In Mainz gefeiert, von den Bayern gefürchtet: Arno Michels etablierte den FSV an der Seite von Thomas Tuchel als feste Größe in der Bundesliga. Mit Unberechenbarkeit und Variabilität überraschte das Trainerteam die Gegner - und stürmte nach Europa. Mit SPOX spricht Michels über seinen persönlichen Glücksfall Tuchel, den Wandel taktischer Grundordnungen und die Gerüchte um RB Leipzig.
SPOX: Herr Michels, Sie sind seit fast einem Jahr beschäftigungslos. Wie sehr vermissen Sie denn Mainz und den FSV aktuell?
Arno Michels: Natürlich verfolge ich die Entwicklung in Mainz noch, schließlich haben wir hier fünf extrem erfolgreiche und unvergessliche Jahre erleben dürfen. Mit einigen Spielern gibt es noch regelmäßigen Kontakt. Jedes Gespräch fühlt sich sehr vertraut und respektvoll an. Gleichzeitig ist es mir aber auch gelungen, Abstand zum Tagesgeschäft Bundesliga zu finden. Es ist sehr angenehm, nicht nur im Rhythmus Samstag-Samstag getaktet zu sein, sondern Zeit für Familie, Freunde, Reflexion und andere Dinge zu haben, die in jüngerer Vergangenheit zu kurz kamen.
SPOX: Sie selbst waren vor Ihrem Engagement in Mainz als Co-Trainer in Trier und Ahlen sowie als Trainer in Morbach tätig. War der FSV für Sie eine einmalige Gelegenheit auf die Bundesliga?
Michels: Definitiv. Vor allem kam es sehr überraschend. Als Thomas anrief, war das eine Megachance. Wir haben zusammen die Fußballlehrer-Ausbildung absolviert. Es kam zu einem Gespräch, in dem sehr schnell klar wurde, dass wir es gemeinsam versuchen sollten. Heute sind wir beide sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Thomas ist für mich ein absoluter Glücksfall.
SPOX: Geht der Trend generell wieder hin zu jungen, innovativen Trainern und weg von bekannten Namen?
Michels: Ich denke schon, dass heute darauf geachtet wird, vermehrt auf Trainer aus dem Nachwuchsbereich zu setzen. Wer kannte schon Tayfun Korkut, Christian Streich oder Joe Zinnbauer? Die waren nicht jedem geläufig. Markus Gisdol war Assistent. Am Ende wurde er Cheftrainer. Es ist zu simpel, nur auf Namen zu schauen oder auf Trainer, die selbst auch höher gespielt haben. Es gibt viel mehr Kernkompetenzen, die von einem Trainer abgedeckt werden müssen, ob das Führungs- und Fachkompetenzen sind oder Kommunikationsfähigkeit.
SPOX: Wie sieht bei Ihnen die Zusammenarbeit im Konkreten aus? Ist Tuchel der Entscheider und Sie mehr der Analyst im Hintergrund?
Michels: Ich bin in alle Überlegungen eingeweiht - ganz egal ob es um Trainingsinhalte, Belastungssteuerung, Spielbeobachtungen, Vor- und Nachbereitungen, Personalauswahl oder Strategien geht. Jeder in unserem Trainerteam hat seine speziellen Aufgaben, die bei Thomas zusammenlaufen und in die Entscheidungen mit einfließen. Das passiert alles im Dialog, auch mal kontrovers, aber am Ende immer mit einer Stimme.
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SPOX: Tuchels Rücktritt war im letzten Jahr das vorherrschende Thema in Mainz. War es eine Frage der Loyalität, dass Sie auch aufgehört haben?
Michels: Für mich stand fest, dass wir den Schlussstrich als Team vollziehen. Wir haben fünfmal 365 Tage jeden Stein mehrfach umgedreht und immer wieder Umstellungen und Anpassungen im Team unternommen, um Mainz 05 konkurrenzfähig zu machen. Da kommt unweigerlich der Punkt, an dem man fühlt, dass alle Änderungen von unserer Seite ausgereizt sind.
SPOX: Wie äußert sich das?
Michels: Die zurückliegende Zeit war nicht nur für uns Trainer, sondern auch für alle Spieler sehr intensiv. Um Mainz 05 in der Liga zu etablieren, geht es immer auch darum, alle Spieler in einer Art und Weise zu beeinflussen, dass sie über sich hinauswachsen können. Das wurde durch tagtägliche, beinharte inhaltliche Arbeit geleistet und die Spieler haben sich überragend darauf eingelassen. Es kommt der Punkt, an dem man seinen Jungs vertraut. Da sind nicht mehr immer die gleichen Ansagen notwendig. Wir sind davon überzeugt, alles investiert zu haben, was wir investieren konnten. Die Mannschaft brauchte einen neuen Zugang. Zeitig rauszugehen, ist auch eine Kunst. Der Erfolg hat es für Außenstehende aber schwer nachvollziehbar gemacht.
