Joachim Löw auf der Suche nach neuen Führungsspielern: Kein Status ist sicher

Stefan Zieglmayer
06. März 201914:51
Toni Kroos und Manuel Neuer müssen um ihre Führungsrollen in der Nationalmannschaft kämpfen.getty
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Joachim Löws Ansage bei der Ausbootung von Thomas Müller, Jerome Boateng und Mats Hummels war deutlich: "Die jungen Nationalspieler müssen nun die Verantwortung übernehmen." Der frische Anstrich der DFB-Elf wirkt wie ein Warnschuss an die verbliebenen Weltmeister.

Es fühlt sich ein wenig an wie Juni 2011. Bundestrainer Löw hatte mit Michael Ballack soeben den langjährigen Capitano und Leitwolf der deutschen Nationalmannschaft abgesägt. Schon damals war die Art und Weise der Kommunikation fragwürdig.

Die Begründung? Vor dem Start in die EM-Saison sei der Zeitpunkt gekommen, klar Position zu beziehen. Sie ähnelte der, die Löw an diesem 5. März 2019 abgab: "Im Jahr der Qualifikation zur Europameisterschaft 2020 senden wir ein deutliches Signal der Erneuerung."

Der Übergang zur Post-Ballack-Ära gelang unerwartet fließend - und der Erfolg gab Löw Recht. Die Verantwortung verteilte sich erfolgreich auf mehrere Schultern. Nach und nach wuchsen auch Müller, Boateng und Hummels in diese Führungsrollen hinein, jeder auf seine Weise.

Ihre Schultern gilt es nun zu ersetzen. Löw schrieb die freien Stellen aus, doch wer bewirbt sich? SPOX und Goal geben einen Überblick.

Manuel Neuer (FC Bayern München, 32 Jahre):

Neuer ist als Kapitän nun mehr gefordert denn je. Er muss sich in seiner Rolle womöglich neu erfinden. Bisher interpretierte der vierfache Welttorhüter das Kapitänsamt sehr moderat.

Er ist nicht als jemand bekannt, der den Finger schonungslos in die Wunde legt, sondern vielmehr um Harmonie und Diplomatie bedacht. Eigenschaften, die zweifelsohne wichtig sind und im Publikum gut ankommen.

Bezeichnend dafür war Neuers Auftritt beim kuriosen Schul-Termin vor dem Testspiel gegen Russland im November. Kritischen Fragen wich er aus: "Die Journalistenfragen trüben etwas die Stimmung, die Kinderfragen waren sensationell."

Ist Feel-Good-Kapitän Neuer der perfekte Wortführer einer Nationalmannschaft, die sich im Neuaufbau befindet? Wohl kaum.

Hinzu kommt, dass sich die T-Frage mehr denn je aufdrängt. Auch nach dem WM-Debakel legte sich Löw auf Neuer als Nummer Eins fest. Die Forderungen nach Marc-Andre ter Stegen werden jedoch immer lauter. Und Löw verschaffte sich jüngst etwas Handlungsspielraum. "In diesem Jahr haben wir einen kleinen Neubeginn. Marc wird seine Chance bekommen und auf jeden Fall ein paar Spiele machen", sagte er im Gespräch mit DAZN.

Marc-Andre ter Stegen spielt beim FC Barcelona seine vielleicht beste Saison.getty

Die sportlichen Leistungen würden einen Wechsel im DFB-Tor rechtfertigen. Ter Stegen fliegt beim FC Barcelona unverständlicherweise irgendwie noch immer unter dem Radar. Seine Fabel-Saison stößt lediglich in Spanien auf das verdiente Echo.

Sollte ter Stegen seine Leistungen auf nationaler Bühne aber bestätigen, wackelt Neuers Nummer-Eins-Status. Ter Stegen könnte stattdessen zum Führungsspieler werden.

Toni Kroos (Real Madrid, 29 Jahre):

Er stach rund um die WM in Russland als Kritiker aus der Mannschaft heraus. Sei es seine Generalkritik im vergangenen März ("Einige hatten die Chance, sich zu zeigen, aber das haben sie nicht getan") oder sein Wachrütteln von Leroy Sane ("Man muss ihn dazu bringen, die Topleistung zu bringen").

Kroos schwang sich auch neben dem Platz zum Dirigent auf. Er nahm sich dabei jedoch eine Sonderrolle heraus, die seinen Status als Führungsspieler durchaus ins Wanken bringen könnte. Bei seiner Entscheidung, weiter für das DFB-Team spielen zu wollen, betonte er, dass er Ruhephasen brauche. Volle Leidenschaft und Identifikation klingen anders.

Ob der aktuellen Spielzeit des Mittelfeldstrategen stellt sich die Frage, ob sich Kroos das leisten kann. Die Dieseltraktor-Kritik von Bernd Schuster war nur die Spitze des Eisbergs. Auch bei den Fans und Real-Trainer Santiago Solari beginnt ein Umdenken.

"Die jungen Spieler machen Druck. Die Zeit geht vorbei, die Leute sehen neue Spieler. Das passiert im Fußball, aber auch im normalen Leben", sagte Solari nach dem Clasico in der Liga, in dem Kroos unter Pfiffen nach 55 Minuten ausgewechselt wurde.

Möglicherweise ist das eine Momentaufnahme, möglicherweise hat aber auch Kroos seinen Zenit schlichtweg überschritten.

Niklas Süle (FC Bayern München, 23 Jahre):

Beim FC Bayern hat er sich bereits zum Stammspieler entwickelt. In der Nationalmannschaft ist Süle von nun an Abwehrchef. Eine Rolle, in die er erst noch reinwachsen muss. Denn in München hatte Süle stets Boateng oder Hummels an seiner Seite.

