Karim Bellarabi stand am Anfang der Saisonvorbereitung noch an einem Scheideweg. Der Rückkehrer hatte bei Absteiger Braunschweig keinen Stammplatz und warf die Frage auf, ob er sich jemals würde durchsetzen können. Doch der neue Trainer von Bayer Leverkusen gab ihm Vertrauen, das sich in den ersten Saisonwochen mehr als auszahlt. Auf einmal ist der Flügelflitzer unverzichtbar für den neuen Stil der Werkself.
26 Einsätze, davon sechs nur als Einwechselspieler. Drei Tore, fünf Vorlagen. So liest sich die Bilanz von Karim Bellarabi bei Eintracht Braunschweig, wo er in der vergangenen Saison als Leihspieler aktiv war. Sie lässt keinen Triumphzug erahnen, zumal die Eintracht von der ersten Saisonminute an gegen den Abstieg kämpfte und mit nur 25 Punkten tatsächlich den Gang in Liga zwei antreten musste.
Es war nicht die Bilanz, die sich Bayer Leverkusen von Bellarabi erhofft hatte. Nach einer schwerwiegenden Schambeinverletzung in der Vorsaison, die ihn beinahe ein Jahr lang pausieren ließ, sollte der Deutsch-Marokkaner in Braunschweig eigentlich jede Menge Spielpraxis und Selbstvertrauen sammeln, um für Bayer wieder zur Option zu werden.
Der Plan ging nur bedingt auf, und so schien es, als stünde die nächste Leihe bevor. "Wir wollten ihn wieder ausleihen", gab auch Sportchef Rudi Völler kürzlich zu. Doch der neue Trainer Roger Schmidt erbat sich zum Anfang der Saisonvorbereitung etwas Bedenkzeit, um selbst ein Urteil über Bellarabi fällen zu können.
Die Bedenkzeit hielt nicht lange an. "Nach einer Woche Training sagte Roger Schmidt, dass Karim nirgendwo hingehen, sondern bleiben wird", blickt Völler zurück.
Schmidt: "Ein Wahnsinnsspieler"
Fünf Einsätze, jeder von Anfang an. Drei Tore, vier Vorlagen. Das schnellste Tor der Bundesliga-Geschichte in Dortmund. Ein Traumtor zum 4:2 gegen Hertha BSC, ein Treffer in der Champions-League-Qualifikation beim wichtigen 3:2 in Kopenhagen. Diese Bilanz klingt schon eher nach einem Triumphzug, zumal jedes der fünf Spiele gewonnen wurde und Bayer die Tabelle anführt.
Wie konnte das passieren? Warum bekommt ein 24-Jähriger, der in seiner Karriere bis dato nur selten sein durchaus vorhandenes Potenzial unter Beweis stellen konnte, auf einmal Prädikate wie "unentbehrlich" (Klub-Chef Michael Schade) oder "ein Wahnsinnsspieler" (Schmidt) verliehen?
Sein Trainer versucht sich an einer Erklärung: "Er hat aus unserer Spielidee seine Spielidee gemacht und hat gemerkt, dass er nicht nur schnell ist mit Ball, sondern auch gegen den Ball, und dass er viele Bälle erobern kann. Es freut mich, dass er das verinnerlicht hat. Dadurch macht er mit Mitte 20 noch einmal einen richtigen Sprung."
In der Tat kommt Schmidts Spielidee Bellarabi, der zu den schnellsten Spielern der Liga zählt, sehr entgegen. Es geht ruckartig nach vorne, der Ball wird dauerhaft gepresst, fixes Umschalten ist die Devise. So war auch das 9-Sekunden-Tor beim BVB "kein Zufall", wie Schmidt betont.
Trainer, Vertrauen, Selbstvertrauen
Ganz so einfach ist der plötzliche Durchbruch jedoch nicht zu erklären. Vielmehr kommt derzeit einfach alles zusammen: Die neue Spielphilosophie, die endlich einmal komplett absolvierte Saisonvorbereitung und die Gesundheit, die in der Vergangenheit auch nicht unbedingt garantiert war. Der Hauptgrund jedoch ist auf mentaler Ebene zu finden.
Zum Beispiel in seiner Beschreibung des Traumtors gegen Berlin: "Klar war das ein perfekter Schuss, aber der hätte auch 20 Meter drüber gehen können. Im Moment habe ich einfach das Selbstvertrauen dafür." Oder seiner Beschreibung vom Verhältnis zum Trainer: "Alles passt mit ihm. Trainer und Mannschaft verstehen sich. Ich bin dankbar, weil er mir Vertrauen schenkt."
Trainer, Vertrauen, Selbstvertrauen. Das sind die drei Stichworte, die am ehesten als Erklärungsansatz für den rasanten Saisonstart des 24-Jährigen taugen. Und Motivation: "Ich habe mir vorgenommen, in diesem Jahr anzugreifen. So viele Chancen bekommt man nicht im Leben."
