Warten auf den Scheich

Stefan Rommel
28. März 201413:27
Es läuft nicht rund beim AC Milan: Trainer Clarence Seedorf im Gespräch mit Mario Balotelli (l.)getty
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Der AC Milan steckt in einer seiner schlimmsten Krisen. Die Mannschaft verkörpert pures Mittelmaß, hinter den Kulissen türmen sich die Probleme mannshoch auf. Im Prinzip gibt es nur einen Ausweg.

Vor ein paar Tagen hat sich Paolo Maldini zu Wort gemeldet. Der Name Maldini wird seit Ewigkeiten im Einklang genannt mit dem AC Milan, Vater Cesare und Sohn Paolo haben den Klub über ein halbes Jahrhundert lang geprägt.

Maldini junior hat sich seit seinem Rückzug aus dem aktiven Sport vor fast fünf Jahren nur selten in der Öffentlichkeit geäußert, umso genauer lauschen die Tifosi, wenn er doch mal spricht. In diesen Tagen wuchsen seine Worte zu einem Donnerwetter mit einer Mischung aus Angst und Resignation.

"Die haben mein Milan zerstört", warf Maldini den Bossen in Milanello an den Kopf. "In mir drin sind Wut und Enttäuschung, nicht wegen der Ergebnisse (...), sondern weil ich den Eindruck habe, dass alles weggeworfen wird, was in den vergangenen zehn Jahren mühevoll aufgebaut wurde."

Mannschaft ohne Charisma und Aura

Maldinis Worte zeigten Wirkung, die Debatte um den Niedergang des großen AC Milan nahm in Italien sogleich neue Fahrt auf. Dabei waren Maldinis Eindrücke zwar drastisch formuliert, aber sogar noch ein wenig zu kurz gegriffen. Denn genau genommen ist der Klub derzeit dabei, ein noch viel größeres Erbe als das der letzten zehn Jahre zu verschleudern.

Früher wurde das Milan-Gen innerhalb der Mannschaft in Rot und Schwarz getragen: Maldini, Nesta, Leonardo, Seedorf, Gattuso, Ambrosini, Pirlo, Kaka, Tassotti, Inzaghi. Für die aktuelle Mannschaft ist Kaka übrig geblieben, dafür sind die wichtigsten Tainerposten mit Seedorf, Mauro Tassotti und Pippo Inzaghi besetzt. Immerhin.

Der Klub hat seine erste Mannschaft entkernt, ihr das Chrisma und die Aura genommen und die Qualität. Das kapriziöse Milan, das zwei Generationen lang von Silvio Berlusconis Alimenten prächtig leben und einkaufen konnte, hat sich von einem Nehmer- in einen Geberverein gewandelt.

Verkaufen statt kaufen

Das Transfersaldo der letzten zehn Jahre liegt bei ca. minus 16 Millionen Euro, das der letzten fünf Jahre bei plus 25 Millionen. Im Zirkel der Top-20-Klubs Europas sind das völlig untypische Bilanzen: Manchester Uniteds Zehn-Jahres-Saldo beträgt ca. 300 Millionen Euro Miese, das vom FC Bayern ca. 315 Millionen, das des FC Barcelona ca. 370 Millionen und der FC Chelsea hat in der letzten Dekade 800 Millionen Euro mehr für Spieler ausgegeben als er eingenommen hat.

Die Neureichen aus Monaco, Paris, Manchester würden die Liste nur weiter verlängern. Es gibt Zweitligisten in England und Spanien, die mehr Geld ausgegeben haben. Und Erstligisten in Russland, der Ukraine oder der Türkei, in Griechenland, in China...

Milan gehört da schon lange nicht mehr dazu. Was zunächst ein Problem darstellt, aber keine Zeitenwende - sofern man die nötigen Vorkehrungen getroffen hat. Genau hier hat der große AC Milan aber die schlimmsten seiner vielen Fehler begangen.

Keine zweite Mannschaft

Das Scouting der Rossonerri funktionierte zu lange nach dem Trial-and-Error-Prinzip, bei großzügig gewährten monetären Ressourcen eine menschliche Reaktion. Die kleinen Nischen des Mercato haben die Mailänder nie sonderlich interessiert. Die Jugendabteilung war ein kaum beachtetes Anhängsel. Nun soll Flilipo Inzaghi die Qualitätslücken im Kader plötzlich mit Spielern aus dem eigenen Stall füllen.

Dabei kann sich Milan aus dem Unterbau kaum bedienen. In Italien ist es im Gegensatz zum Beispiel zur Bundesliga nicht verpflichtend, sich eine klassische zweite Mannschaft zu halten. Hinter den Profis ist eine Nachwuchstruppe gelistet, die sich in einer Nachwuchsrunde mit anderen Klubs aus der Serie A, B und C verdingt. In der Campionato Primavera B spielt Milan neben einigen anderen Erstligisten auch gegen die Nachwuchsteams der Dorfklubs Ternana, Virtus Lanciano oder Varese.

