Giovanni Zarrella im Interview vor EM-Start: "Mein Sohn und Totti - Toni Rüdiger hat mir diesen Moment geschenkt"

Florian Regelmann
11. Juni 202108:46
Giovanni Zarrella sieht die Italiener bei der EM auf einem Rachefeldzug.spox
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Musiker Giovanni Zarrella spielte in der Jugend für die Roma und bezeichnet Fußball neben der Musik als seine ganz große Leidenschaft. Vor dem EM-Auftakt (Italien vs. Türkei, 21 Uhr im LIVETICKER) spricht der 43-jährige Sänger über seine Freundschaft zu Nationalspieler Antonio Rüdiger und erklärt, warum sich Italien auf einem Rachefeldzug befindet.

Außerdem verrät Zarrella, der zuletzt mit seinem zweiten Album "CIAO!" erstmals die Spitze der Charts als Solokünstler erreichte, bei welchem Karriereende er Rotz und Wasser heulte, wie er bei der WM 2006 im Auto sitzend fast gestorben wäre vor Anspannung und wie sehr er mit der Roma leidet.

Weitere Themen: Francesco Tottis Abschied live im Stadion und der denkwürdige Abend, an dem er 113 Kölsch ausgeben musste.

Herr Zarrella, die Roma ist Ihr großer Herzensverein, Sie haben sogar selbst in der Roma-Jugend gespielt, wie lief das damals?

Giovanni Zarrella: Alles fing bei einem internationalen Jugendturnier an, bei dem ich damals mitspielte und bei dem auch die Roma-Jugend dabei war. Da wurde ich praktisch gescoutet. (lacht) Mein Vorteil war es, dass die Leute von der Roma vor Ort schlechtes Englisch gesprochen haben und froh waren, mit meinem Vater jemanden zu haben, mit dem sie sich auf Italienisch unterhalten konnten. Dazu kam, dass ich einerseits Linksfuß war, die sind heute teilweise ja immer noch rar gesät, aber gerade damals war das noch mehr der Fall, und andererseits habe ich für die Italiener die deutschen Eigenschaften verkörpert. Fleiß, Beharrlichkeit, Disziplin. Ich bin dann erstmal zu einem Probetraining eingeladen worden und da war ich sofort auch Il Tedesco. Der Deutsche.

Wie ging es dann weiter?

Zarrella: Ich habe die Chance bekommen, zu bleiben und für uns als Familie war das damals ein Volltreffer. Mein Papa kommt aus Rom und hat sich total gefreut, wieder in die italienische Heimat zurückzukehren. Leider war die Zeit dann relativ kurz, wir waren am Ende nicht einmal ein ganzes Jahr in Rom, auch weil mein Großvater in der Zeit leider verstorben ist. Er war das Familienoberhaupt, das war ein schwerer Schlag für uns. Der Fußball war in der Zeit der Strohhalm, der mich gerettet hat, weil es auch in der Schule nicht so einfach war.

Aber von der Sprache her hätte Ihnen das doch leicht fallen müssen.

Zarrella: Ich war aber wie ein Fremdkörper, ich habe damals auch kein ganz sauberes Italienisch gesprochen. Und das Schreiben ist nochmal eine andere Geschichte. In der Musik hatte ich auch keine Kontakte in Rom, es war wirklich der Fußball, der mich aufgefangen hat. Ich bin alleine mit dem Bus zum Trainingsgelände gefahren, das haben mir meine Eltern erlaubt. Heute würde ich als Vater einen Herzinfarkt bekommen, aber meine Eltern haben mir das zugetraut. So bin ich hingefahren, habe trainiert und bin am späten Abend zurückgekommen. Das war toll. Auch deshalb denke ich bis heute sehr gerne an die kurze, aber schöne Zeit zurück. Ich habe immer noch die Trainingstasche, die ich damals bekommen habe. Auch ein paar alte Trainingsshirts, die werde ich nie hergeben. Und ich erinnere mich fußballerisch vor allem sehr gut, wie krass der Unterschied war von Deutschland zu Italien, was die Taktik-Schulung angeht.

Inwiefern?