Es scheint, als hätte er die Chance genutzt und endlich die perfekte Situation für sich gefunden. Dem "Express" zufolge haben Spieler und Verein den Vertrag Anfang September bereits bis 2016 verlängert.
Von Bremen ausgemustert
Bei aller Euphorie ist jedoch entscheidend, dass Bellarabi die Bodenhaftung nicht verliert. Er selbst nutzt jede Gelegenheit, um darauf hinzuweisen. "Man muss jetzt auch mal den Ball flach halten. Ich habe jetzt zwei gute Spiele gemacht, mehr auch nicht", sagte er etwa nach dem Hertha-Spiel.
Das Risiko hält sich bei ihm jedoch in Grenzen, zumal er bereits erlebt hat, wie schnell es gehen kann im Profifußball. Sein Aufstieg verlief keineswegs gradlinig und hatte schon jetzt jede Menge Höhen und Tiefen.
Bellarabi, der in Bremen aufgewachsen ist, wechselte im Alter von acht Jahren vom FC Huchting in die Jugend von Werder Bremen. Dort spielte er sechs Jahre lang, der große Wurf einer Profikarriere wurde ihm jedoch nicht zugetraut. Bellarabi blieb jedoch hartnäckig und spielte fortan beim FC Oberneuland um seine Chance.
Diese ergab sich im Jahr 2008. Eintracht Braunschweig und der damalige A-Jugend-Trainer Torsten Lieberknecht wurden auf den Youngster aufmerksam und holten ihn ins Braunschweiger Internat. Bei der Eintracht durchlief er U 19, U 23 und schlussendlich die Profimannschaft, mit der er 2011 den Aufstieg in die zweite Bundesliga feiern durfte. Dann kam Leverkusen, der Bundesliga-Traum wurde Realität.
Staunen von Pep
Auch dort lief jedoch nicht alles glatt. Während seiner ersten Bundesliga-Hinrunde wurde er zeitweise von einem Muskelfaserriss lahmgelegt, die ganze Saison über stand er nicht ein einziges Mal in der Startelf. Es gab ganze zwei Spiele, in denen er auf sich aufmerksam machen konnte.
Genau genommen fanden beide sogar innerhalb von ein paar Tagen statt. Im März 2012 erzielte er zunächst beim 2:0-Sieg gegen den FC Bayern sein erstes Bundesligator. Nur fünf Tage später folgte ein Traumtor im Camp Nou, das selbst den damaligen Barcelona-Trainer Pep Guardiola staunen ließ. Dass Bayer währenddessen mit 7:1 vermöbelt wurde und aus der Champions League ausschied, sei nur am Rande erwähnt.
"Das war nicht einfach"
Dennoch schien er sich vor der Saison 2012/13 auf dem aufsteigenden Ast zu befinden. Sascha Lewandowski und Sami Hyypiä setzten auf Bellarabi, der die ersten acht Saisonspiele jeweils als hängende Spitze eingesetzt wurde.
Dann kam die Schambeinverletzung, die ihn für den Rest der Saison ausknockte und Bayer dazu veranlasste, ihn ein Jahr später an Braunschweig zu verleihen, um in bekanntem Umfeld Spielpraxis und Selbstvertrauen zu sammeln.
"Ich hatte eine schwierige Zeit hinter mir. Das war nicht einfach", blickt Bellarabi zurück und verweist auf die Unterstützung durch seine Familie, die ihn damals hat durchhalten lassen. Die schwierigen Zeiten, die Aufs und Abs könnten sich für seine weitere Karriere nun jedoch als Trumpf erweisen.
"So kann es weitergehen"
Denn natürlich prasselt nun viel auf ihn ein, nachdem er in den ersten Saisonwochen so etwas wie der Spieler der Stunde ist. Es werden zum Beispiel bereits Diskussionen geführt, für welche Nationalmannschaft er auflaufen wird, da er sowohl für Deutschland als auch Marokko spielberechtigt wäre.
"Es ist nicht so weit, dass ich mir darüber Gedanken mache", wehrt Bellarabi ab und tut gut daran. Die Saison ist noch lang, erreicht ist noch nichts. Es gilt für ihn und seine Mannschaft erst einmal nur darum, die herausragende Frühform beizubehalten, alles andere ergibt sich ohnehin von selbst.
"Wir sind zurzeit als ganze Mannschaft gut drauf. Wir haben als Mannschaft Erfolg, wir harmonieren sehr gut. So kann es gerne weitergehen", sagt Bellarabi. Er weiß mit 24 Jahren bereits bestens, wie schnelllebig das Fußballgeschäft sein kann.
Karim Bellarabi im Steckbrief