Läuft alles wie erwartet, holt Juventus den vierten Scudetto in Folge - doch das reicht in Turin nicht. Die Alte Dame will endlich auch wieder in der Champions League erfolgreich sein. Nach dem Rücktritt von Antonio Conte soll es nun Massimiliano Allegri richten, der aber nicht nur wegen seiner Vorgeschichte mit Andrea Pirlo schon von Beginn an einen schweren Stand hat.
Spätestens nach dem Vorrunden-Aus in der Königsklasse vergangene Saison schrillten bei Antonio Conte die Alarmglocken.
Der Trainer forderte vehement hochklassige und damit auch kostspielige Verstärkungen - bekam sie aber nicht. Conte sah keine Basis mehr für eine erfolgreiche Zusammenarbeit und reichte seine Kündigung ein. Als sein Nachfolger wurde wenig später Massimiliano Allegri vorgestellt. Zum Unmut der schwarzweißen Anhängerschaft.
Ein früherer Rossonero, der nach einem Scudetto zu Beginn an den hohen Ansprüchen in Mailand scheiterte und dem von seinen früheren Spielern große taktische Defizite vorgeworfen werden? Der Mann, der Andrea Pirlo bei Milan für zu alt befand und vom Hof jagte?
Bei vielen Fans löste diese Entscheidung Unverständnis aus - bei manchen auch mehr. Nach der Vorstellung des neuen Trainers traktierten einige aufgebrachte Anhänger das Auto, in dem Juve-Präsident Andrea Agnelli und Allegri saßen, mit Faustschlägen.
Zweifel bleiben
Mittlerweile dürfte der erste große Ärger der Vorfreude auf die neue Spielzeit gewichen sein, doch auch mit dem erfolgreichen Liga-Auftakt mit zwei Siegen gegen Chievo Verona und Udinese Calcio sind noch längst nicht alle Zweifel an der neuen Alten Dame ausgeräumt.
Zwar schaffte man es, Arturo Vidal und Paul Pogba zu halten (bei letzterem ist nun dank einer saftigen Gehaltserhöhung auf vier Millionen Euro pro Jahr offenbar sogar eine Vertragsverlängerung bis 2019 in Aussicht), auf namhafte Verstärkung musste man in Turin aber lange warten.
Vor allem im Offensivbereich sollte ein Großkaliber her, gehandelt wurden Torjäger wie Didier Drogba, Fernando Torres oder Radamel Falcao. Letzterer wechselte auf den letzten Drücker für eine Rekord-Leihgebühr von 15 Millionen Euro nach Manchester. Eine Summe, die man in Turin trotz intensiver Verhandlungen für eine Leihe nicht bereit war auszugeben.
Nicht mehr attraktiv genug?
Dabei war der Kolumbianer keinesfalls abgeneigt und ließ sogar ein Hintertürchen für die Alte Dame offen. Die "Gazetta dello Sport" will von einer SMS an Geschäftsführer Giuseppe Marotta erfahren haben, in der der Stürmer mitteilte: "Vielen Dank für alles. Es wäre mir eine Ehre für Juve zu spielen. Vielleicht kann das in der Zukunft geschehen."
Konkret war ebenfalls das Interesse an Alexis Sanchez. Der Chilene sollte unbedingt ein Bianconero werden, um die Offensivabteilung noch variabler und unberechenbarer zu machen. Sanchez entschied sich gegen Juve und für Arsenal.
Vielleicht auch aufgrund der damals noch unsicheren Zukunft der beiden Stützpfeiler Vidal und Pogba. Beide gescheiterten Transfers lassen im Turiner Umfeld gewisse Zweifel aufkommen, ob der Verein überhaupt noch im Konzert der ganz großen in Europa mitmischen kann.
Morata: Wunschstürmer oder Notlösung?
Mit dem Trainerwechsel kam dann auch der erwartet große Transfer. Conte ging, Allegri kam - und mit ihm doch noch der gewünschte neue Angreifer: Alvaro Morata.
Der junge Spanier kam für rund 20 Millionen Euro von Real Madrid, wurde als Wunschstürmer tituliert und beruhigte die erhitzten Gemüter der Anhänger nur drei Tage nach der Vorstellung Allegris wieder ein wenig.
