, ist der Weg zum Ballführer damit sehr kurz und sie können unter anderem Pirlo sofort durch den am nächsten stehenden Spieler unter Druck setzen.

SPOX: Vom Finale mit zwei Vorlagen abgesehen, fiel Xavi bei der EM wesentlich weniger auf als sonst. Man hatte den Eindruck, dass seine wichtigste Aufgabe darin bestand, als erster Pressingspieler den Gegner beim Spielaufbau zu attackieren. Was sagen Sie zur Bedeutung von Xavi bei der EM?

Wormuth: Xavi steht sinnbildlich für die überspielten Spanier. Er war nicht mehr in der Verfassung vergangener Tage und dennoch so stark, dass er zu den Besten gehörte. Aufgrund seiner Position im vorderen Bereich und des Spielkonzepts der Spanier muss er einer der ersten sein, der den verlorenen Ball sofort wieder zurückerobert. Das ist die taktische Marschroute nach Ballverlust im letzten Drittel. Und das hat er hervorragend gemacht.

SPOX: Sie zeigten sich während der EM begeistert von Pirlo. War er Ihr Spieler des Turniers? Genauer gefragt: Wer hat Ihnen vor allem defensiv-taktisch besonders gefallen?

Wormuth: Es fällt mir schwer, irgendjemanden hervorzuheben. In jeder Mannschaft gibt es Spieler, die unauffällig und zugleich effektiv für das Team arbeiten. Wenn ein Sechser die Passwege, also die Räume, ständig durch seine hohe Laufbereitschaft zustellt und der Ball gar nicht gespielt werden kann, fällt er nicht auf, obwohl er den Spielaufbau des Gegners zerstört. Manchmal sind die Aktionen ohne Ball viel wertvoller. Sami Khedira hat mir sehr gut gefallen, der hat in beide Richtungen richtig gut gearbeitet. Wenn er noch das ein oder andere Tor geschossen hätte, wäre er mein Mann des Turniers gewesen. Und wir Deutschen im Endspiel.

SPOX: Eine der großen Stärken von Spanien und Italien war die taktische Variabilität. Nicht nur in der Grundordnung, sondern in den Verhaltensweisen. Fast mühelos schien Spanien sich auf ein Spiel mit oder ohne echte Keilspitze anpassen zu können. Italien spielte mal abwartend im 3-5-2, mal angriffslustig im 4-4-2-Raute. Sehen Sie das ähnlich?

Wormuth: Ja. Bei den Spaniern ist man es gewohnt, dass sie in der Positionstaktik variabel sind. Die Italiener setzten noch einen drauf. Ihre Rückkehr zu der alten 3-5-2-Grundordnung gepaart mit der Ballorientiertheit im modernen Fußball war richtig angenehm anzuschauen. Natürlich ist das alles nichts Neues, es spiegelt das Verlangen des Trainers nach Veränderung oder nach Gegentrends wieder. Also keine Innovation, sondern eher eine Neuinterpretation früheren Verhaltens. Aber bei allem Lob: Ich bin immer noch ein Verfechter davon, dass am Ende die individuelle Qualität der Spieler in der taktischen Ausrichtung auschlaggebend für Sieg oder Niederlage ist, und nicht die Veränderung in einer Grundordnung.

SPOX: Dennoch eine Nachfrage: Ist diese angesprochene Variabilität die Fähigkeit, die den Deutschen noch abgeht?

Wormuth: Nein, wir hatten sie schon einmal bei der WM 2010 in Südafrika. Allerdings war die Vorbereitung auf die EM keine besonders gute für das Training der Variabilität. Wir wissen alle, ab welchem Zeitpunkt Jogi Löw seine komplette Mannschaft auf dem Platz hatte. Beziehungsweise so auf dem Platz hatte, dass sie richtig arbeiten konnte. Selbst als alle zusammen waren, lag auf der Thematik Regeneration eine größere Bedeutung als das Einstudieren von Variabilität. Das kostet einfach Zeit, die nicht zur Verfügung stand.

SPOX: Wie bewerten Sie die Leistung der Deutschen gegen Italien? Hat aus taktischer Sicht etwas nicht funktioniert? Oder waren die Gründe woanders zu suchen?