Zarrella: Als ich dort war Anfang der 90er Jahre, begann gerade die ganz große Zeit der Serie A, es war die Blütezeit von Arrigo Sacchi - und das hat man in jedem einzelnen Training gemerkt. Es wurde ständig unterbrochen, um einen Spieler wieder von A nach B zu schieben und taktisch etwas zu erklären. Ich war teilweise schon fast genervt davon, weil ich es gewohnt war, mehr zu spielen, aber im Nachhinein muss ich sagen, dass diese Zeit enorm wertvoll war. Man hat richtig gesehen, wie sich so Automatismen einfach viel schneller und besser einspielen.

Zarrella: "Ich höre jeden Tag römisches Radio"

Wie ambitioniert waren Sie denn damals unterwegs? Wenn man in der Jugend eines so großen Klubs spielt, ist der Traum vom Profi ja unweigerlich da.

Zarrella: Das stimmt. Ich finde, das Wort ehrgeizig ist so ein bisschen negativ behaftet, aber ich war schon ambitioniert und sehr beharrlich. Ich wollte etwas erreichen. Das hat sich auch bis heute nicht geändert. Wenn ich heute in den Alten Herren spiele und wir verlieren, habe ich immer noch schlechte Laune. Ich habe sogar schlechte Laune, wenn ich einen Trainingskick verliere. Dann ärgere ich mich. Wenn ich etwas mache, dann mache ich es richtig. Das gilt für alles im Leben und vor allem für den Fußball. Um den Weg zum Profi gehen zu können, brauchst du aber auch immer ein bisschen Glück. Du brauchst einen Trainer, der dir eine Chance gibt, das Timing muss passen, wenn vielleicht gerade auf deiner Position mal jemand ausfällt. Es kann aber genauso gut passieren, dass du in der Serie C versauerst und den Sprung nie schaffst.

Sänger Giovanni Zarrella ist leidenschaftlicher Roma-Fan und kickt auch gerne noch selbst.imago images

Und Sie hatten ja immer auch noch die Musik.

Zarrella: Genau. Bei mir war es immer so, dass die Musik und der Fußball meine beiden großen Leidenschaften waren. Ich habe so lange wie möglich versucht, parallel beides zu machen. Aber mir war klar, dass das irgendwann nicht mehr funktionieren kann und als die Musikkarriere durch das Popstars-Casting Fahrt aufnahm, war es mit dem Fußball in der Form vorbei. Aber ich bin so glücklich, wie alles gekommen ist, weil ich meine großen Leidenschaften auch heute jeden Tag ausleben darf. Es gibt drei Dinge, ohne die ich nicht leben könnte: Die Familie, die Musik und der Fußball. Diese drei Themen bestimmen mein Leben. Diese drei Themen machen mein Leben aus. Egal, ob es als Musiker ist oder wenn ich jetzt bald eine große Samstagabend-Show moderieren darf, was auch eine Art Musik-Show sein wird - ich empfinde das nicht als Arbeit. Es ist meine Leidenschaft, der ich nachgehen darf. Ich mache das, was ich liebe. Das ist ein großes Glück.

Wie äußert sich dieser Dreiklang bei Ihnen zuhause?

Zarrella: Unser ganzer Alltag wird dadurch bestimmt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Heute Morgen haben wir gefrühstückt, da lief im Hintergrund Musik. Das ist bei uns immer so. Danach habe ich das römische Radio angeschmissen, um zu erfahren, was bei der Roma los ist. Ich höre jeden Tag römisches Radio. Meine Frau erträgt es manchmal kaum, immer Roma, Roma, Roma, sagt sie dann, aber ich brauche das. (lacht) Dann ging es also um Fußball. Danach habe ich Fanboxen signiert, da war ich wieder bei der Musik. Und jetzt sprechen wir wieder über Fußball. So geht das den ganzen Tag. Wir bauen zuhause auch gerade einen kleinen Soccer-Court, auf dem ich dann mit meinem Sohn kicken kann.

Zarrella: "Bei Baggios Abschied Rotz und Wasser geheult"

Emotional sind die Musik und der Fußball auch sehr ähnlich, oder?