Ob der U-21-Europameister die ersehnte Verstärkung im Sturm ist, konnte er bisher aber noch nicht unter Beweis stellen, da er sich nur wenige Tage nach seinem Wechsel am Knie verletzte. Gegen Udinese reichte es immerhin zu einem Kurzeinsatz von wenigen Minuten.
Wirklich überzeugt zeigten sich die Anhänger der Bianconeri nach dem Allegri-Schock jedenfalls auch mit der Verpflichtung Moratas nicht, zumal Real für das Ende der Spielzeiten 2015/16 und 2016/17 ein Rückkaufrecht besitzt.
Pirlo: Demontage 2.0?
Zum Stolperstein könnte für Neu-Coach Allegri, neben fehlender Verstärkungen, auch seine schwierige Beziehung zu Juves großem Zampano werden. In seiner Zeit beim AC Milan befand Allegri Andrea Pirlo schlicht für zu alt, versetzte den eigentlichen Spielmacher auf den linken Flügel und beraubte ihn so seiner Spielfreude, dem wichtigsten Teil seines Spiels. Nicht wenige behaupten, Pirlo wäre regelrecht vom Hof gejagt worden.
"Man durfte kein Pirlo mehr sein", erklärte der mittlerweile 35-Jährige in seiner Biographie: "Allegri wollte mich auf einer anderen Position einsetzen, doch mir hat es gefallen, vor der Abwehr zu spielen. Ich wusste, auf dieser Position kann ich noch ein paar Jahre mehr spielen. Allegri sah auf der Position vor der Abwehr eher Ambrosini oder van Bommel. Mir wurde ein Einjahresvertrag angeboten, aber nicht auf dieser Position. Also habe ich 'Nein, danke' gesagt und bin zu Juventus gewechselt. Das war keine Entscheidung wegen des Geldes."
Auf die Vorbehalte gegenüber seiner Person reagiert Allegri bisher gelassen. "Es ist normal, dass es von den Fans Reaktionen gibt. Conte hat drei Meistertitel erobert. Wie kann ich die Fans also für mich gewinnen? Mit Resultaten, harter Arbeit, Respekt und Professionalität", erklärte er zum Amtsantritt. Und Pirlo? Der zeigte sich unbeeindruckt, blieb professionell und versprach Loyalität. "Mach dir keine Sorgen, du kannst auf mich zählen", ließ Il Architetto verlauten.
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Architekt vs. Bauleiter
Kein anderer verkörperte die Dominanz der Alten Dame in der letzten Saison besser als Pirlo. Gerade bei engen Spielen und Arbeitssiegen war es nicht selten "der alte Mann mit dem Bart", der mit einem seiner Geistesblitze die Entscheidung herbeiführte. Pirlo führte im zentralen Mittelfeld Regie und bekam von Conte die Freiheiten zugesprochen, die er benötigt, um mit seinen Qualitäten eine Partie zu entscheiden.
Bei den Juve-Fans geht nun die Angst um, "Bauleiter" Allegri könnte, wie schon in Mailand, die größte Waffe des Teams stumpf werden lassen, indem er die Vorstellungen und Visionen seines "Architekten" zu sehr einschränkt.
Momentan fällt Pirlo noch mit einer Hüftverletzung aus, sein erster Stellvertreter ist Claudio Marchisio. Dahinter wurden mit Luca Marrone (Sassuolo) und Roberto Pereyra (Udine) zwei Neue für das zentrale Mittelfeld verpflichtet, die sich allerdings erst beweisen müssen.
Pogba unersetzbar
Als nahezu unersetzbar gilt dagegen schon Paul Pogba. Trotz seiner erst 21 Jahre bestritt der Franzose vergangene Saison 36 von 38 Ligaspielen und trug einen großen Teil dazu bei, dass das Mittelfeld-Dreieck mit Vidal und Pirlo das Nonplusultra der Serie A darstellte.
