Hermann Hummels arbeitete fast 20 Jahre in der Jugendabteilung des FC Bayern und ist mittlerweile Berater seiner beiden Söhne Mats und Jonas. Im 1. Teil des Interviews spricht Vater Hummels über seine Arbeit als Jugendtrainer sowie Berater, die Fehler im Nachwuchsbereich und die Vorteile des 36 Kilo schweren Philipp Lahms.
SPOX: Herr Hummels, Sie sind schon sehr lange im Fußball unterwegs und waren schon ziemlich viel, zum Beispiel Chefcoach, Nachwuchstrainer, Jugendkoordinator oder Scout. Mittlerweile sind Sie als Berater tätig.
Hermann Hummels: Zunächst einmal: Ich bin mit 18 Jahren von zu Hause ausgezogen und ernähre mich seitdem auf unterschiedliche Weise vom Fußball. Was die bloße Anzahl der Vereine angeht, hatte ich in meinen 40 Jahren eine überschaubare Vita. Wenn man davon wiederum 17 Jahre bei Bayern München arbeitet, ergibt es sich mit der Zeit automatisch, verschiedene Positionen zu bekleiden. Ich habe mich unter dem Strich in dieser Sportart festsetzen können, obwohl ich als Spieler aus dem Amateurbereich kam und meine 13 Zweitligaeinsätze eigentlich kein gutes Sprungbrett für eine weitere Karriere im Fußball waren.
SPOX: Wie sieht denn aktuell Ihr beruflicher Alltag genau aus?
Hummels: Eigentlich so, wie er immer aussah. Ich schaue mir sehr viele Spiele und Trainingseinheiten an, um mir ein sportliches Bild machen zu können. Es gibt ja viele Berater wie mich, die auch eine Fußballlehrer-Lizenz besitzen. So interpretiere ich meinen Job. Ich sehe mich als erster Trainer außerhalb des Vereins.
SPOX: Heißt, Sie sind wie "klassische" Berater unterwegs?
Hummels: Das würde ich eher verneinen, da ich von denen bei den diversen Jugendpartien sehr selten etwas sehe. Steht ein U19-Länderspiel an, sind alle da. Sich aber in Miesbach ein Freundschaftsspiel bei widrigen Wetterbedingungen anzuschauen, machen dann doch nur die wenigsten. (lacht)
SPOX: Wie viele Berater gehen denn dann so vor wie Sie?
Hummels: Ich schätze maximal zehn Prozent. Ein Berater, der Rechtsanwalt ist, fühlt sich bei der Spielbeobachtung natürlich weniger wohl als beim Vertragswerk. Ich stehe gerne am Platz, wo ich etwas beurteilen und sportliche Tipps geben kann - um wie schon zu meiner Zeit bei Bayern die individuelle Qualität des Spielers zu verbessern. Früher war der Verein mein Auftraggeber, jetzt sind es die Spieler. Allerdings: Wenn mich die Bayern nicht entlassen hätten, wäre ich nie Berater geworden.
SPOX: Neben Ihrem Sohn Mats haben Sie auffällig viele junge Kicker in Ihrem Portfolio. In welchem Alter sprechen Sie die Spieler an?
Hummels: In der Regel versuche ich, sie mit 15, 16 Jahren für mich zu gewinnen. Denn dann kommt es die nächsten fünf Jahre nicht auf den Vertrag an, sondern auf die individuelle Entwicklung. Erst wenn dies gelingt, wird das Thema Vertrag interessanter - und es lässt sich dann natürlich auch einfacher lösen. Ich berate derzeit einige sehr junge und talentierte Spieler, deren Weg ich begleiten und zu denen ich eine persönliche Beziehungen aufbauen möchte. Ich will ihnen auf ihrem sportlichen Weg behilflich sein. Da ich dies lange als Trainer im Verein gemacht habe, denke ich, dass ich da schon helfen kann.
SPOX: Sie sind in der Endphase Ihrer Spielerkarriere mit 28 Jahren Fußball-Lehrer geworden. Dann waren Sie 1991 für zehn Monate Cheftrainer des Oberligisten SV Wehen, zwischen Oktober 1994 und April 1995 trainierten Sie den damaligen Zweitligisten 1. FSV Mainz 05. Wieso sind das die beiden einzigen Stationen, warum hat es nicht langfristiger geklappt?
