Iker Casillas kann auf eine besondere Karriere zurückblicken. Eine Karriere, die vermutlich ein wenig anders verlaufen wäre, hätte Tim Wiese im Sommer 2012 auf Jose Mourinho statt Roger Wittmann gehört.
Diese Geschichte wurde erstmals am 4. August 2020 veröffentlicht. Am 17. Dezember 2021 feiert Wiese seinen 40. Geburtstag.
Es gibt Geschichten, die kann man sich nicht einmal ausdenken. Zum Beispiel die, dass Tim Wiese einmal für Real Madrid hätte spielen können, einen Wechsel zur TSG Hoffenheim aber für sinnvoller erachtete, um nach nur einem Jahr im Kraichgau keine Rolle mehr zu spielen, in der "Trainingsgruppe 2" zu landen und wenig später seine Karriere zu beenden. Doch der Reihe nach.
Kurz nach der Saison 2011/12 war Jose Mourinho mächtig angefressen. "The Special One" hatte mit Real Madrid zwar einen bis heute unübertroffenen Rekord mit 100 Punkten und 121 Toren in der spanischen Liga aufgestellt, allein mit dem Gewinn der Meisterschaft gab sich der damalige Cheftrainer aber nicht zufrieden. Er lechzte nach dem großen Wurf, nach "la Decima".
Eine Niederlage gegen Bayern brachte Mourinho ins Grübeln
Zehn Jahre warteten die Königlichen zum damaligen Zeitpunkt schon auf ihren zehnten Champions-League-Titel und er, der vermeintliche Übertrainer, war schließlich gekommen, um das zu ändern. Also drehte er jeden Stein um, analysierte die Saison und vor allem das knappe Aus im Halbfinale gegen den FC Bayern. Dabei fiel ihm unter anderem auf, dass die Münchner einen besseren Torhüter in ihren Reihen hatten. Den zu jener Zeit wohl besten.
Manuel Neuer hatte beim Elfmeterschießen im Estadio Santiago Bernabeu ausgerechnet die Schüsse der Weltstars Cristiano Ronaldo und Kaka pariert. "Das", sollte Mourinho noch Jahre später sagen, "war die bitterste Niederlage meiner Karriere." Er sei auf dem Weg nach Hause in Tränen ausgebrochen. "Was willst du machen, wenn deine zwei besten Schützen in der Lotterie des Elfmeterschießens scheitern?"
imago images/Cordon Press/Miguelez SportsPerez funkte Rummenigge an - wegen Neuer
Eine Antwort auf diese Frage gab Mourinho in der Öffentlichkeit nie. Er kannte sie aber genau. Nach seiner Saisonanalyse stand für ihn fest, die Torhüterposition des spanischen Rekordmeisters stärken zu wollen. Das Problem: Iker Casillas hütete zu jener Zeit den Kasten der Madrilenen. "San Iker", der heilige Iker, eine fleischgewordene Institution im Kosmos der Galaktischen, seit mehr als einem Jahrzehnt unverzichtbar.
Nun war und ist Mourinho bis heute gewiss kein Trainer, der vor großen Namen zurückschreckt, im Fall von Casillas aber war ihm klar, dass er sehr gute Argumente anbringen müsste, um einen Wechsel zwischen den Pfosten zu vollziehen, ohne sich dabei zum Staatsfeind Nummer eins in Madrid zu machen. Casillas war zu diesem Zeitpunkt noch Welttorhüter.
Es heißt, Mourinho habe Real-Präsident Florentino Perez um die Verpflichtung Neuers gebeten. Dieser habe sich daraufhin auf mit seinem guten Freund Karl-Heinz Rummenigge in Verbindung gesetzt, um nachzuhorchen, ob es denn möglich sei, den deutschen Schlussmann unter Vertrag zu nehmen. Vergebens. Es sei nicht einmal zu einem Gespräch zwischen Real und Neuer gekommen, so aussichtslos sei die Antwort von Rummenigge in Richtung Perez ausgefallen.