Zarrella: Total. Musik und Fußball verbindet so viel. Wenn ich singe und den Applaus der Zuschauer bekomme, werden bei mir die gleichen Glücksgefühle freigesetzt wie bei einem Tor oder bei einer geilen Abwehraktion. Bei einer geilen Grätsche. Und genauso, wie ich das Teamgefühl im Fußball liebe, das Abklatschen in der Kabine, das gegenseitige Pushen, versuche ich, mir dieses Teamgefühl auch in der Musik zu schaffen. Ich habe ein Team gefunden um mich herum, bei dem ähnlich wie in einer Fußballmannschaft ein Rad in das andere greift. Und wenn wir ein Album veröffentlichen, gemeinsam alles für den Erfolg tun und dann in den Charts auf der Eins landen, fühlt sich das für uns an wie ein großer Titel im Fußball. Die Glücksgefühle sind ganz ganz ähnlich.

Wer war denn Ihr großes Idol in der Jugend?

Zarrella: Ich bin ja wie vorhin erwähnt Linksfuß, deshalb war mein direktes Vorbild immer Paolo Maldini. Maldini war das Nonplusultra auf meiner Position. Wenn ich mir vorstelle, wie er da stand, wie gemalt, wie aus Blei gegossen, wie Herkules. Maldini war wie ein junger Gott. Zu Maldini kam dann ganz schnell auch Francesco Totti dazu, als die große Symbolfigur meines Klubs. Und mein erster richtiger Held war Roberto Baggio. Als er aufgehört hat, habe ich Rotz und Wasser geheult. Baggio war das Symbol für Italianita. Für den Charakter Italiens. Er war kein Fußballer, er war Künstler. Es gab nie mehr einen solchen Spieler, der die Hoffnung eines ganzen Landes so personifiziert hat wie damals Baggio.

Sie haben Totti angesprochen. Als Sie in der Roma-Jugend waren, kam auch Totti gerade hoch.

Zarrella: Francesco Totti, das goldene Kind. Es war interessant, weil Totti zwei Jahre über mir war und man damals schon gewusst hat, dass hier ein ganz besonderer Junge heranwächst. Wir haben auch in der Kabine über ihn gesprochen, alle haben über ihn gesprochen. Ich habe ihn meine ich auch einmal persönlich spielen sehen. Er hatte schon ganz jung Statistiken von einem anderen Planeten, das war sehr außergewöhnlich. Für uns war er das große Vorbild, das allen zeigt, dass man es nach oben schaffen kann.

Wenn wir uns vor Augen führen, welche Karriere Totti hingelegt hat. Woran müssen Sie vor allem denken?

Zarrella: Das Tolle für mich persönlich ist, dass ich bei Tottis erstem Tor und bei seinem Abschied live im Stadion war. Das erste Tor war gegen Foggia. Furchtbares Spiel. 1:1. Damals mit der Mannschaft um Kapitän Giuseppe Giannini. Aber Totti hat richtig Radau gemacht in dem Spiel und da war er erst 17. Und dann hat sich der Kreis für mich geschlossen mit dem Abschied gegen Genua, als er kurz nach der Halbzeit für einen gewissen Salah reinkommt und Perotti in der letzten Minute noch das wichtige 3:2 zur Champions-League-Qualifikation schießt. Das war aber für mich gar nicht das große Highlight, das für immer Unvergessliche kam nach dem Spiel.

Bei der Abschiedszeremonie?

Zarrella: Ja, ich kriege Gänsehaut, wenn ich jetzt wieder daran denke. Toni Rüdiger hat ja zu diesem Zeitpunkt für die Roma gespielt und wir sind echt sehr gute Freunde geworden. Ich sitze also da im Stadion neben Tonis Bruder und meinem Sohn und kurz bevor Totti auf die letzte große Abschiedsrunde im Stadion geht, winkt Toni mich plötzlich her. Ich wusste gar nicht, was er will. Auf jeden Fall kommt Toni zu uns her und sagt mir, dass ich ihm mein Handy rüber geben soll und er hebt meinen Sohn über die Bande zu sich. Und dann bringt er meinen Sohn zu Tottis großer Abschiedsrunde.

Emotionaler geht es kaum.