Kein Auffangbecken für Spätzünder

20 Jahre alt darf ein Spieler höchstens sein, sein 15. Lebensjahr muss er mindestens vollendet haben, um spielberechtigt zu sein. Die groben Richtlinien der deutschen U-19-Meisterschaft. Nicht einmal mit viel gutem Willen lässt sich daraus eine Spielklasse formen, die auch nur annähernd an das Niveau der deutschen 3. Liga heranreicht.

Selbst das Gros der Regionalligisten, in denen die meisten deutschen Profiklubs ihre zweiten Mannschaften etabliert haben, dürfte in der Primavera locker mithalten.

Ein Auffangbecken für Spätzünder, ausgeliehene oder verletzte Spieler, die sich in einer Art Beta-Phase wieder für die ganz großen Aufgaben empfehlen könnten, gibt es de facto nicht.

Stattdessen pflegt Milan wie nahezu der gesamte Rest des italienischen Profifußballs das krude System des Leihwesens. Es ist der einzige Weg, um einen Spieler unter Beobachtung zu halten und ihn nicht vollständig zu verlieren. Falls dieser in naher Zukunft doch noch den entscheidenden Schritt in seiner Entwicklung macht.

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Seite 3: Problem Balotelli und ein 15-Jähriger als Heilsbringer

Das San Siro als Ballast

Milan kann die nötige Qualität weder zukaufen, noch sie auf absehbare Sicht selbst entwickeln. Bis die Maßnahmen beim Umbau der Jugendausbildung greifen, dürfte Juventus noch einige Male Meister geworden sein. Und die Sache mit den fehlenden finanziellen Mitteln wird sich so lange fortsetzen, bis zum einen Milan bereit wäre, Anteile an einen gönnerhaften Investor zu veräußern und zum anderen sich überhaupt so ein Anteilsnehmer finden lässt.

Aus eigener Kraft kann Mailand die Probleme kaum meistern. Über die 38 Spieltage nimmt Milan nur rund 35 Millionen Euro ein, was weniger als 20 Prozent Prozent der Gesamteinnahmen des Klubs entspricht. Die Zuschauerzahlen sind weiter rückläufig, das Ticketing und die Hospitality in den Logen bringen kaum Gewinne von europäischem Spitzenstandard.

Das San Siro gilt noch als eines der moderneren Stadien der Serie A. Es fehlt dennoch an Logen und Business Seats. Dazu gehört das Stadion wie fast alle anderen Stadien des Landes der Kommune. Von jedem erwirtschafteten Euro muss Milan einen Bruchteil an den Eigentümer seiner Spielstätte abführen.

Und so nehmen die Bayern pro Spiel mehr als doppelt so viel ein wie Milan, der FC Arsenal, Manchester United, Real Madrid und der FC Barcelona liegen insgesamt weit jenseits der 100-Millionen-Euro-Grenze pro Saison. Die Einnahmen aus der TV-Vermarktung und dem Merchandising sind beachtlich - und das, obwohl Milan wie viele andere italienische Klubs auch damit zu kämpfen hat, dass die Ultras ihre eigenen Merchandising-Produkte kreieren und den Markt der offiziellen Klub-Artikel verwässern.

Berlusconis Geld fehlt überall

Dass es auch anders - besser - geht, zeigt Juventus. Mit dem neuen, modernen Stadion enteilt der Rekordmeister der Konkurrenz nicht nur in der Tabelle. Turin wird den finanziellen Abstand zu den Mailänder Klubs ausbauen. Nicht umsonst hatte Milan bereits vor einigen Jahren Pläne in der Schublade liegen, ein eigenes Stadion zu errichten. Nach dem Modell der Schalker Arena, als multifunktionale Sport- und Begegnungsstätte.

Verwirklicht wurden die Pläne nie, und so macht sich jetzt die Roma auf und forciert den Bau einer eigenen Arena. Milan fehlt dafür eine klare Vision und das nötige Geld. Von Berlusconi ist bis auf weiteres nichts mehr zu erwarten. SPOX

Il Cavaliere ist vor ein paar Wochen wegen Steuerhinterziehung zu einer Geldbuße in Höhe von 500 Millionen Euro verdonnert worden. Zudem schlagen die Unterhaltszahlungen für seine Ex-Frau Veronica Lario beträchtlich aufs Gemüt: Berlusconi ist zur Zahlung von 100.000 Euro verpflichtet - pro Tag. Nur so ließe sich für Signora ein Lebensstandard erhalten wie zu besten Ehezeiten.

"Mit dem AC Milan verliere ich jährlich 50 Millionen Euro", rechnete Berlusconi der "Gazzetta dello Sport" am Donnerstag vor: "Ich würde mich gerne persönlich um den Klub kümmern, das braucht er." Aber der Patron ist 77 Jahre alt und leistet derzeit einen Teil seines Schuldspruchs durch Sozialstunden ab.

Zwist zwischen Galliani und Berlusconis Tochter

Seine Tochter Barbara wollte er zur neuen starken Frau aufbauen. Dazu konnte es bisher nicht kommen, auch weil Barbara sich mit Adriano Galliani seit Monaten ein Scharmützel nach dem anderen leistet. Galliani war eigentlich schon weg, der treue Weggefährte Berlusconis hatte seinen Rücktritt angekündigt. Über Nacht wurde Galliani nochmal umgestimmt. "Bei Milan ist die Sachlichkeit zurück: Galliani bleibt auf seinem Posten", ließ Berlusconi verlauten.

