Hamit Altintop im Interview: "Schalke fehlt die Erfahrung, um in Istanbul zu bestehen"

Robin Haack
24. Oktober 201812:46
Hamit Altintop spricht über das Spiel der Schalker bei Galatasaray.
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Wenn das komplette Ruhrgebiet am Mittwoch gespannt nach Istanbul blickt und schaut, wie sich der FC Schalke bei Galatasaray in der Champions League schlägt (ab 21.00 Uhr im LIVETICKER und LIVE auf DAZN), wird auch Hamit Altintop mitfiebern.

Der gebürtige Gelsenkirchener wurde bei Königsblau zum Profi, ehe er über den FC Bayern und Real Madrid bei Galatasaray in Istanbul landete. Noch heute pendelt der 84-malige türkische Nationalspieler regelmäßig von seinem Wohnort in Istanbul ins Ruhrgebiet. Wenig überraschend also, dass die Begegnung für Altintop etwas ganz Besonderes ist.

Im Interview mit SPOX und Goal spricht Altintop über Integration, die Probleme im türkischen Fußball, die Veränderungen des Wertesystems und die Favoritenrolle im Duell seiner beiden Ex-Klubs. Außerdem verrät er, warum es in den Spielen zwischen Galatasaray und Schalke um mehr als nur das Sportliche geht.

SPOX/Goal: Herr Altintop, was bedeutet Heimat für Sie?

Hamit Altintop: Ich glaube, dass sich die Bedeutung des Wortes Heimat in den vergangenen Jahren verändert hat, weil man heutzutage ein viel internationaleres Leben führt. Ich bin in zwei Kulturen aufgewachsen und glaube, dass ich daraus einen extremen Vorteil ziehen konnte. Unter dem Strich ist Heimat ein Ort, an dem man sich wohlfühlt und ich persönlich fühle mich sowohl in Deutschland als auch in der Türkei sehr wohl. Aktuell wohne ich zwar in Istanbul, pendle aber sehr viel, sodass ich trotzdem noch häufig bei meiner Mutter und meinen Freunden in Gelsenkirchen sein kann.

SPOX/Goal: Sie sind in Gelsenkirchen geboren, haben im Laufe Ihrer Karriere in Metropolen wie München, Madrid und Istanbul gelebt und schon früh für die Nationalmannschaft gespielt. Wie sehr haben Sie diese ständigen Ortswechsel geprägt?

Altintop: Als Leistungssportler bekommt man von der Stadt und dem Stadtleben gar nicht viel mit. Nach den vielen Spielen, Trainingseinheiten und Reisen ist man froh, einfach mal zu Hause zu sein und sich Pausen zu gönnen. Erst jetzt, nach meiner aktiven Karriere, ist mir wirklich bewusst geworden, in welch spannenden Städten ich eigentlich gelebt habe.

Schalke vs. Gala: " Es geht um mehr als nur um das Sportliche"

SPOX/Goal: Mit Galatasaray und Schalke 04 treffen nun zwei Ihrer Ex-Klubs in der Champions League aufeinander.

Altintop: Diese Duelle sind für mich etwas ganz Besonderes. Wir Türken fühlen uns in Deutschland sehr heimisch und mit Blick auf die Geschichte gab es immer wieder interessante Duelle zwischen deutschen und türkischen Klubs. Bei Spielen wie Galatasaray gegen Schalke geht es in Deutschland mehr als nur um das Sportliche. Auch die Integration ist ein wichtiges Thema. Im Vorfeld der Spiele ist die Vorfreude extrem groß und auch nach Abpfiff gibt es keine negativen Schlagzeilen. Auch in diesem Jahr erwarte ich in Gelsenkirchen ein großes, friedliches Fußballfest und viel gute Stimmung.

SPOX/Goal: Als Galatasaray und Schalke 2013 im Achtelfinale der Champions League letztmals aufeinandertrafen, standen Sie für Galatasaray auf dem Feld und haben sogar getroffen. Welche Erinnerungen haben Sie an das Spiel?

Altintop: Es war natürlich außergewöhnlich, in meiner Geburtsstadt gegen meinen früheren Verein zu spielen. In meiner Champions-League-Karriere habe ich genau zwei Tore gemacht, beide in der Veltins-Arena, eines für Schalke und eines in diesem Spiel für Galatasaray. Es war mein erstes Jahr bei den Löwen und im Laufe der Saison habe ich bis dahin sieben oder achtmal das Aluminium getroffen. Dass der Ball dann auf Schalke vom Innenpfosten reingeht, war wahrscheinlich Schicksal.

Hamit Altintop bei seinem Tor im Champions-League-Achtelfinale 2012 auf Schalkegetty

SPOX/Goal: Inwiefern unterscheidet sich der Fußball in Deutschland und der Türkei?

