Schleswig-Holstein ist das einzige Bundesland, das im Fußball noch nie einen Erstligisten hatte. Was vor wenigen Jahren selbst für den obersten Verbandsvertreter noch unvorstellbar war, kann Holstein Kiel nun in der Relegation gegen den 1. FC Köln endlich schaffen. Die Fußball-Kolumne.
Nun also doch: Im vielleicht wichtigsten Spiel der Vereinsgeschichte seit dem deutschen Meistertitel 1912 (!) kann Holstein Kiel auf Fan-Unterstützung setzen. Eine entsprechende Genehmigung bestätigte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther am Donnerstag, als er zahlreiche Öffnungsschritte in seinem Bundesland verkündete. Der wichtigste davon war für die Kieler Nachrichten aber "Die Rückkehr der Holstein-Fans", wie die örtliche Zeitung am Freitag auf ihrer ersten Seite titelte.
Immerhin 2334 Zuschauer werden im Relegations-Rückspiel am Samstag (18 Uhr) gegen den 1. FC Köln im altehrwürdigen Holstein-Stadion zugelassen. Allerdings wurde die Entscheidung im Rahmen eines wissenschaftlichen Modellprojekts auch aus Sicherheitsgründen getroffen, weil der harte Kern wohl ohnehin wieder zum Stadiongelände gekommen wäre.
Etwa 1500 Anhänger trafen sich schon am vergangenen Sonntag vor dem Bauzaun an der Osttribüne und der angrenzenden Tankstelle am Kieler Westring, um dort gemeinsam und dicht gedrängt mit Handy-Livestream, Bier, Schnaps, Böllern und Bengalos dem letzten Zweitligaspiel gegen Darmstadt so nah wie möglich zu sein.
Auch am Samstag rechnet die Stadt mit zahlreichen Fans, die ohne Ticket bleiben werden und dennoch vor Ort mitfiebern wollen. Die resolute Tankstellenbesitzerin sagt, sie bekomme schon beim Gedanken an den erneuten Menschenauflauf "zehn Magengeschwüre".
Daher hat die Polizei verschärfte Kontrollen, Straßensperren, Maskenpflicht und ein Verbot von Alkohol und Pyrotechnik angekündigt. Ohnehin blieb das bewusst eingegangene Risiko, in Corona-Zeiten auf Sicherheitsregeln zu verzichten, schon vor einer Woche ohne den erhofften Effekt.
PrivatHolstein Kiel: "Große Leere nach dem versemmelten Matchball"
Am Ende sah man überall nur niedergeschlagene Gesichter, in den am Pfingstsonntag gut gefüllten Ausflugslokalen rund um die Förde ebenso wie bei den Fans vor Ort und der Mannschaft, die sich trotz des 2:3 gegen Darmstadt am besagten Bauzaun noch einmal zeigte. Über die "große Leere nach dem versemmelten Matchball Nummer zwei", schrieben die Kieler Nachrichten.
Nach einer überragenden Aufholjagd hätte den "Störchen" in den letzten zwei Zweitligapartien ein Sieg zum ersten Bundesligaaufstieg gereicht, doch beide Male setzte es trotz Halbzeitführung noch Niederlagen. Alles sprach dafür, dass den Kielern nach einer strapaziösen Saison am Ende die Luft ausgehen würde.
Kein Wunder, immerhin musste das Team als einziger deutscher Profiklub wegen Corona in der Rückrunde gleich zweimal für 14 Tage in Quarantäne. Danach absolvierte Holstein gezwungenermaßen ein Mammutprogramm, das Relegations-Rückspiel ist das elfte Spiel in den vergangenen 34 Tagen.
Trotzdem hatten die Norddeutschen zunächst Erfolg an Erfolg gereiht, wodurch sie erst in die doch noch verspielte Pole Position um den Aufstieg gekommen waren. Daher herrschte am Sonntag Frust pur, aber eben nur kurz.
Denn nun, wo niemand mehr auf den auch noch arg ersatzgeschwächten Außenseiter gesetzt hat, hat Holstein plötzlich wieder das Schicksal in der eigenen Hand. Nach dem 1:0 beim Bundesligisten aus Köln am Mittwoch reicht ein Unentschieden zur großen Sensation - es wäre erst das vierte Mal seit der Wiedereinführung der Relegation 2009, dass sich der Underdog durchsetzen würde.
Schleswig-Holstein einziges Bundesland ohne Fußball-Erstligist
Das wäre ein historischer Erfolg, nicht nur für den Traditionsverein und die Landeshauptstadt: Schleswig-Holstein ist bis heute das einzige deutsche Bundesland ohne Erstliga-Fußball. Sachsen-Anhalt und Thüringen, ebenfalls bislang ohne Bundesligist, stellten zumindest zu DDR-Zeiten mehrere Klubs in der erstklassigen Oberliga.
Daher drückt wie selbstverständlich auch Ministerpräsident Günther öffentlich die Daumen, "um das zu erreichen, worauf wir in Schleswig-Holstein alle miteinander hinfiebern: Dass wir zum ersten Mal einen Bundesligisten haben".