Hummels: Ich hätte als Trainer damals vielleicht etwas anders vorgehen sollen oder den Schwerpunkt anders setzen müssen, war aber sehr auf individuelle Verbesserung aus. Ich war der Meinung: Wenn ich den Einzelnen besser mache, wird auch das gesamte Gebilde besser. Dass dies nicht zwangsläufig so funktioniert, darauf bin ich damals ehrlich gesagt nicht gekommen. Ich wurde daher zur Erkenntnis, dass ein Trainerjob im Seniorenbereich nichts für mich ist, sozusagen gezwungen.
SPOX: Mit 35 waren Sie dann bereits zwei Mal entlassen und fingen 1995 als Jugendtrainer in der Nachwuchsabteilung des FC Bayern München an. Hatten Sie in diesem Bereich Vorerfahrung?
Hummels: Ja, ich war parallel zur Fußballlehrer-Ausbildung während meiner Zeit als Spieler beim Bonner SC zwei Jahre lang C- und B-Jugendtrainer. Nachdem ich dann in Mainz Chefcoach der Profis wurde, wollte ich eigentlich nicht mehr Jugendtrainer werden. Ich dachte ja, mir läge jetzt die Welt zu Füßen. (lacht) Nach den Entlassungen kamen natürlich auch nicht reihenweise Angebote - außer aus dem Südwesten, wo ich mir ein bisschen einen Namen machen konnte.
SPOX: Wie kommt man dann überhaupt zu den Bayern?
Hummels: Meine Ex-Frau wohnte dort bereits, so dass ich mich in München umgeschaut habe. Bayerns damaliger Jugendkoordinator Heiner Schuhmann ist dann auf mich zugekommen. Ich war jung und hatte als Trainer schon Profi-Erfahrung, einen solchen Mann für die U15 des FC Bayern verpflichten zu können, war durchaus attraktiv. Damals wusste ich noch nicht, dass das meine Erfüllung und ich bis 2005 etliche Jugendmannschaften trainieren würde. Der 1988er Jahrgang war die letzte Mannschaft, die ich in der U15 hatte. Anschließend war ich für das Jugendscouting zuständig.
SPOX: In dieser Funktion haben das Team und Sie zahlreiche Spieler entdeckt, die mittlerweile Top-Stars sind.
Hummels: Ich bin so selbstbewusst zu sagen, dass wir damals relativ viele Weltmeister ausgebildet haben - und ein David Alaba gehört da ja gar nicht dazu. Toni Kroos kam als 14-Jähriger für eine siebenstellige Summe nach München. Das gab es zuvor in Deutschland noch nie. Du brauchst dann aber Leute, die sagen: Ja, macht das, wir glauben an ihn. So ging es auch mit Lahm und Schweinsteiger, den wir aus Rosenheim geholt haben, oder Emre Can und Piotr Trochowski. All diese Spieler sind ja aus dem Klub heraus entstanden. Wenn man dann da dabei und einer von diesen fünf, sechs verantwortlichen Leuten gewesen ist, die zudem noch alle über zehn Jahre am Stück dort gearbeitet haben, ist das sicherlich kein schlechtes Zeugnis. Es herrschte damals eine große Kontinuität in der Jugendabteilung des FC Bayern.
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SPOX: Lahm, Schweinsteier oder Müller kannten Sie schon, als diese erst 13 oder 14 Jahre alt waren. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Hummels: Philipp Lahm hatte eine besondere Gabe. Im Fußball gibt es immer Situationen, die der Spieler auflösen muss. Philipp hat dabei nie einen Mitspieler in eine misslichere Lage gebracht. Wenn er Einfluss auf eine Spielsituation hatte, wurde diese niemals schlechter, meistens aber hat er sie selbst gelöst. Er hatte nur einen großen Nachteil: seinen Körper. Er hat mit 14 Jahren nur 36 Kilogramm auf die Waage gebracht. Jedoch hat er nie damit gehadert, sondern war schon damals unheimlich schlau und hat nach anderen Wegen gesucht, um sich zu behaupten. Jeder neue Jugendtrainer sagte zunächst immer: 'Der Lahm ist gut, aber schon klein!' Doch nach zwei, drei Wochen im Training hatte Philipp jeden überzeugt, dass dies in seinem Fall kein Problem ist.
SPOX: War es bei den Genannten absehbar, dass sie einmal große Spieler werden?
Hummels: Es hat mich zumindest nicht überrascht. Lahm hatte das Größenproblem, Schweinsteiger war manchmal auch neben dem Platz sehr aktiv, Müller hat manchmal schlecht gespielt - doch ihr Erfolg rührt von ihrer inneren Einstellung. Sie alle eint die riesige Freude am Sport. Sie hatten zudem immer den Willen, besser werden zu wollen. Und die Haltung: verlieren ist keine tolle Sache. Ich bin davon überzeugt, dass sie ohne diese Wesenszüge niemals Weltmeister geworden wären.