Zarrella: Mein Kapitän, Francesco Totti, läuft mit meinem Sohn die Ehrenrunde. Mein Kapitän, bei dem ich damals bei seinem ersten Tor im Stadion saß, zusammen mit meinem Sohn, dem ich meine Passion zum Fußball und für die Roma weitergegeben habe. Toni hat dann noch ein Foto von Totti und meinem Sohn gemacht. Wenn ich so daran denke, könnte ich schon wieder heulen. Das hat mir so viel bedeutet. Und Toni wusste um meine Leidenschaft und hat mir diesen Moment quasi geschenkt. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.

Zarrella: "Dank Manolas musste ich 113 Kölsch ausgeben"

Diese Geschichte sagt sehr viel über Toni Rüdiger aus.

Zarrella: Toni ist so ein guter Junge. So bodenständig, so herzlich, so respektvoll. Er ist immer noch der gleiche Junge, den ich damals kennengelernt habe. Ich bin total stolz auf ihn und den Weg, den er gemacht hat. Dass er jetzt sowohl bei Chelsea als auch in der Nationalmannschaft ein Führungsspieler geworden ist, ohne den man sich die Mannschaft gar nicht mehr vorstellen kann, hat er sich durch enorm harte Arbeit so verdient. Wenn Sie mich fragen, gibt es aktuell kaum bessere Abwehrspieler auf der Welt. Mit seiner körperlichen Stärke, seiner Dynamik, seiner Zweikampfstärke. Ich war todtraurig, als er damals die Roma verlassen hat.

Rüdiger kommt ja aus der VfB-Jugend, Ihrem zweiten Herzensverein neben der Roma. Wie sehr verfolgen Sie noch das, was sich in Stuttgart abspielt?

Zarrella: Ich hatte eine kurze Zeit, als ich mit dem VfB gebrochen hatte. Da muss ich 20 gewesen sein, da hat einer beim VfB meine Ex-Freundin angegraben. Ihn musste ich mir dann mal zur Brust nehmen. Das hat mich damals kurzzeitig echt abgeturnt. (lacht) Aber inzwischen ist alles wieder gut. Der VfB wird auch immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben, ich war nirgendwo so oft im Stadion wie im Neckarstadion. Der VfB ist ein Klub, der auch eine ganz eigene Magie hat. Ich komme immer wieder gerne nach Stuttgart, weil das für mich auch wie nach Hause kommen ist, wenn ich beim VfB im Stadion bin.

Giovanni Zarrella spricht im Interview unter anderem über seine Zeit in der Roma-Jugend.imago images

Wir waren vorhin eigentlich bei Totti und emotionalen Momenten. Die letzte Roma-Meisterschaft 2000/2001 muss logischerweise auch dazugehören, oder?

Zarrella: (lacht) Mamma mia, was für eine Truppe. Montella und Batistuta im Sturm, Totti, Cafu, Emerson, Tommasi, Nakata! Was für eine Monster-Truppe! Und für mich war das Jahr emotional eh der Wahnsinn, weil ich genau in dem Jahr ein Teil von Bro'Sis wurde und da alles über mich hereinbrach. Das war emotional fast nicht zu verarbeiten für mich. Genauso krass war, dieser Moment fällt mir auch gerade noch ein, das WM-Achtelfinale 2006 gegen Australien. Als Italien in Unterzahl spielt, rauszufliegen droht und Totti in der 95. den Elfer unter die Latte hämmert. Das war auch so eine irre Totti-Geschichte, weil er vor der WM so lange verletzt war, Lippi aber auf ihn wartete und Totti dann bei der WM zu unserem Vorlagen-König wurde. Das hat mich damals auch sehr berührt.

In der Zeit nach Totti gab es keinen Scudetto mehr für die Roma, immerhin aber noch den magischen Moment, als man im CL-Viertelfinale Barca rauswarf.