SPOX: Bei all der Verantwortung, die Sie ohnehin hatten: Hätten Sie sich die Rolle als Mainzer Cheftrainer zugetraut?
Michels: Es stand nicht zur Diskussion und war auch nicht Gegenstand meiner Überlegungen.
SPOX: Können Sie sich generell aber vorstellen, wieder selbständig als Cheftrainer zu arbeiten oder gibt es Sie vorerst nur im Doppelpack mit Thomas Tuchel?
Michels: Aktuell fühle ich mich wahnsinnig wohl in der Arbeit mit Thomas. Sie macht mir viel Spaß und hat nachweislich funktioniert. Wir werden unseren Weg gemeinsam weiter gehen und neue Ideen und Überlegungen in unsere Arbeit einfließen lassen. Eine Karriereplanung über die nächsten drei bis vier Jahre hinaus gibt es noch nicht.
SPOX: Ihr Trainerteam gilt als Meister der Taktik. Der FSV war in den letzten Jahren durchaus Vorreiter in Sachen variable Spielsysteme. Funktioniert es heute nicht mehr, dauerhaft nur eine taktische Formation zu spielen?
Michels: Das würde ich so nicht sagen. Es hat nach wie vor seine Berechtigung, auf eine stabile Grundordnung zu setzen. Warum sollte man etwas verändern, wenn man damit eine sehr große Dominanz besitzt? Wir haben die Variabilität aus einem komplett anderen Ansatz heraus gewählt: Da wir häufig in der Underdog-Rolle waren, sahen wir uns gezwungen, unsere Formation immer den Stärken des Gegners anzupassen. Gleichzeitig wollten wir unsere Offensivmöglichkeiten nicht gänzlich verlieren. Das führte in der Summe dann zu zahlreichen Wechseln, auch während des Spiels.
SPOX: Wie wurden diese Überlegungen konkret angestellt?
Michels: Wir befanden uns zunächst in einer reaktiven Haltung. Vor jeder Partie musste von Neuem entschieden werden, was wir aus unseren angestammten Mustern verwenden konnten und wo es wieder Änderungsbedarf gab. Sein eigenes Spiel so zu entwickeln, dass man in der gegnerischen Hälfte Ballbesitz hat, ist viel schwerer, schließlich erfordert es eine große Dominanz. Irgendwann überholt sich diese Entwicklung: Die Mannschaft hatte mit der Zeit so viele Fähigkeiten, dass sie selbst mehr Ballbesitz übernehmen konnte und der Anteil dessen, was der Gegner machte, entsprechend geringer wurde.
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SPOX: Sie richten Ihre Aufstellung und Spielweise von Spiel zu Spiel neu aus. Wie gehen Sie vor?
Michels: Zuerst analysiert man, wie der Gegner sein Spiel anlegt, was typische Angriffsmuster, wiedererkennbare Verhaltensweisen und wer die Schlüsselspieler sind. Daraus haben wir unsere defensive Systematik und Verantwortlichkeiten entwickelt. Welche Pässe werden bevorzugt attackiert? Wo wollen wir eine Balleroberung und wie läuft im Anschluss unser Umschaltspiel? Wichtig ist auch, festzulegen, welche Spieler an Kontern überhaupt beteiligt sein sollen. Damit ergeben sich für jeden Gegner andere Schwerpunkte, Formationen und Personalentscheidungen.
SPOX: Diese Flexibilität machte Sie fast schon zum Angstgegner der Bayern.
Michels: Es erfordert Mut und Geschick des Trainers, die Spieler überhaupt dazu zu bringen, sich darauf einzulassen. Übermächtigen Gegnern durch überraschende Ansätze Aufgaben zu stellen, um Zeit zu gewinnen und den Rhythmus des Gegners zu brechen - das kann dazu beitragen, dass am Ende eine Überraschung gelingt, die keiner so erwartet hat.
SPOX: Das klingt einfacher, als es ist.