In den vergangenen Jahrzehnten dominierte im nördlichsten Bundesland der Handball, mit den beiden Aushängeschildern THW Kiel und SG Flensburg-Handewitt. "Da oben können sie nur zwei Sachen machen: Entweder in die Ostsee springen oder zum Handball gehen", verwies Klaus Schorn, lange Jahre Manager des damaligen Kieler Titelrivalen TuSEM Essen, Ende der 1990er auf die im hohen Norden damals im Vergleich zum Ruhrgebiet vollständig fehlende Konkurrenz durch den Fußball.
Dort war selbst die Zweitklassigkeit bis vor einigen Jahren noch eine Ausnahme: Beste Platzierung der schleswig-holsteinischen Fußballhistorie seit Einführung der Bundesliga war noch bis vor drei Jahren ein elfter Platz des Lokalrivalen VfB Lübeck 2003, im Jahr darauf stieg die Mannschaft schon wieder ab. Holstein hatte dort bis 2017 nur die lange zurückliegenden drei Spielzeiten in der 2. Liga Nord von 1978 bis zum Abstieg 1981 vorzuweisen, damals mit dem gebürtigen Kieler Andy Köpke im Tor.
Neben dem Ex-Nationaltorwart schaffte nach dem zweiten Weltkrieg in Sidney Sam nur ein weiterer Kieler den Sprung in die DFB-Auswahl, wobei er schon als Jugendlicher zum Hamburger SV wechselte. Es passt ins Bild, dass die legendäre Landessportschule in Malente mangels bekannter eigener Aushängeschilder nicht den Namen eines schleswig-holsteinischen Fußball-Stars trägt, sondern den von HSV-Klubidol Uwe Seeler.
getty"Bundesliga-Fußball kann ich mir in Schleswig-Holstein nicht vorstellen"
"Unsere Bundesligavereine sind der Hamburger SV und der FC St. Pauli", erklärte Hans-Ludwig Meyer, damals Präsident des Schleswig-Holsteinischen Fußballverbandes, der Welt am Sonntag noch im August 2013. Und weiter: "Ich sage ganz ehrlich, Bundesliga-Fußball kann ich mir in Schleswig-Holstein nicht vorstellen."
Seinerzeit waren die Kieler gerade erst nach drei Jahren Regionalliga Nord in die dritte Liga zurückgekehrt, ab da ging es aber stetig aufwärts. 2015 verpasste die Mannschaft noch dramatisch in der Relegation den Aufstieg durch ein Tor in der Nachspielzeit von 1860 München, zwei Jahre später gelang dem von Markus Anfang trainierten Team dann der Sprung in die Zweite Liga und in der Saison darauf wurde der direkte Durchmarsch in die Bundesliga nur knapp verpasst: Erneut scheiterte Holstein 2018 in der Relegation, diesmal am VfL Wolfsburg.
Seitdem konnte sich Holstein zumindest im Unterhaus etablieren und entwickelte sich in dieser Saison deutlich weiter, wie unter anderem im Januar der Sensationssieg im DFB-Pokal über den FC Bayern unter Beweis stellte. Inzwischen wird Erfolgscoach Ole Werner, einst als Gärtner in Australien tätig und mit 33 Jahren jüngster deutscher Profi-Trainer, bei mehreren Klubs als Kandidat gehandelt, allen voran bei Werder Bremen.
Funkel vor Rückspiel: "Überhaupt nichts entschieden"
Sein Meisterstück kann der aus dem nahen Preetz stammende Werner nun gegen Köln machen im Duell mit dem derzeit ältesten Coach im deutschen Profifußball, dem 67 Jahre alten Friedhelm Funkel. "Es ist noch überhaupt nichts entschieden", sagte der FC-Trainer nach der Hinspiel-Niederlage: "Es ist erst Halbzeit."
Ein Kieler Sieg auch nach Schlusspfiff wäre angesichts der Achterbahnsaison sicher nicht unverdient und würde dem Norden auch deshalb guttun, weil die ausgeliehenen "schleswig-holsteinischen Bundesligisten" HSV und St. Pauli mittlerweile deutlich weiter entfernt sind von der Erstklassigkeit als die Kieler Sportvereinigung Holstein von 1900 e.V.
Das sieht auch Hans-Ludwig Meyer so. "Ich stehe zu meiner damaligen Aussage, dass die Bundesliga für eine Mannschaft aus Schleswig-Holstein strukturell kaum zu stemmen ist", sagt der 69-Jährige, inzwischen Ehrenpräsident des Landesverbandes, im Gespräch mit SPOX und Goal.
"Aber es ist richtig, dass die Vereine aus unserem südlichen Vorort Hamburg heute hinter uns stehen. Und es wäre natürlich schön, wenn ich zu meinem 70. Geburtstag in diesem Jahr einen Bundesligisten aus Schleswig-Holstein noch erleben dürfte. Holstein hat schon jetzt großartiges geleistet, auch wenn noch gar nichts entschieden ist. Aber wenn du den Hecht so nah vor Augen hast, dann musst du ihn auch fangen."