Gemeinsam mit dem Chilenen hält Pogba Pirlo, der als feinstes und wichtigstes Zahnrad im Juve-Spiel agiert, den Rücken frei und entwickelt zudem Torgefahr. Als wandelbarer Spieler mit Defensiv- wie Offensivstärken gilt der Franzose als das zukünftige Gesicht der Bianconeri.
Das Bild im Angriff prägte vergangene Saison das Sturmduo Carlos Tevez und Fernando Llorente. 19 Tore und sieben Assists gepaart mit 16 Treffern und fünf Assists bedeutete zusammen mit Immobile/Cerci das erfolgreichste Duo der letzten Saison.
Morata als Lösung?
Den Ansprüchen konnte Llorente, vor allem international, dennoch nicht genügen. Umso verwunderlicher, dass die Transferrechte an Ciro Immobile, dem erfolgreichsten Stürmer der Serie A, für acht Millionen Euro abgetreten wurden, um Budget für den Wunschstürmer zu schaffen. Ob es sich dabei bereits um Morata handelte, ist nicht überliefert. Nach Aussagen der Verantwortlichen war eine Verpflichtung des Spaniers aber von langer Hand geplant.
Morata soll nun besser ins System passen als der oft unbewegliche Llorente. Allegri, der schon bei Milan auf eine variable Angriffsreihe mit viel Bewegung in und um den Strafraum setzte, dürfte einen solchen Spielertyp mit offenen Armen empfangen.
Die Alternativen für die vorderste Front sind aber dennoch recht rar gesät. Vor dem ersten Saisonspiel und in Abwesenheit von Morata stand eigentlich nur Sebastian Giovinco als ernsthafte Möglichkeit zur Verfügung. Eigentlich.
Coman als Joker
Denn bei Bedarf kann Allegri nun einen weiteren Joker ziehen. Kingsley Coman ist zarte 18 Jahre alt, kam vor der Saison ablösefrei von PSG nach Turin und stand gegen Chievo in der Startelf. Doch nicht nur das. Der Franzose präsentierte sich spielfreudig und torgefährlich und war auffälligster Offensivakteur in Reihen der Bianconeri.
Coman entschied sich bewusst für Juve, obwohl er von zahlreichen europäischen Topklubs umworben wurde. "Es gab da den FC Bayern, Leverkusen, Liverpool, Arsenal sowie Girondins Bordeaux, besonders bei Bordeaux habe ich lange gezögert. Aber bei Juve haben französische Spieler eine gewisse Tradition", erklärte der 18-Jährige gegenüber "L'Equipe".
"Einige von ihnen haben dort Großes erreicht. Also sagte ich mir: Warum nicht auch ich?" Die Rede ist von Fußballgrößen wie Platini, Deschamps, Viera, Thuram, Zidane und als aktueller aufgehender Stern auch Paul Pogba.
Erster Anflug von Dominanz
Der Auftritt des U-21-Nationalspielers war über weite Strecken die einzige Neuerung im Turiner Spiel. Zwar fiel der Sieg gegen Chievo mit 1:0 recht spärlich aus, doch die Dominanz der vergangenen Saison kündigte sich, unter anderem durch 21 von OPTA gezählte Torschüsse, schon wieder an.
Nach Meinung des neuen Trainers verhielt sich sein Team aber besonders nach dem Seitenwechsel zu passiv und musste sich am Ende bei Gianluigi Buffon bedankten, dass Chievo nicht mehr zum Ausgleich kam. "Manchmal neigen wir dazu uns zurückzuziehen. Wir müssen versuchen, ein wenig offensiver zu bleiben", so Allegri.
Im ersten Heimspiel konnte der Neu-Coach damit schon zufriedener sein, denn beim 2:0 gegen Udinese ließ Juve über die gesamte Spielzeit keinen Zweifel daran, wer als Sieger vom Platz gehen würde.
In der Defensive machte sich auch das Fehlen der beiden Stützpfeiler Giorgio Chiellini und Andrea Barzagli bemerkbar. Letzterer steht nach mehr als zwei Monaten Verletzungspause allerdings kurz vor seinem Comeback und sammelte beim 5:3-Testspielsieg über den Siebtligisten Pro Settimo Eureka bereits wieder Spielpraxis.