Zarrella: Und als ich im Fantalk zu Gast war und Freibier für alle versprach, sollte die Roma noch das 3:0 machen. Dank Manolas' 3:0 musste ich 113 Kölsch ausgeben, aber das war es definitiv wert. (lacht) Im Rückspiel gegen Liverpool im Halbfinale war ich beim 4:2 live im Stadion, ich könnte mich heute noch darüber aufregen, dass der Schiedsrichter uns nach dem Handspiel von Alexander-Arnold einen Elfer verwehrte und wir das Wunder nach dem 2:5 im Hinspiel um ein Tor verpassten. Aber alleine die Tatsache, dass wir über diese Spiele als die letzten großen Roma-Spiele sprechen müssen, zeigt, wie bescheiden die Zeit nach dem letzten Scudetto insgesamt gelaufen ist.

Zarrella: "Mourinho bringt wieder eine Euphorie auf die Piazza"

Enttäuscht?

Zarrella: Auf jeden Fall enttäuscht. In der Zeit unter James Pallotta als Präsident mussten wir erleben, wie es ist, wenn du einen Boss hast, der rein wirtschaftlich denkt. Pallotta war in all den Jahren gefühlt 5-mal im Stadion, er war nie ein echter Romanista. Gerade für so leidenschaftliche Fans wie in Rom ist das ein Albtraum. Aber er hat den Klub eben als reines Business gesehen und alles aus Boston gemanagt. Das Schlimme ist, dass wir ja über die Jahre immer geile Spieler hatten. Salah war bei uns, Alisson, Szczęsny, wir hatten Alisson und Szczęsny als Nummer eins und zwei, das muss man sich mal vorstellen. Aber gleichzeitig wussten wir, dass wir die Topspieler in zwei Jahren eh wieder gewinnbringend verkaufen werden. So wie es in Dortmund bei Haaland laufen wird. Die Zeit mit Pallotta war schlimm, auch weil wir uns in Roma alle immer einen Präsidenten wie Franco Sensi gewünscht haben. Als Lazio 2000 Meister wurde, hat Sensi gesagt: Der Erzfeind wird Meister? Das geht gar nicht, das müssen wir sofort ändern. Also hat er Batistuta gekauft. Das war etwas ganz anderes.

Was hat sich unter Dan Friedkin verändert?

Zarrella: Friedkin hat sich vom ersten Tag an ganz anders präsentiert, er war glaube ich bis auf ein Auswärtsspiel in der Europa League immer im Stadion. Die Verbindung ist eine ganz andere. Und man muss ihm dankbar dafür sein, dass er den Verein finanziell aus einer miserablen Situation befreit hat. Zufrieden können wir aber insgesamt nicht sein. Wir dürfen nicht zufrieden sein, wenn wir Platz sieben gegen Sassuolo verteidigen und in der nächsten Saison in der Conference League spielen. Rom ist eine der schönsten Städte der Welt, eine Fußball-Hauptstadt, das kann nicht unser Anspruch sein. Aber gefühlt haben wir Stück für Stück diesen Anspruch verloren. Wir hatten eine Zeit, als wir ähnlich dem BVB die Rolle der klaren Nummer zwei inne hatten, aber dann sind wir immer mehr abgerutscht. Plötzlich war Rang vier schon gut, dann die Europa League und jetzt ist es die Conference League. Das ist aber nicht gut. Das ist nicht okay. Umso glücklicher bin ich jetzt, dass Mourinho zu uns kommt.

Ist dessen Zeit nicht vorbei?

Zarrella: Das glaube ich nicht. Für mich gehört Mourinho immer noch zu den besten fünf, sechs, sieben Trainern der Welt. Er hat immer noch diese Aura, ihn umgibt immer noch eine Magie, auch wenn sein letzter Titel etwas zurück liegt. Trotzdem bringt Mourinho wieder eine Euphorie auf die Piazza. Er gibt der Roma ganz dringend benötigte Energie, die uns gefehlt hat. Er scheut sich auch nicht, Dinge klar anzusprechen. Fonseca war der Gentleman-Typ, aber wir brauchten jetzt jemanden, der mehr nach vorne geht. Ich habe es gemerkt, als seine Verpflichtung öffentlich wurde. Wir Roma-Fans haben uns sofort untereinander geschrieben und jede neue Meldung aufgesaugt, so eine aufgeregte Stimmung kannten wir gar nicht mehr. Ich bin total heiß darauf, zu sehen, was Mourinho alles verändert.