Wormuth: Heißes Thema, zumal ich ja ein wenig in die Gedanken und Vorbereitungen durch mein Scouting eingebunden war und die letzte Analyse des Trainerstabs noch nicht abgeschlossen ist. Sie sind so akribisch, dass sie sich mit dieser Thematik in Ruhe und mit der nötigen Distanz beschäftigen werden - trotz Offensichtlichkeit der Problematik für den gemeinen Zuschauer. Fakt ist, dass die taktischen Vorstellungen Gründe hatten, die wir von außen nicht beurteilen können, weil wir nicht in den Trainingseinheiten und den persönlichen Gesprächen zwischen dem Spieler und dem Trainer dabei waren. Den Prozess kann kein Außenstehender, kein Experte und kein Ex-Nationalspieler, ohne Wissen der internen Dinge detailliert nachvollziehen.

Teil II: Wormuth über die Kroos-Kritik und sein Aufruf an die SPOX-Gemeinde

SPOX: Vor allem Toni Kroos' Hereinnahme als Mischwesen aus Rechtsaußen/hängende Spitze/Pirlo-Bewacher sorgte in Deutschland für Unmut. Verstehen Sie die Kritik? Was lief falsch?

Wormuth: In jeder Kritik steckt immer eine emotionale Ursache. Wir waren doch alle enttäuscht ob des Ausscheidens. Lassen wir das Spiel nochmals vor den Augen ablaufen und die Torchancen allein von Hummels positiv werden, wären wir im Endspiel gewesen. Im Nachhinein ist es immer einfacher zu kritisieren. Wenn ein Spieler im Training top drauf war und man ihm vertraut, er aber in der Nacht vor dem Spiel eine Begegnung der unheimlichen Art hatte, kann der Trainer leider nichts dafür, egal ob er am Ende die Verantwortung trägt. Die Spieler sind ein Stück weit für ihre Leistung auf dem Platz selbst verantwortlich. Ich bin kein Freund von Schwarz-Weiß-Denken.

SPOX: Die Umstellung mit Kroos war offenbar nötig, weil es Mesut Özil nicht zugetraut wurde, Pirlo unter Druck zu setzen und richtig anzulaufen. Ist es eine Kernkompetenz, die Özil noch erlernen muss, um zur Weltklasse wie Iniesta und Xavi zu gehören?

Wormuth: Er ist auf seine Art Weltklasse, auch wenn er nie das Defensivverhalten eines Iniesta oder Xavi erreichen wird. Zumindest kann ich es mir aktuell nicht vorstellen. Da muss dem guten Özil in der Nacht wirklich eine besondere Vision erscheinen. Er ist nicht der Typ dazu. Vielleicht reichte die Effektivität am Ende nicht aus, um ins Endspiel zu kommen, dafür hat er in der Offensive hervorragende Eigenschaften, die er immer wieder in den EM-Spielen gezeigt hat. Und verglichen zum Defensivverhalten von Andrei Arshavin oder Cristiano Ronaldo ist Özil ein Weltklasseverteidiger.

SPOX: Die deutschen Spieler sind dazu angehalten, keine unnötigen Fouls zu begehen. Fehlt den Deutschen gegen Italien nicht dadurch die gewisse Grundaggressivität? Spaniens Pique und Ramos gingen im Finale ordentlich zur Sache und nutzten Fouls als fußballerisches Mittel, um den Gegner zu stoppen und um ein Zeichen zu setzen. Oder ist der Gedanke zu sehr "Stammtisch"?

Wormuth: Gute Frage. Auf der einen Seite soll man "unforced errors" vermeiden, die zu gefährlichen und unnötigen Standards führen und auf der anderen Seite muss man zwischendurch immer mal dem Gegner zeigen, dass es kein Zuckerschlecken ist, wenn er in die andere Hälfte kommt. Es ist die Balance, die stimmen muss.

SPOX: In der gesamten EM gab es keine einzige Rote Karte für einen Feldspieler und insgesamt nur zwei Gelb-Rote Karten, wobei die Hinausstellung für Griechenlands Sokratis ungerechtfertigt war. Ist es zu einer Qualität geworden, "klug" zu foulen? Oder ist das nur eine statistische Anomalie ohne Aussagekraft?

Wormuth: In der Tat gehen die Spieler "klug" in die Zweikämpfe. Zudem wird durch das Doppeln des Ballführers ein Foul viel eher vermieden. Einer stellt den Gegner am Ball und beschäftigt ihn, ohne den Ball erobern zu wollen. Der Andere kommt hinzu und holt sich die Kugel fair und effektiv. Außerdem fiel bei dieser EM besonders auf, dass sich die Teams ballorientiert langsam zum eigenen Strafraum bewegen und somit vielbeinig den immer enger werdenden Raum zustellen. Da wird es schwer, sich durchzusetzten oder gar ein Foul "herauszuholen".

