Im Sommer wechselte Lucas Hernandez für 80 Millionen Euro von Atletico Madrid zum FC Bayern München. "Nach allem, was ich mit meiner Mutter und meinem Bruder erlebt habe, als ich klein war, macht es mich stolz, dass ein Verein eine solch hohe Summe für mich zahlt", sagt der Weltmeister im Interview mit SPOX und DAZN vor dem Duell in der Champions League gegen Tottenham Hotspur (21 Uhr live auf DAZN).
Lucas Hernandez spricht im Interview über seinen verlorenen Vater, Zweifel in der Atletico-Jugend, Diego Simeone und den Wechsel zu Bayern.
Herr Hernandez, Ihr Vater Jean-Francois war ebenfalls Profifußballer. Das ist auch der Grund, weshalb Sie in Marseille geboren sind. Er verließ die Familie aber abrupt, als Sie noch ein Kind waren. Seitdem haben Sie keinen Kontakt mehr zu ihm. Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit, in der Sie Ihren Vater sozusagen verloren haben?
Lucas Hernandez: Meine Mutter, mein Bruder und ich sind nach der Trennung schnell zu einem verschworenen Trio geworden. Theo und mich gab es nur mit Ball, wir hatten immer einen dabei - morgens, mittags und abends. Wir spielten ständig zusammen. Mein Bruder ist mein bester Freund, wir stehen uns sehr nahe.
Haben Sie damals verstanden, was passiert ist, als Ihr Vater auf einmal nicht mehr da war?
Hernandez: Nein, wir haben nie verstanden, warum er gegangen ist. So sind wir dann eben nur mit unserer Mutter aufgewachsen. Sie hat für uns gelebt, gearbeitet und uns alles gegeben. Es hat uns an nichts gefehlt. Nun sind Theo und ich Profifußballer geworden, sie kann sich mittlerweile also ein wenig zurücklehnen und ihr Leben genießen.
spoxWie hat Ihre Mutter Ihnen erklärt, was vorgefallen war?
Hernandez: Sie hat uns das gesagt, was passiert ist: dass sie sich getrennt haben. Eines Tages war mein Vater plötzlich weg, wir hörten nie wieder von ihm. Das war natürlich etwas kompliziert, so ganz ohne Vater an unserer Seite. Meiner Mutter ist es aber sehr gut gelungen, sowohl die Mutter-, als auch die Vaterrolle auszufüllen. Mein Bruder und ich hatten zwar eine komplizierte, aber dennoch schöne Kindheit.
Haben Sie als Kind versucht, Ihren Vater zu kontaktieren?
Hernandez: Nein, das habe ich nie versucht. Als ich klein war, habe ich natürlich darüber nachgedacht, wo er sein könnte und hätte gerne mehr darüber gewusst. Je mehr Zeit jedoch vergangen ist, desto weniger war dies Teil meiner Gedanken. Ich habe mehr an mich selbst und mein Leben gedacht, als ich erwachsener wurde. Schließlich ist mir klargeworden, dass er gegangen ist, weil er uns nicht geliebt hat. Und wenn er uns nicht geliebt hat, dann war es auch besser, dass er ging.
Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt?
Hernandez: Ich bin nun 23 und war damals fünf, sechs Jahre alt. Es müssten jetzt also rund 16 oder 17 Jahre vergangen sein, seit wir nichts mehr von ihm gehört haben.
Wissen Sie, wo er jetzt ist?
Hernandez: Nein. Ich weiß nicht, wo er ist, was er macht, ob er noch lebt oder nicht. Mittlerweile habe ich selbst meine eigene kleine Familie gegründet. Da er uns bislang nicht kontaktiert hat, wird ihn das allerdings nicht interessieren - oder er hat einfach keine Lust, mit uns zusammen zu sein.
Vor allem Ihr Opa soll Ihrer Familie damals viel geholfen haben. In welcher Hinsicht?
Hernandez: Meine Oma gehört da natürlich auch dazu. Sie haben uns finanziell unterstützt, sodass wir in einem Haus leben und zur Schule gehen konnten. Deshalb sage ich auch, dass mein Opa wie mein Vater und meine Oma wie meine zweite Mutter sind. Sie haben in wirtschaftlicher Hinsicht die größten Anstrengungen für uns unternommen und uns bei allem sehr geholfen.