Wiese und Real: "Es war nicht bloß ein Gerücht"
Also musste Mourinho umplanen. Auf der Suche nach einer Alternative dachte er sich wohl, dass es ja auch noch andere gute Torhüter aus Deutschland gebe. Jedenfalls kam er auf den Gedanken, sich bei Neuers Vertreter in der Nationalmannschaft zu melden: Tim Wiese.
"Es war nicht bloß ein Gerücht", sagte der damalige Torwart von Werder Bremen in einem 2018 erschienenen Interview mit Sport1. "Mourinho wollte mich unbedingt." Im Beisein von Spielervermittler Reza Fazeli, der zwei Jahre zuvor Mesut Özil in die spanische Hauptstadt gebracht hatte, sei es zu einem Telefonat mit dem Portugiesen gekommen. "Er sagte mir, dass ich mich beweisen kann und es einen fairen Kampf mit Casillas geben soll", berichtete Wiese. Mourinho habe sich ihm gegenüber "total nett" präsentiert, er sei "positiv angetan" gewesen. Und: "Auch Reza war der Meinung, dass es eine Riesenchance sei."
Dass Wiese, damals 31, am Ende doch einen Wechsel nach Madrid ausschlug und sich stattdessen für die TSG Hoffenheim entschied, war seinem ursprünglichen Berater Roger Wittmann geschuldet. "Er sagte mir nach dem Gespräch mit Mourinho, dass bei solchen Personalgeschichten immer Reals Präsident entscheide", erzählte Wiese.
Weiter habe ihm Wittmann erklärt: "Wenn du einmal patzt, dann bist du raus und die Fans winken dir mit weißen Taschentüchern zu. Überleg dir das gut, du willst doch bestimmt noch einige Jahre spielen - und das wird bei Real definitiv schwierig werden. Willst du nur auf der Bank sitzen?"
Und da Casillas zu jener Zeit "ein heiliggesprochener Torwart" in Madrid gewesen sei, habe Wiese Mourinho abgesagt: "Mir war das irgendwie suspekt." Seine Entscheidung pro Hoffenheim stellte sich bekanntermaßen als fatal heraus.
Wiese bestritt nur elf Spiele für die Kraichgauer, ehe er abgeschrieben war und keinen Verein mehr im Profibereich fand. 2016 ließ der sechsfache Nationalspieler seine Laufbahn beim achtklassigen Kreisliga-Vertreter SSV Dillingen ausklingen. Das Fazit des heute 40-Jährigen: "Die Entscheidung gegen Real habe ich bitter bereut, spätestens nach dem Pokalspiel mit Hoffenheim in der ersten Runde beim Berliner AK, als wir 0:4 untergegangen sind. Da habe ich nur gedacht: Scheiße!"
imago images/Sven SimonErst Adan, dann Lopez: Mourinho wollte Casillas nicht
Und Mourinho? Soll, so erzählt man sich in Madrid noch heute, aus allen Wolken gefallen sein, als Wiese ihm einen Korb gab. Er hatte keine andere Alternative mehr in der Hinterhand, rechnete fest mit der Zusage seiner Neuer-Alternative. Ersatzkeeper Antonio Adan war zu schwach, um ihn Casillas direkt zu Saisonbeginn vor die Nase zu setzen. Weil der spanische Welt- und Europameister in Mourinhos Augen aber nicht gut genug trainierte und Real im Laufe der Hinrunde schlechte Ergebnisse erzielte, entschloss sich der Trainer kurz vor Weihnachten 2012 doch noch zu dem drastischen Schritt, Adan zur Nummer eins zu befördern.