Trotzdem drückte er Barbara als zweites Mitglied der Geschäftsführung durch. Offiziell für den Bereich Marketing und Werbung. Und doch weiß jeder, dass Galliani kaum mehr etwas entscheiden darf ohne die Genehmigung seiner schärfsten Kritikerin. SPOX

Bequemer Ein-Punkt-Plan

Die "Gazzetta" bastelte unlängst einen Zehn-Punkte-Plan, wie Milan denn am besten zu retten sei. Im Prinzip würde auch der deutlich bequemere Ein-Punkt-Plan reichen: Sich einen potenten Investor ins Haus zu holen. Die Gerüchte um einen Einstieg von Scheich Mohammed bin Rashid al-Maktoum halten sich hartnäckig.

Die vielen Nebenkriegsschauplätze vernebeln den Blick auf die sportliche Situation derzeit ein wenig. Milan, das von sich selbst behauptet, der Klub mit den meisten gewonnen Trophäen weltweit zu sein, ist hochkant aus der Champions League geflogen, sowie aus der Coppa Italia.

In der Liga gab es unter der Woche immerhin mal wieder einen Sieg, ein 2:0 bei der Fiorentina. Nach zuvor nur einem Punkt aus fünf Spielen wäre es aber wohl etwas verfrüht, eine große Aufholjagd auszurufen. Der Rückstand auf Spitzenreiter Juventus beträgt astronomische 42 Punkte - mehr als Milan bisher in 30 Partien selbst gesammelt hat (39).

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Kader ist schlecht zusammengestellt

Seit ein paar Wochen ist Clarence Seedorf neuer Cheftrainer der Mannschaft. Es gehört zum Selbstverständnis des Klubs, dass ein ehemaliger Spieler mit Milan-DNA ausgewählt wurde. Dass Seedorf dabei ohne jegliche Erfahrung im Trainerberuf eine der bedeutendsten Mannschaften der Welt aus der Krise führen soll, ist zweitrangig. Hier ist sich Milan treu geblieben und pflegt weiter das heimelige Image der großen Familie.

An der sportlichen Malaise ändert die schöne Optik aber nichts. Seedorf ist bisher nichts weniger als der nächste Verwalter des Mangels. Der Kader ist schlecht zusammengestellt. Die Abwehr ist überaltert, das defensive Mittelfeld bilden Nigel de Jong und Michael Essien - zwei Spieler aus einer anderen Zeit des Fußballs.

Im Angriff tummeln sich ein paar große Namen oder solche, die es werden könnten. Aber Robinhos Stern ist längst verglüht, er enttäuscht bisher so wie Keisuke Honda. Stephan El Shaarawy ist seit Urzeiten verletzt.

Balotelli taugt nicht als Rollenmodell

Bleibt noch Mario Balotelli. In den hatten sie in Mailand große Hoffnungen gesetzt. Balotelli sollte als eine feste Größe aufgebaut werden, ein Eckpfeiler des neuen Milan. Und mit Seedorf, der selbst als Spieler und Trainer auf Grund seiner Hautfarbe einiges aushalten musste, erhofften sich die Bosse eine Art Verbündeten für Balotelli.

Die Zahlen des 23-Jährigen sind ordentlich, aber bei den Tifosi hat der Nationalspieler einen immer schwereren Stand. Die Fans sind sauer, Super Mario würde nicht genug trainieren und stattdessen lieber in den Bars und Diskotheken der Stadt flanieren. Der Spieler wiederum schmollt und provoziert die Fans. So geht das nun schon eine ganze Weile.

Der Einzug in einen europäischen Wettbewerb in dieser Saison ist nahezu aussichtslos. Aber Balotelli gehört auf die große Bühne, das findet zumindest sein Berater Mino Raiola.

Sollte auch in der kommenden Saison absehbar sein, dass es Milan nicht in die Champions League schafft, darf man jetzt schon auf die ersten Spielchen von Raiola gespannt sein. Zum Rollenmodell für das Milan der Zukunft scheint Balotelli jedenfalls nicht zu taugen.

15-Jähriger als Hoffnungsträger

Auf der Suche nach Hoffnungsträgern landet man irgendwann in der Jugendakademie. Bei den U-19-Junioren gibt es ein paar Talente. Aber auch die können bei den Profis nur in einer gewachsenen Mannschaft mit klarer Hierarchie wachsen. Also muss man noch tiefer graben und stößt dann irgendwann auf Hachim Mastour.

Ein Junge mit einem Bürstenschnitt wie Neymar und einer schwarzen Hornbrille. Mastour haben sie jetzt ein paar Mal mittrainieren lassen bei den Profis. Das könnte einer werden, da sind sich alle sicher.

Der Sohn marokkanischer Einwanderer hat sogar einen italienischen Pass. Es gibt nur ein Problem: Mastour wird in diesem Sommer erst 16 Jahre alt.

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