SPOX: Mats Hummels und Holger Badstuber gehörten zu den Gewinnern der EM - bis Italien kam. Auffällig war, dass Hummels und vor allem Badstuber unheimliche Probleme gegen den Zweier-Sturm der Italiener hatten. Kann es damit zusammenhängen, dass sie sich sonst gegenseitig absichern können, gegen zwei Angreifer jedoch durchgängig einzeln gefordert waren? Oder fehlte ihnen schlichtweg die Unterstützung aus der Doppelsechs?

Wormuth: Es ist tatsächlich so. Durch das meist in der Bundesliga gespielte 4-2-3-1 oder zumindest das Spiel mit einer Keilspitze wissen die Innenverteidiger immer eine gegenseitige Absicherung neben sich. Selbst wenn der Gegner mit einer hängenden Spitze kommt, ist es noch einfacher für die Innenverteidiger als wenn zwei ganz vorne postierte Stürmer auflaufen. Die Doppelsechs kann hier kaum unterstützend wirken, weil die beiden defensiven Mittelfeldspieler nach vorne mit ihrem Blick arbeiten. Allerdings hingen die deutschen Gegentore nicht mit dem italienischen Zweiersturm zusammen: Beim ersten Gegentor hatten wir eine 3-gegen-1-Situation am Strafraum und beim zweiten Gegentor nach Konter standen zwei Spieler neben Balotelli.

SPOX: Um den Kreis zum ersten Interview vor der EM zu schließen: Italiens Führungstor fiel genauso, wie es Kölns Ex-Trainer Stale Solbakken angemerkt hatte: Hummels geht raus zum Doppeln und entblößt das Zentrum. Fühlten Sie sich daran erinnert? Oder war das kein systematisches Problem sondern nur eine Ausnahme?

Wormuth: Dieses Verhalten von Hummels hatte nichts mit Solbakken und seiner Vorstellung von Fußball zu tun, sondern dieser junge Klassespieler hat sich schlichtweg "eindrehen" lassen, weil er zu schnell auf den Ballführer zuging. Er wollte den Ball aktiv erobern, hätte stattdessen lieber, wie vorher bei der Frage nach "klugem" Zweikampfverhalten erklärt, einfach nur passiv hinten dran bleiben müssen. Es waren ja noch andere Spieler um den Ball herum. Ein klassisch individueller Fehler.

SPOX: Bei aller Kritik an Deutschland: Welche positiven Schlüsse ziehen Sie aus der EM aus deutscher Sicht?

Wormuth: Wir dürfen nicht vergessen: Unsere Nationalmannschaft war die jüngste im Turnier und zum wiederholten Male unter den besten vier Mannschaften. Zudem hat sie einen Weltrekord an gewonnenen Pflichtspielen in Serie aufgestellt, sich in einer sehr starken Gruppe durchgesetzt und am Ende das Endspiel nur knapp verfehlt. Immerhin hatten sie gegen Italien die meiste Ballbesitzzeit und die meisten Zweikämpfe gewonnen. Also: Engagement lag vor. Dass es am Ende nicht gereicht hat, ist schade, die Entwicklung der letzten Jahre zeigt trotz allem, dass wir mit dieser Mannschaft über eine sehr gute Basis verfügen, um in naher Zukunft doch endlich diesen Titel zu holen, den jeder fordert. Bei aller Enttäuschung: Die Spieler sind keine Maschinen, sondern Menschen mit viel Geld auf dem Konto, aber mit den gleichen Gefühlen wie wir "verarmten" Zuschauer.

SPOX: Wohin könnte der weitere Weg führen? Was könnte der nächste taktische Evolutionsschritt der Deutschen sein?

Wormuth: Das ist eine Frage, die ich gerne an die SPOX-User weiterreichen möchte. Ich will nicht vorweggreifen, vielleicht bekommen wir von den Lesern die eine oder andere Anregung. Ich halte sowieso viel von dem Gedanken, als Trainer ab und zu mal den Neutralen außerhalb des Trainerteams zu befragen, denn der sieht manchmal alles ganz einfach und somit klarer. Ich hoffe auf rege Beteiligung!

Der gesamte EM-Spielplan