Es war schließlich Ihre Mutter, die Ihren Bruder und Sie beim Fußball angemeldet hat. Sie begannen Ihre Karriere bei Rayo Majadahonda im Nordwesten von Madrid.
Hernandez: Genau, das war der Verein aus unserem Viertel. Dann hat Atletico meinen Bruder verpflichtet und sechs Monate später auch mich.
Was haben Sie damals im Alter von elf Jahren gedacht, als Ihr Bruder plötzlich für Atletico spielte - und Sie noch nicht?
Hernandez: Ich habe mich für ihn gefreut, dachte aber auch: Es wäre schön, wenn ich eines Tages auch für einen solchen Klub spielen könnte. Also habe ich noch mehr an mir gearbeitet, damit der Verein auf mich aufmerksam wird. Sechs Monate später kam der Chef der Jugendabteilung dann zu meiner Mutter und meinte, Atletico hätte jetzt auch gerne den Bruder von Theo bei sich.
Wann wurde Ihnen klar, dass es für Sie zum Profi reichen würde?
Hernandez: Ich selbst habe nie an mich geglaubt. Als ich mit 16, 17 Jahren die ersten Male mit der französischen U-Nationalmannschaft unterwegs war, konnte ich aber ein wenig spüren, dass ich die Qualitäten habe. In dem Alter hatte ich erstmals die große Hoffnung, dass ich eines Tages mit den Profis trainieren würde.
Wieso haben Sie nie an sich geglaubt?
Hernandez: Ich war jung und bei Atletico sind alle Spieler um dich herum sehr stark. Ich habe mich gefragt: Wieso soll ausgerechnet ich es schaffen und nicht ein anderer? Es gab wirklich sehr viele gute Spieler dort. Um Profi zu werden, muss man stark und geduldig sein und vor allem auch etwas Glück haben. Bei mir war das glücklicherweise alles der Fall.
Mit 19 Jahren spielten Sie dann für Atleticos zweite Mannschaft in der drittklassigen Segunda Division B, debütierten Ende 2014 aber auch bei den Profis unter Diego Simeone. Welchen Eindruck hatten Sie damals von Simeone?
Hernandez: Ich hatte einen Heidenrespekt vor ihm, weil er im Verein so sehr respektiert wird. Man merkt sofort, dass er einen außergewöhnlichen Charakter hat. Im ersten Training habe ich mich enorm konzentriert, damit mir keine Fehlpässe unterlaufen. Als ich dann das erste Mal unter ihm spielte, habe ich den Druck gespürt und auch gezittert, weil ich mir sagte: 'Das ist deine Chance, du musst ein gutes Spiel machen.' Wenn mir das nicht gelungen wäre, hätte es vorbei sein können, bevor es überhaupt richtig angefangen hat. Zum Glück habe ich dann wirklich gut gespielt und durfte weiter bei den Profis trainieren, auch wenn ich damals noch nicht ständig für sie zum Einsatz gekommen bin.
Lucas Hernandez beim FC Bayern: Bilanz in der Saison 2019/20
Wettbewerb | Spiele | Tore | Vorlagen |
Bundesliga | 5 | - | - |
Champions League | 1 | - | - |
DFB-Pokal | 1 | - | - |
Sie sind ein sehr aggressiver und defensivstarker Spieler, wie es einst auch Simeone war. In gewisser Weise sind Sie eine Art Kopie der typischen Simeone-Mentalität geworden - oder klingt das für Sie zu übertrieben?
Hernandez: Nein, das nicht. Schon als ich klein war, bin ich immer aggressiv und mit großem Willen zu Werke gegangen. Simeone hat das dann noch mehr aus mir herausgekitzelt. Seine Mentalität wird in jeder Minute und bei jedem Training sichtbar. Ich kann mich zwar nicht mit ihm vergleichen, aber es stimmt, dass ich in den Spielen wie er bin: Ich liebe es zu gewinnen und hasse es zu verlieren. Ich habe seine Mentalität schon ein bisschen aufgenommen.