Mit von der Partie war dabei auch Alvaro Morata, der in einem 4-3-3 in einer offensiven Dreierreihe neben Tevez und Llorente agierte.
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Arrivederci Dreierkette?
Die 4-3-3-Formation gilt bei Allegri derweil als ernsthafte Variante zur defensiven Dreierkette. Der 47-Jährige bevorzugt offenbar die klassische Viererreihe, kündigte aber an, vorerst nichts an der Grundausrichtung der Bianconeri verändern zu wollen und setzte auch im zweiten Ligaspiel erneut auf das bewährte System. Dennoch soll sein neues Team variabler werden und möglichst nahtlos zwischen mehreren Systemen wechseln können.
Mit Patrice Evra wurde passend dazu ein "echter" Linksverteidiger verpflichtet und mit Glen Johnson steht laut englischen Medien ein weiterer Spieler für diese Position auf der Winter-Einkaufsliste. Rückkehrer Barzagli könnte sich mit einer System-Umstellung durchaus anfreunden.
"Wie man bereits sehen konnte, hat der Trainer neue Ideen eingebaut und das ist so wichtig, wie mit dem gleichen Hunger weiterzumachen, der uns drei Titel in Folge beschert hat", so der 33-Jährige beim hauseigenen "Jtv".
Ergebnisse, Titel, Attraktivität
In einer Viererkette könnten etwaige Ausfälle von Asamoah links oder Stephan Lichtsteiner rechts auch besser aufgefangen werden. Mit Mauricio Isla wurde der erste Backup für die rechte Seite an QPR ausgeliehen und Marco Motta, Romulo und Pepe, der nach langer Verletzungsmisere zurückgekehrt ist, sind im taktisch anspruchsvollen 3-5-2 kein gleichwertiger Ersatz.
Leicht hat es Allegri in Turin also sicher nicht. Der 47-Jährige soll attraktiv spielen lassen, Ergebnisse und Titel liefern und ganz nebenbei möglichst den Nachfolger von Pirlo bestimmen, sowie eine Lösung für die Post-Buffon-Ära entwickeln.
Für Letzteres scheint aber offenbar wieder mehr Zeit zu sein, denn "Gigi Nationale" steht wohl unmittelbar vor der Unterzeichnung eines neuen Einjahresvertrags.
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Die Meisterschaft ist nicht genug
Schaffen es Spielmacher und Trainer, ihre Differenzen außen vor zu halten und bleibt Juve im zentralen Mittelfeld, dem Rechenzentrum des Teams, sowie auf den Außenbahnen vom Verletzungspech verschont, führt in Sachen Scudetto kein Weg an der Alten Dame vorbei.
Sollte sich das gewünschte Sturmduo Tevez/Morata finden und Allegri die taktische Ausrichtung variabler gestalten können, dürfte in der Champions League in Gruppe A mit Atletico Madrid, Olympiakos Piräus und Malmö FF ein Weiterkommen drin sein.
Das ist jedoch eine Frage der Philosophie - und der Akzeptanz. Liefert Allegri Siege und Titel, kann er in Contes Fußstapfen treten und vielleicht sogar darüber hinaus erfolgreich sein. Viel Geduld darf er dafür jedoch nicht erwarten. Denn bei den Bianconeri sind die Ansprüche längst wieder über attraktives Spiel und nationale Titel hinaus gewachsen.
"Juve muss immer gewinnen"
"Juventus ist ein Klub, der immer gewinnen muss. Sie müssen um jedes Tor kämpfen, in Italien und darüber hinaus. Und deshalb zählen für Allegri, wie für jeden anderen auch, nur die Ergebnisse", stellte Juve-Legende Giampiero Boniperti vor kurzem klar.
Letzen Endes ist der Mann an der Seitenlinie aber immer abhängig von seinen Spielern, deren Aufopferungsbereitschaft und Leistung auf dem Rasen. Das weiß kaum einer besser als Allegri-Vorgänger Antonio Conte: "Ein Trainer kann 1000 Ideen haben - es sind die Spieler, die über Glück oder Ruin entscheiden."
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