Jetzt steht erstmal die EM auf dem Programm. Sie haben vorhin schon die WM 2006 erwähnt, als es um Tottis Elfer gegen Australien ging. Wie haben Sie diese WM damals erlebt? Italien wird Weltmeister in Deutschland, viel mehr geht ja für Sie persönlich nicht.

Zarrella: Ich glaube, jeder weiß heute 15 Jahre später noch, wie dieses Gefühl damals war. Irgendwie war das ja für uns alle der Sommer unseres Lebens. Auch wenn Deutschland am Ende nicht den Titel geholt hat, waren es für das Land insgesamt mit der ganzen Euphorie ja für immer unvergessliche Wochen.

Waren Sie beim Halbfinale gegen Deutschland im Stadion, als Fabio Grosso in der 118. Minute das Tor schoss?

Zarrella: Gott bewahre, das hätte ich nicht überlebt. Beim Halbfinale war ich bei einem Freund in der Pizzeria und in der Verlängerung bin ich im Auto gesessen und habe das Spiel gar nicht mehr angeschaut. Es ging nicht. Ich habe im Auto gesessen und alle paar Minuten das Radio hochgedreht, um zu hören, wie es steht. Dann habe ich es wieder runtergedreht. Und beim Finale war ich auch nicht, weil ich eine solche Angst bekommen habe, dass es Unglück bringt. Ich hatte nämlich ein paar zu viele VfB-Niederlagen live erlebt und bin aus Aberglauben nicht hingegangen. So ein Blödsinn geht einem dann durch den Kopf. Stattdessen war ich in Stuttgart auf dem Königsplatz, als Grosso den entscheidenden Elfer verwandelt hat. Diese ganze Grosso-Geschichte war unglaublich.

Er wurde ja quasi zum Mann des Turniers.

Zarrella: Er holt den Elfer gegen Australien heraus, macht das Tor in der 118. gegen Deutschland und schießt dann den letzten Elfer im Finale. Und kein del Piero, de Rossi oder Pirlo. Aber das hat so viel über diese Truppe ausgesagt. Lippi hat mal erzählt, wie er im CL-Finale 2003 mit Juve gegen Milan keine fünf Schützen finden konnte, alle haben sich weggeduckt. Aber bei der WM 2006 war es das genaue Gegenteil, da hätte jeder geschossen und er wusste gar nicht, wen er weglassen soll. In dieser Mannschaft hat alles gestimmt, das hat man gespürt.

Zarrella: "Ich bin mit Haut und Haaren Italo-Deutscher"

Ist es komisch für Sie, wenn Italien gegen Deutschland spielt?

Zarrella: Sehr komisch und sehr schwierig. Ich bin jedes Mal hin- und hergerissen. Ich bin mit Haut und Haaren Italo-Deutscher. Ich liebe beide Länder, beide Kulturen, Italien und Deutschland haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich glaube, dass das vielleicht auch ein Grund ist, warum mein Album mit den deutschen Hits auf Italienisch gesungen bei den Leuten so gut ankommt - weil man es mir glaubt.

Giovanni Zarrella ist aktuell einer der erfolgreichsten Sänger Deutschlands.Oliver Forstner

Nach der WM 2006 lief es für Italien nicht mehr so gut. Für die WM 2018 konnte man sich nicht mal qualifizieren.

Zarrella: Oh, Mann, haben wir Gian Piero Ventura verflucht. (lacht)

Wenn wir den Bogen etwas weiter spannen: Warum hat Italien so lange nichts mehr gewonnen?

Zarrella: Die verpasste Quali für die WM 2018 war wirklich nur der negative Höhepunkt, wir haben uns ja auch davor herbe Klatschen abgeholt. Ich glaube, dass Italien sich immer schwer damit tut, alte Zöpfe abzuschneiden. Wir sind ein sehr romantisches und melancholisches Volk. Deshalb haben wir zu lange an alten und verdienten Spielern festgehalten. Dazu kommt aber, dass wir auch lange keine Alternativen hatten. Wir hatten zwischenzeitlich ein Qualitätsproblem im Nachwuchs, weil zu viele Spieler aus dem Ausland geholt wurden und man sich in Italien generell etwas schwer damit tut, jungen Spielern eine Chance zu geben und Vertrauen zu schenken. In Rom wurde jetzt mal mit Darboe ein 19-Jähriger reingeschmissen, aber das ist die Ausnahme. In Dortmund ist das die Regel. Das ist der Unterschied.