Im Nationalteam erhält er nun "den nötigen Raum zur vollen Entfaltung", wie Löw erklärte.

Auf dem Platz ist Süle eine wahre Erscheinung: robust, zweikampfstark, dynamisch und schnell. Er ist ein stiller Leader, der mit seinen Leistungen überzeugt. "Niklas ist ein sehr entspannter Zeitgenosse, der gleichzeitig ehrgeizig und sehr locker ist. Er ist sympathisch, nicht verkrampft, nicht total verbissen, aber sehr konzentriert", schwärmte sein Klub-Trainer Niko Kovac von Süle.

Auf ihn werden in der DFB-Elf nun vermehrt Aufgaben zukommen, die Süle trotz seiner Stammplatz-Garantie beim FC Bayern bisher nur sporadisch ausgefüllt hat.

Dass er das kann, bewies er beispielsweise nach dem 3:0-Sieg der deutschen Elf gegen Russland, als er nach seinem ersten Tor im DFB-Dress und überzeugender Leistung als Abwehrchef eine souveräne, sympathische Vorstellung in der Mixed Zone ablieferte ("Das sind schon kleine Mopeds").

Inwiefern Süle auch nach sportlichen Misserfolgen als Wortführer punkten kann, wird sich jedoch zeigen.

Joshua Kimmich (FC Bayern München, 24 Jahre):

Sein Weg scheint vorgezeichnet. Er drängt nicht nur auf dem Platz in die Rolle des Lahm-Nachfolgers. Schon früh in seiner Entwicklung signalisierte Kimmich: "Wenn ich etwas zu sagen habe, dann spreche ich das auch an."

Schonungslose Offenheit, Ehrlichkeit, Reflexion: Diese Stärken bringt Kimmich bereits mit. "Joshua ist ein Spieler, der für sein Alter sehr weit auf und neben den Platz ist. Er ist extrem wissbegierig, ehrgeizig und möchte sich ständig verbessern", sagte Löw im November über Kimmich.

Bis jemand eine Führungsrolle bei der Nationalmannschaft oder bei den Bayern übernehmen könne, brauche es jedoch "schon ein paar Jahre", meint Löw. Beim Confed-Cup 2017 rückte er schon in den erweiterten Kreis der Führungsspieler - mit 23 Jahren. Aufgrund seiner verhältnismäßig schwachen WM büßte Kimmich ein paar Prozentpunkte in dieser Entwicklung ein. Nun ist es Zeit für den nächsten Schritt.

Angesichts des Wegfalls von Müller und Co. ist Kimmichs Zeit im Nationalteam früher gekommen als erwartet. Immerhin ist er mittlerweile schon beinahe drei Jahre dabei. Zudem steht er gefühlt immer zur Verfügung.

Marco Reus (Borussia Dortmund, 29 Jahre):

Die Konstanz, die bei Joshua Kimmich vorhanden ist, geht Marco Reus etwas ab. Aus diesem Grund avancierte er im DFB-Dress auch noch nicht zu dem Führungsspieler, den er beim BVB verkörpert.

Er spielt bisher seine wohl beste Saison, gilt als Hirn und Herz der BVB-Offensive und soll das mit Blick auf die EM 2020 auch in die Nationalmannschaft transportieren.

Das große Manko ist natürlich seine Verletzungsanfälligkeit. Auch in der wegweisenden Saisonphase im Februar fehlte Reus durch einen Muskelfaserriss und verpasste vier Spiele der Borussia, die nachfolgend als "kopflos" betitelt wurden.

Sein Fehlen unterstrich erneut den Einfluss, den er auf seine Mannschaft hat. Reus ist dem Ruf als freier Kreativling längst entwachsen und ist als Führungsspieler enorm wichtig. "Ich bin älter geworden. Da wird man reifer", meint Reus.

Steht er Löw konstant zur Verfügung, ist Reus mit Sicherheit das Gesicht der deutschen Offensive. "In dieser Verfassung hätte ich ihn liebend gerne über die ganzen Jahre dabei gehabt", sagte Löw vor einigen Monaten.

Julian Draxler (Paris Saint-Germain, 25 Jahre):

Er wurde bereits in die Führungsrolle hineingeschubst. Löw ernannte Draxler beim Confed-Cup vor zwei Jahren zum Kapitän.

"Julian ist anerkannt innerhalb der Mannschaft, gerade bei den jungen Spielern, er hat ja schon einiges erreicht, war 2014 und 2016 bei den Turnieren dabei. Ich denke, das wird ihm helfen für die Zukunft", erklärte der Bundestrainer.

Als Kopf dieser sehr jungen Confed-Cup-Mannschaft erledigte Draxler seine Aufgabe überraschend gut, sammelte gar als vorbildlicher Kämpfer Pluspunkte. Danach rückte er jedoch wieder ins zweite Glied.

Julian Draxler war beim Confed-Cup 2017 Kapitän der deutschen Nationalmannschaft.getty

Draxler drängte sich in der Nationalmannschaft nie wirklich als Stammspieler auf. Bei Kader-Nominierungen für große Turniere war er stets einer der Wackelkandidaten. Auch in den Länderspielen nach der WM war der 25-Jährige nur Rotationsspieler, eine Randfigur. Seine Rolle bei Paris Saint-Germain ist eine ähnliche.

Trotz seiner internationalen Erfahrung und spielerischen Fähigkeiten macht Draxler noch immer nicht den Eindruck, einer Mannschaft entscheidende Impulse verleihen zu können.