Wenn man Simeone bei den Spielen beobachtet, wenn er wie wild herumgestikuliert und schreit, könnte man den Eindruck gewinnen, man habe es mit einem Besessenen zu tun. Wie ist Simeone als Privatperson?
Hernandez: Total anders, ein sehr angenehmer Mensch. Man kann mit ihm über alles sprechen und auch Späße machen. Als ehemaliger Fußballer ist er sehr nah an seinen Spielern dran. Bei Atletico geht es wie in einer kleinen Familie zu und Simeone ist ihr Vater. Beim Essen zum Beispiel ließ er uns alle Freiheiten. Wenn es aber ernst wurde, war er ernst. Er war ein sehr guter Trainer für mich.
Welche ist Ihre Lieblingsanekdote, die Ihnen zu Simeone einfällt?
Hernandez: Da gibt es viele. Zum Beispiel die, als er mit uns nach dem Sieg in der Europa League im vergangenen Jahr in eine Bar gegangen ist und wir alle zusammen gefeiert haben. Das war einzigartig, mehr verrate ich dazu aber nicht. (lacht)
Einzigartig war auch Ihr Sommer 2018: Sie sind Weltmeister und Vater eines Sohnes geworden. Inwiefern hat dies Ihr Leben verändert?
Hernandez: Es hat sich sehr verändert. Weltmeister zu werden ist unglaublich, das ist der größte Titel, den man gewinnen kann. Vater zu werden ist aber noch einmal eine größere Sache. Es waren zwei unglaublich emotionale Momente für mich.
Jetzt, wo Sie selbst Vater sind: Wie denken Sie nun über das, was Ihr eigener Vater getan hat?
Hernandez: Ich werde für meinen Sohn immer da und an seiner Seite sein, ganz egal, was passieren wird. Auch wenn er eines Tages größer geworden ist, werde ich immer für ihn da sein.
Wie kommen Sie momentan mit dem Leben in Deutschland zurecht?
Hernandez: Das Leben hier ist komplett anders als das in Spanien. Hier wird vor allem viel früher gegessen. In Madrid haben wir um 14.30, 15 Uhr zu Mittag und um 22.30 Uhr zu Abend gegessen. Als ich hier kürzlich auf dem Oktoberfest war, haben um 18.30, 19 Uhr schon alle zu Abend gegessen. Daran muss ich mich noch gewöhnen. Das läuft noch schleppend, aber wird Stück für Stück besser. Abends esse ich jedoch immer noch gegen 21.30 und 22 Uhr. Ich versuche allerdings, dass ich es früher hinkriege.
Durch Ihren Wechsel zum FC Bayern für 80 Millionen Euro sind Sie der teuerste Neuzugang der Bundesligageschichte geworden. Macht Sie das stolz?
Hernandez: Natürlich. Nach allem, was ich mit meiner Mutter und meinem Bruder erlebt habe, als ich klein war, macht es mich stolz, dass ein Verein eine solch hohe Summe für mich zahlt. Es ist aber nicht nur Stolz, sondern auch eine Verantwortung. Die Ablösesummen sind zuletzt immer übertriebener geworden. Man zahlt unglaubliche Summen. Durch all das Vertrauen, das der Verein mit dieser Summe in mich gesetzt hat, liegt es nun an mir, dies auf dem Platz zurückzuzahlen und mein Maximum zu geben. Der Verein soll eines Tages ebenfalls stolz darauf sein, dass sie dieses Geld für mich ausgegeben haben.
Am Dienstag kommt es in der Champions League zum Aufeinandertreffen mit Tottenham Hotspur. Die Spurs haben schwer in die Saison gefunden. Kommt das Spiel für die Bayern zum richtigen Zeitpunkt?
Hernandez: Kein Champions-League-Spiel ist leicht, niemals. Das ist der beste Wettbewerb in Europa, er wird von allen Klubs extrem ernst genommen. Es wird ein sehr großes und schwieriges Spiel für uns werden. Wir haben aber sehr gute Spieler mit hoher individueller Qualität und sind eine super Mannschaft. Ich hoffe, dass wir gewinnen.