Altintop: Türkei nimmt sich Deutschland als Vorbild

Altintop: Die Istanbuler Klubs haben in ihrer Geschichte viele Höhen und Tiefen erlebt - sowohl sportlich als auch emotional. Damit stehen sie symbolisch für den kompletten türkischen Fußball. Im Vergleich dazu ist man in Deutschland viel weiter. Anders als die Türkei ist der DFB bei jedem großen Turnier dabei und perfekt organisiert. Die Stadien sind überragend, in der Bundesliga ist fast jedes Spiel ausverkauft und die Vereine sind gut aufgestellt, was den Fußball viel interessanter macht. Als Türke ist man darauf nicht neidisch, aber versucht, sich die Arbeit der Deutschen als Vorbild zu nehmen.

SPOX/Goal: Sie sind in Gelsenkirchen aufgewachsen und waren früher selbst ein Fan. Haben Sie im Kindesalter eher mit Galatasaray oder Schalke mitgefiebert?

Altintop: Weder noch. Als kleiner Junge war ich großer Fan des FC Bayern. (lacht) Rückblickend bin ich deshalb sehr dankbar und stolz, dass ich mir meinem Traum erfüllen konnte, dort zu spielen. Trotzdem war es für mich ein großes Privileg, auf Schalke zu spielen. Dieser Klub hat große Tradition und seine eigene Kultur. Was die emotionalen Werte angeht, muss sich Schalke daher nicht vor den Bayern verstecken. Gerade im Ruhrgebiet ist der Klub ein absolutes Aushängeschild.

Galatasaray für Altintop Favorit

SPOX/Goal: Auch jetzt fiebern wieder tausende Fans den Spielen zwischen Galatasaray und Schalke entgegen. Wer ist für Sie Favorit?

Altintop: Galatasaray ist mit Fatih Terim der Favorit. Zu Hause haben sie mit 3:0 gegen Moskau gewonnen und auch in Porto ein gutes Spiel gemacht. Schalke hingegen scheint in dieser Saison noch nicht das richtige Spielsystem gefunden zu haben. Der jungen Mannschaft fehlt noch die Erfahrung, um in schweren Spielen wie in Istanbul bestehen zu können. Zu Hause hat Schalke gegen jeden aus der Gruppe gute Chancen, zu punkten, doch speziell in Istanbul wird es sehr schwer.

SPOX/Goal: Wem gönnen Sie den Sieg mehr?

Altintop: Ich bin da inzwischen wirklich neutral. Als Zehnjähriger war ich großer Fan des FC Bayern. Wenn sie spielen, drücke ich den Münchnern auch heute noch die Daumen - egal gegen welchen Gegner. Zwischen Schalke und Galatasaray wünsche ich mir einfach gute Spiele und hoffe, dass am Ende beide ins Achtelfinale einziehen. Das Zeug dazu haben sie auf jeden Fall.

SPOX/Goal: Sie haben die Probleme auf Schalke angesprochen. Wiegen die Abgänge von Leon Goretzka, Max Meyer und Thilo Kehrer schwerer, als man zugeben möchte?

Altintop: Nein, Talentprobleme hat man auf Schalke nicht. Goretzka, Kehrer und Meyer haben in der vergangenen Saison gute Spiele gemacht und waren zum Teil auch Leistungsträger, ihnen fehlt aber noch die Erfahrung, die man in der Champions League braucht. Unabhängig davon bin ich ein großer Fan von Domenico Tedesco, der den Eindruck macht, als würde er Tag und Nacht für den Verein leben. Er leistet wirklich hervorragende Arbeit. Trotzdem hat auch er auf diesem Niveau noch keine Erfahrung.

Altintop über Probleme im türkischen Fußball

SPOX/Goal: Wie bewerten Sie die sportliche Situation bei Galatasaray?

Altintop: Galatasaray ist zwar Tabellenführer, aber trotzdem läuft nicht alles rosig. Wichtig ist aber: Obwohl die Mannschaft in den vergangenen Wochen nicht immer überzeugen konnte, holt sie die Punkte. Ich glaube, die Partie gegen Schalke wird ein Schlüsselspiel, denn sollte Galatasaray das Heimspiel verlieren, könnten sie leicht in eine Abwärtsspirale hineinrutschen.

SPOX/Goal: Anders als zu Ihrer Zeit fehlen im aktuellen Kader von Galatasaray die großen Stars. Woran liegt das?

Altintop: Die türkischen Vereine mussten aufgrund des Financial Fairplays einen komplett anderen Weg einschlagen als noch vor fünf Jahren. In der Vergangenheit hat man im türkischen Fußball zu kurzfristig gedacht und häufig auf große Namen im fortgeschrittenen Alter gesetzt, anstatt in den Nachwuchs zu investieren. Heute sieht man, dass dieses Gebaren nicht nur sportliche, sondern auch finanzielle Probleme mit sich gebracht hat. Aktuell müssen die türkischen Klubs kürzertreten und ich sehe auch in den kommenden Jahren keine Verbesserung.