SPOX: Wie blicken Sie heute, vier Jahre nach Ihrem Aus beim FC Bayern, auf den Nachwuchsfußball?
Hummels: Es gibt noch genug junge, talentierte Spieler. Es wird auch ausreichend trainiert, Technik und Passspiel sind gut. Was den meisten Spielern aber fehlt, ist etwas mehr individuelle Qualität und Mut im Dribbling. Dafür braucht es aber Trainer, die das lieben und fördern wollen. Und eins darf dabei nicht vergessen werden: Wir brauchen den hochwertigen Wettkampf zum Üben und Lernen. Dann erlangen die Spieler auch eine Wettkampfhaltung und Erfahrung, die notwendig ist, um später Bundesligaspieler zu werden. Und dies alles muss individuell zum Spieler passen.
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SPOX: Heißt?
Hummels: Ein 1,90 Meter großer Spieler muss spielen wie ein 1,90-Meter-Spieler. Es hilft nichts, ihm die Hebel und Bewegungsabläufe eines 1,70 Meter-Spielers beibringen zu wollen. Das heißt aber nicht, dass der 1,90-Meter-Spieler nicht dribbeln darf und der 1,70-Meter-Spieler kein gutes Kopfballspiel haben kann. Es geht darum, dass Technik und Spielstil zum Spieler passen müssen.
SPOX: Man soll also individuell heranwachsen können, ohne gleich durchs Raster zu fallen?
Hummels: Genau. Wir müssen einfach offener sein, denn jeder Jugendspieler bringt Vor- und Nachteile mit sich. Einem Lahm mit seinem Größennachteil muss das Recht eingeräumt werden, wie Lahm groß zu werden. Müller muss trotz technischer Unsauberkeiten wie Müller groß werden dürfen - und zwar in der Kategorie Weltklassespieler. Wir müssen geduldig mit den Schwächen sein und keine frühzeitigen Schlüsse aus den Stärken ziehen. Wir loben immer die "Straßenfußballer", aber was war typisch für den Straßenfußball?
SPOX: Sagen Sie es uns.
Hummels: Ich bin jetzt mal zynisch: Das Beste am Straßenfußball früherer Generationen war, dass kein Erwachsener dabei war, der alles vorgegeben und das freie Spiel beschnitten hat.
SPOX: Momentan ist die Nachwuchsarbeit des FC Bayern kein Ruhmesblatt, in den U-Mannschaften des DFB findet sich so gut wie kein Spieler vom Rekordmeister. Muss es nicht aber der Anspruch als Branchenführer sein, auch im Jugendbereich zur nationalen Spitze zu gehören?
Hummels: Nein, muss es nicht.
SPOX: Weshalb?
Hummels: Für die Optik ist es auf jeden Fall besser, wenn ein Verein viele Jugendnationalspieler in seinen Reihen hat. Für mich spielen Nominierungen aber überhaupt keine Rolle. Lahm und Müller waren keine U15-Nationalspieler, Manuel Neuer war in diesem Alter gerade mal Torwart bei Schalke. Die große Gefahr für eine Jugendabteilung besteht darin, dass man die Spieler, die physisch und athletisch schon sehr früh sehr weit sind, automatisch für die Talentiertesten hält. Sehr oft aber explodieren dann zeitlich etwas später andere Spieler aus der sogenannten zweiten Reihe und werden überragend. Verein und Trainer dürfen diese Spieler nicht ignorieren und vergessen, sie zu fördern. Gerade zwischen dem 13. und 17. Lebensjahr muss man den Spielern auch schwierige Phasen zugestehen, die nur allzu natürlich und menschlich sind.
SPOX: Wie meinen Sie das konkret?
Hummels: Philipp Lahm hatte diese Phase zum Beispiel zwischen 15 und 17, da er keine Masse aufbauen konnte. Wir haben ihn aber nicht nur daran gemessen, sondern an ihn geglaubt. Das hat sich dann auf ihn ausgewirkt. Er hatte kein persönliches Problem mit seinem Körper, sondern ist ruhig und gelassen geblieben. In meinen Augen ist es heutzutage fast besser, in diesem Alter nicht in die Jugendnationalelf berufen zu werden.
SPOX: Wieso das?