Michels: Jede Idee hängt maßgeblich von der Umsetzung der Spieler ab. Was gespielt werden soll, entscheiden die Trainer. Wie es umgesetzt wird, liegt in der Verantwortung der Spieler. Wir gewinnen kein Spiel an der Tafel im Trainerbüro. Jedoch versorgen wir die Mannschaft mit Ideen und Ansätzen, wie es funktionieren könnte. Wenn sich das gute Gefühl dann im Spiel bestätigt, kann es auch gegen die Bayern funktionieren. Meiner Meinung nach ist man heute eher bereit, die Grundordnung sowohl von Spiel zu Spiel zu verändern als auch während der laufenden Partie schneller anzupassen. Dennoch kann man mit bekannten Ordnungen sehr erfolgreich sein.
SPOX: Nennen Sie ein Beispiel.
Michels: Gladbach. Das Team unter Lucien Favre ist sehr lange zusammen und zeigt im 4-4-2 stabile Verhaltensweisen in Offensive und Defensive. Besonders das Aufbauspiel ist sehr ausgeprägt und extrem strukturiert. Die Abläufe sind verinnerlicht. Das gibt dem Team Sicherheit und schafft Vertrauen in ihre Angriffszüge. Ihr Auftreten ist entsprechend dominant.
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SPOX: Gibt es Mannschaften, bei denen diese Analysen deutlich schwerer fallen?
Michels: Es gibt Gegner, bei denen man im Spiel gar nicht immer genug Zeit hat, große Überlegungen anzustellen. Borussia Dortmund ist so eine Mannschaft. Wir haben schon mit vielen verschiedenen Systematiken gegen sie gespielt. Dabei war es gegen den BVB gar nicht unbedingt entscheidend, welches System man einsetzte, sondern dass man im Kopf schnell ist. Gegen sie muss man also Mittel einsetzen, die schon funktionieren und ohne Nachdenken abrufbar sind.
SPOX: Wie bekommt man solche Automatismen so schnell in die Köpfe der Spieler?
Michels: Es braucht Wiederholungen und Verständnis für die Position: Regelmäßiges Training und das Aufzeigen am Videobild als Feedback sind wichtig. Und es braucht auf dem Platz die Flexibilität und Freiheit, individuell zu agieren, weil man nie wirklich weiß, wie der Gegner reagiert. Insofern sind Automatismen lediglich hilfreiche Krücken. Allerdings haben diese Abläufe auch den Nachteil, dass sich der Gegner besser darauf einstellen kann.
SPOX: Wird es also wieder schwieriger, ein Spiel über Taktik zu gewinnen?
Michels: Taktik beschreibt nur den Rahmen, in dem die Mannschaft agiert. Das Spiel wird aber maßgeblich von den Spielern mit ihren Verhaltensweisen gelebt, die mehr oder weniger aufeinander abgestimmt sind. Da nutzt es wenig bis nichts, wenn der Trainer zwar eine gute Idee hatte, diese aber nicht mit Leben gefüllt wurde - oder eine schlechte Idee hatte, die aber vom Team gut umgesetzt wurde. Auch den Zufall sollte man nicht unterschätzen. Die beste Taktik besteht für mich in der Fähigkeit eines Teams, auf alle Aufgaben flexibel reagieren zu können. Da gehört das tiefe Verteidigen vor dem eigenen Tor genauso dazu wie das Herausspielen zahlreicher Chancen.
SPOX: Gibt es demnach ein bestimmtes Anforderungsprofil, das Sie für Ihre nächste Mannschaft haben?
Michels: Wir haben in Mainz über fünf Jahre für einen wiedererkennbaren Spielstil gestanden. Darauf konnten sich die Fans und Verantwortlichen mit großer Sicherheit verlassen. Das sollte auch im neuen Klub möglich sein. Gleichzeitig sollten sich unsere ehrgeizigen Ambitionen mit denen des Vereins decken. Idealerweise geht es auch darum, um Titel mitzuspielen.
SPOX: Im Sommer laufen Ihre Verträge in Mainz offiziell aus. Wissen Sie schon, wohin es geht?
Michels: Nein, wir haben es noch nicht entschieden.
SPOX: Und verhandelt wurde auch noch nicht?
Michels: Wir sind aktuell in einer Phase, in der wir unsere Zukunft konkreter planen. Mehr gibt es zurzeit aber nicht zu vermelden.
SPOX: Auch nicht beim Thema Leipzig?
Michels: Nein, auch da nicht und Thomas hat dort auch noch kein Haus gekauft (lacht). Ich finde es katastrophal, wie in dieser Sache berichtet wurde. Das hatte 0,0 Prozent Wahrheitsgehalt, aber Hauptsache es wurde kolportiert.
SPOX: Wäre denn das Ausland eine Option?
Michels: Auch das können wir uns vorstellen, ja.
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