SPOX/Goal: Wie kann es sein, dass man in der Türkei die Nachwuchsförderung vernachlässigt, während sich der Rest der Fußballwelt in diesem Bereich stetig weiterentwickelt?

Altintop: Das kann ich nicht genau sagen, aber die Talentförderung ist seit Jahrzehnten unser Problem. Wir Türken sind fußballverrückt und haben in den vergangenen Jahren immer mal große Spieler hervorgebracht. Trotzdem haben wir es nie geschafft, konstant gute Jungs auszubilden. Andere Nationen sind uns da weit voraus. Es fällt besonders auf, dass große Talente hierzulande mental nicht gut auf das Fußballbusiness vorbereitet werden.

Altintop: "Man sollte immer mit dem Herzen entscheiden"

SPOX/Goal: Ist es ein Problem, dass sich junge und talentierte Spieler mit zweiter Staatsangehörigkeit häufig gegen eine Karriere in der türkischen Nationalmannschaft entscheiden?

Altintop: Bei diesem Thema bin ich sehr empfindlich. Man sollte immer mit dem Herzen entscheiden, für welche Nationalmannschaft man spielt und welche Hymne man singt. Im Leben muss man manchmal auch den schwierigeren Weg einschlagen, um dabei zu helfen, etwas aufzubauen. Eine solche Entscheidung nur von den Erfolgsaussichten und einem besseren Verdienst abhängig zu machen, ist fatal. Es darf nicht nur ums Business gehen. Man muss aufpassen, dass Werte wie Stolz und Leidenschaft nicht komplett verloren gehen. Die Entwicklung in den vergangenen Jahren ging leider genau in diese Richtung. Dabei machen Emotionen, Leidenschaft und Gefühle den Fußball erst aus. Wenn diese Werte irgendwann keine Rolle mehr spielen, wird es schwierig.

Altintop: "DFB war für mich nie ein Thema"

SPOX/Goal: Hat sich der DFB in Ihrer Jugend nach Ihnen erkundigt?

Altintop: Wenn man in der Jugend gute Leistungen gebracht hat, war man automatisch im Fokus des DFB und hatte auch Kontakt zu Verantwortlichen. Für mich war es aber nie ein Thema. Ich habe ja schon als 17-Jähriger für die türkischen Junioren-Nationalmannschaften gespielt.

Hamit Altintop bestritt insgesamt 83 Länderspiele für die Türkeigetty

SPOX/Goal: Die berühmtesten Beispiele für türkischstämmige Spieler, die sich gegen eine Karriere im Trikot der Türkei entschieden haben, sind Ilkay Gündogan und Mesut Özil. Wie haben Sie das mediale Theater um beide in den vergangenen Monaten wahrgenommen?

Altintop: Darüber möchte ich gar nicht sprechen, aber dieser Fall lässt sich doch auf unsere Gesellschaft übertragen. Man kann sich heutzutage alles erlauben, solange man Erfolg hat - nicht nur im Fußball. Ist man erfolgreich, darf man machen, was man will. Wenn es aber nicht läuft, ist plötzlich alles schlecht und man wird zum Teil sogar persönlich angegangen.

SPOX/Goal: Kommen wir noch einmal zu Ihnen: Wie zufrieden sind Sie rückblickend mit Ihrer Karriere?

Altintop: Ich glaube, dass das Leben mir sehr viel gegeben und ermöglicht hat. Ich bin Profifußballer geworden und habe meinen Traum gelebt. Jetzt davon zu sprechen, etwas zu bereuen, wäre undankbar und respektlos. Mein Bruder und ich haben Fußball gespielt, weil wir es geliebt haben. Bei jedem unserer Transfers haben wir darauf geachtet, dass wir uns nicht nur als Sportler, sondern auch als Typen weiterentwickeln können. Rückblickend haben wir das sehr gut gemacht und können behaupten, mit beiden Beinen auf dem Boden geblieben zu sein.

Altintop peilt Funktionärs-Karriere an

SPOX/Goal: Sie sind jetzt 35 Jahre alt und haben Ihre aktive Karriere beendet. Ist es Ihr Plan, eine Trainerlaufbahn einzuschlagen?

Altintop: Ich kann mir einiges vorstellen, aber man muss immer das Gesamtpaket im Blick haben. Was häufig unterschätzt wird, ist, dass talentierte Jugendliche einfach ins Profigeschäft hineingeworfen werden und dann auf sich allein gestellt sind. Ich könnte mir gut vorstellen, mich als Teammanager oder Sportdirektor um solche Angelegenheiten zu kümmern. Ob ich aber Trainer werde, kann ich noch nicht sagen. Aktuell mache ich meine Trainerscheine und genieße die ersten Monate meines Ruhestandes. Doch ich bin ein erfolgsorientierter Mensch und mein Plan ist es, bald in den Fußball zurückzukehren.