Das löste die Staatsdebatte aus, die er ein halbes Jahr zuvor eigentlich vermeiden wollte, bis er im Januar Diego Lopez von Ligakonkurrent FC Sevilla verpflichtete. Lopez, wie Casillas ein Real-Eigengewächs, war weitaus erfahrener und stärker als Adan, wodurch Mourinho den Verzicht auf "San Iker" auch den Fans gegenüber besser begründen konnte. Der Neuzugang beendete die Saison, wenn auch unter reichlich medialem Wirbel, als Stammkraft.
Da die Causa Casillas aber auch innerhalb der Mannschaft einige Spannungen hervorgerufen hatte, trat Mourinho im Sommer eigenmächtig zurück. Perez, der den Portugiesen noch bis zur Ankunft von Zinedine Zidane als "besten Trainer" seiner Zeit als Präsident betitelte, soll alles unternommen haben, um ihn zu halten - und wäre wohl auch bereit gewesen, Casillas dafür zu opfern.
imago images/Cordon Press/Miguelez SportsÄrger mit Perez? "Casillas wollte Karriere in Madrid beenden"
Mourinho aber fürchtete, seine Autorität in der Kabine zu verlieren, da andere Führungsspieler wie Sergio Ramos, Marcelo oder Cristiano Ronaldo wenig begeistert von seinem Umgang mit der Vereinsikone waren. Zumal ihn sein Ex-Klub Chelsea mit einer Rückkehr an die Stamford Bridge lockte. So kam es zur Trennung Mourinho-Real statt Casillas-Real. Und "San Iker" erlangte unter Mourinhos Nachfolger Carlo Ancelotti seinen Status als Nummer eins zurück. Erst im Wechselspiel mit Lopez, dann im Wechselspiel mit Keylor Navas, ehe er sich im Juli 2015 aus Madrid verabschiedete und gen Porto weiterzog.
Dass sein Abschied im Bernabeu vor leeren Rängen und ohne eine ihm würdigen Zeremonie ablief, war wohl auch den Nachwehen der Fehde mit Mourinho geschuldet. Casillas' Mutter schimpfte aber vor allem auf Perez. Der Präsident habe ihren Sohn "nie gemocht", sagte sie. "Iker wollte seine Karriere eigentlich in Madrid beenden. Der Umgang mit ihm ist traurig."
"La Decima" mit Casillas, ohne Mourinho - und ohne Wiese
Fast sechs Jahre später sind die Wogen wieder geglättet. "Real Madrid ist Ikers Zuhause. Er darf jederzeit zu uns zurückkehren", meinte Perez 2020. Der Sportzeitung Marca zufolge würde der 74-Jährige den früheren Torwart gerne zu seinem persönlichen Berater ernennen. Eine ähnliche Rolle übernahm auch Zidane, ehe er sich für eine Trainerausbildung entschied.
"Ich bin dankbar für meine Karriere und die Leute, die sie mir in dieser Form ermöglicht haben", sagte der mittlerweile 40 Jahre alte Casillas. Zu diesen Leuten darf man in gewisser Weise auch Tim Wiese zählen, der Mourinhos Gedankenspiele mit seiner überraschenden Absage über den Haufen warf und so die Karriere von "San Iker" bei Real verlängerte. Eine Karriere, die 2014 unter Ancelotti auch noch in dem Erfolg gipfelte, auf den Mourinho so umtriebig hingearbeitet hatte: in "la Decima", dem zehnten Champions-League-Sieg.
Iker Casillas im Steckbrief
geboren | 20. Mai 1981 in Mostoles, Madrid, Spanien |
Größe | 1,82 m |
Gewicht | 84 kg |
Position | Tor |
starker Fuß | links |
Stationen | Real Madrid Jugend, Real Madrid, FC Porto |
Profispiele Verein/Nationalelf | 881/167 |
Größte Erfolge | Weltmeister (2010), Europameister (2008, 2012), Champions League (2000, 2002, 2014), Spanischer Meister (2001, 2003, 2007, 2008, 2012), Welttorhüter (2008, 2009, 2010, 2011, 2012) |