Hummels: Wer mittlerweile ein Guter in der U15 ist, hat mit vielen äußeren Einflüssen und Erwartungen umzugehen. Gefühlt muss man dann gleich einen Fünfjahresvertrag bei einem großen Erstligisten unterschreiben. Ich würde am liebsten gar keine Verträge machen. Martin Ödegaard ist in meinen Augen ein abschreckendes Beispiel.
SPOX: Erläutern Sie bitte.
Hummels: Hinter ihm war halb Europa her. Der Junge kann nicht mehr wie ein normaler 16-Jähriger aufwachsen. Wollte man früher einen talentierten Spieler in diesem Alter holen, zahlte man die Summe X. Heute muss man meist das Zehnfache von Summe X hinlegen, aber bei Ödegaard war es 100 Mal die Summe X. Das ist nicht mehr vernünftig. Damit gehen dann Erwartungshaltungen einher, die den Jungen daran hindern, normal zu sein. Wenn es bei ihm mal sechs Wochen nicht so gut läuft, kriegt er von allen Seiten zu hören: Der wird nix.
SPOX: Der FC Bayern baut im Norden der Stadt momentan ein neues Nachwuchszentrum, da es an der Säbener Straße immer sehr eng zuging und sich mehrere Mannschaften einen Platz teilen mussten. Wie war das damals für Sie?
Hummels: Es war nicht das, was sich ein Trainer wünscht, aber vielleicht war es gut für die Spieler. Im Winter hatten wir einen Platz für mehre Mannschaften. Wir haben dann Sechs gegen Sechs in drei Teams spielen lassen. Die Mannschaft, die gerade verloren hatte, ist gelaufen. Wir haben also quasi nur gespielt. Und das auf einem schlechten Kunstrasen, den sich vier Mannschaften zeitgleich geteilt haben. Am Ende sind die angesprochenen Lahm, Müller, Schweinsteiger oder Trochowski herausgekommen.
SPOX: Welchen Einfluss hatten die widrigen Bedingungen auf diese Spieler - oder waren sie einfach besonders talentiert?
Hummels: Es hat Typen gebildet und kam der Straße näher, nach der wir doch immer wieder rufen. Ich sehe teilweise Trainingseinheiten, da werden aufblasbare, aber unbewegliche Dummies ausgedribbelt und insgesamt vielleicht fünf Minuten gespielt. Das ist mein großer Kritikpunkt, der quasi überall gilt und den ich gerne wiederhole: Wir trainieren zu wenig hoch qualifiziertes Wettkampfspiel, stattdessen machen wir viel zu viel Mannschaftstaktik. Die Jungs kommen in den Seniorenbereich, sind technisch und taktisch hervorragend ausgebildet, wissen aber nicht, wie man Spiele in Drucksituationen bestreitet. Und der Profifußball bedeutet nun mal auch, Druck aushalten zu können.
SPOX: Ist das für Sie eine Frage der Qualität der Jugendtrainer?
Hummels: Wir müssen im Jugendbereich einfach wieder das Spiel und den Spieler in den Vordergrund stellen und nicht die Bedürfnisbefriedigung des Trainers. Nicht die Spieler müssen dem Trainer dienen, der Trainer muss dem Spieler dienen. Der Trainer hilft dem Spieler beim "Besserwerden". Zudem sollte es eine größere Individualisierung geben und nicht zu früh zu viel Taktik gelehrt werden. Damit meine ich kein Einzeltraining, sondern jeden Spieler gesondert individuell zu betrachten, damit man seine Qualitäten auf ihn zugeschnitten fördern kann.
SPOX: Verglichen mit Ihrer Zeit: Fehlt Ihnen etwas auf Spielerseite?
Hummels: Nein, für mich nicht. Der junge Spieler vor 30 oder 40 Jahren hatte weder mehr noch weniger Leidenschaft, Tatendrang oder Wille. Vielleicht geht im Laufe der Zeit etwas davon verloren.
SPOX: Zumindest beklagte Holger Badstuber Anfang des Jahres bei manchen Bayern-Talenten Bequemlichkeit und fehlende Leidenschaft.
Hummels: Damit könnte er auch Recht haben, doch über meinen Ansatz des vermehrten Einsatzes von Wettkampfspielen im Training kann Leidenschaft auch schnell anstecken - und er würde darüber hinaus sowohl den Taktiker, als auch den Willensschuler auf Seiten der Trainer befriedigen. Wenn ich im Training immer nur passen und verschieben muss, dann fehlt bei manchen vielleicht das nötige Feuer. Lasse ich in den Einheiten aber vermehrt spielen, kommen alle diese temporär verschütteten Eigenschaften schnell wieder ans Tageslicht.