Zarrella zur EM: "Italien ist auf einem Rachefeldzug"

Aber mit den Jahren ist der Umschwung wieder gekommen. Ein Verdienst von Nationaltrainer Roberto Mancini?

Zarrella: Auf jeden Fall. Seit Mancini da ist, gibt es einen ganz anderen Spirit. Es ist ein ganz anderer Zug im Team. Ich mache mir ein bisschen Sorgen, weil wir jetzt schon so lange nicht mehr verloren haben. So eine Serie kann nicht ewig weitergehen. Ich hätte es besser gefunden, wir hätten uns vor Beginn der EM noch eine Niederlage abgeholt. Aber insgesamt sah es lange nicht mehr so gut aus. Wir haben Gianluigi Donnarumma im Tor, für mich ist er einer der drei besten Keeper der Welt. Und wieviel Erfahrung er mit erst 22 schon hat, ist unglaublich. In der Abwehr haben wir die alte Garde, die immer noch ein Bollwerk hinstellen kann. Und das Mittelfeld ist mit Barella, Jorginho und Verratti das absolute Prunkstück.

Giovanni Zarrella sieht die Italiener bei der EM auf einem Rachefeldzug.spox

Barella hat das Zeug zum Superstar.

Zarrella: Ich glaube, dass Barella einer der großen Stars der EM werden kann. Er ist Italiens Mann der Zukunft. Und vorne haben wir Belotti, Insigne, Chiesa oder Immobile. Das ist nicht ganz mit Mbappe, Griezmann und Benzema zu vergleichen, aber dennoch nicht so schlecht. Und: Ich glaube, dass Italien die hungrigste Mannschaft bei dieser EM sein wird. Italien ist auf einem Rachefeldzug. Man wurde zuletzt belächelt und jetzt scheint die Stimmung in der Truppe zu sein: Okay, jetzt reicht's, wir zeigen es allen! Deshalb ist Italien von allen Mannschaften am meisten bereit, den berühmten einen Schritt mehr zu machen. Das macht Italien an dieser EM so gefährlich. Dennoch habe ich schon Angst vor dem Auftaktspiel gegen die Türken, die waren ja zuletzt unfassbar drauf.

Wie gefährlich ist Deutschland?

Zarrella: Ich schätze Deutschland stark ein. Viel stärker, als die Wahrnehmung aktuell so zu sein scheint. Deutschland wird genau rechtzeitig zum EM-Start voll da sein, davon bin ich wirklich überzeugt. Der Topfavorit muss Frankreich heißen, aber ich sehe trotz des brutalen Kaders schon ein paar Fragezeichen. Wie hungrig sind die Franzosen wirklich nach dem WM-Titel? Dazu kommt, dass sie sehr launisch und immer mal für einen Aussetzer gut sind. Wenn man sie emotional angeht und ihnen den Spaß nimmt, hat man auf jeden Fall Chancen, auch Frankreich zu schlagen.

Sonst noch jemand?

Zarrella: Und dann gibt es noch die Portugiesen, die ich ganz dick auf der Rechnung habe. Das ist auch eine überragend besetzte Mannschaft. Ronaldo, Joao Felix und Jota vorne, Bruno Fernandes, Ruben Dias hinten - das ist absolute Weltklasse. Portugal hat die Fähigkeit, vom technischen Vermögen wie Brasilien zu zaubern. Die Portugiesen können aber auch Drecksäcke sein. Und sie sind trotz des EM-Titels 2016 nicht satt. Bei ihnen bin ich mir da im Gegensatz zu den Franzosen ganz sicher, dafür sorgt alleine Cristiano. Der rüttelt die schon wach, wenn es sein muss.

EM 2021: Die Gruppe A im Überblick

PlatzLandSp.SUNTorePunkte
1.Türkei00000:00
2.Italien00000:00
3.Wales00000:00
4.Schweiz00000:00