Seit sechs Jahren spielt Lukas Hradecky in der Bundesliga, 2018 wechselte der Torhüter von Eintracht Frankfurt zu Bayer Leverkusen. In dieser Saison ist der Finne Kapitän der Werkself.
Im Interview mit SPOX und Goal spricht Hradecky über den dramatischen Kollaps von Christian Eriksen während des ersten EM-Spiels in der Geschichte von Finnland und kritisiert die Verbände dafür, dass es kein offizielles Protokoll für solche Ausnahmesituationen gibt.
Zudem erzählt der 31-Jährige von einem entscheidenden Rausch zu Beginn seiner Profikarriere und erklärt, warum ihm die Social-Media-Aktivitäten mancher Fußballprofis ein Dorn im Auge sind.
Herr Hradecky, Sie spielten im Juni mit Finnland erstmals bei einer EM und wurden gleich Teil des traurigsten Spiels: Gegen Dänemark kollabierte Christian Eriksen, es waren dramatische Szenen. Wie oft denken Sie noch daran zurück?
Lukas Hradecky: Es ist auf jeden Fall weiterhin präsent bei mir, denn es war für meine Mitspieler und mich eine extrem emotionale Achterbahnfahrt. Am Ende stand ja auch noch unser erster Sieg bei einer EM, wenngleich wir uns den natürlich unter anderen Umständen gewünscht hätten. Das war alles nicht einfach zu verarbeiten.
Wie haben Sie den Moment in Erinnerung, als Eriksen zu Boden ging?
Hradecky: Es war einfach nur schrecklich. Die Szene an sich sah sehr seltsam aus. Trotz meiner Entfernung zum Geschehen war mir schnell klar, dass es etwas Ernstes ist. Christian war ja komplett weg. Man ist einfach nicht darauf vorbereitet und weiß nicht, was man in einer solchen Situation machen soll. Daher sage ich: Hut ab, was gerade Simon Kjaer und Kasper Schmeichel, aber auch alle anderen dänischen Spieler, in diesen Momenten geleistet haben.
spoxWas haben Sie in den langen Minuten getan, bevor Eriksen abtransportiert wurde?
Hradecky: Wir haben uns unterhalten und besprochen, auch mit den Dänen. Ich kannte ja einige aus meiner Zeit in der Superliga. Nach ein paar Minuten haben wir erfahren, dass es wirklich etwas mit seinem Herzen ist. Dass Christian von den Sanitätern so schnell wiederbelebt werden konnte, ist gerade aktuell in Zeiten der Pandemie ein starkes Zeichen dafür, wie wichtig solche Helden des Alltags sind, die sonst unter dem Radar der Öffentlichkeit fliegen.
Was passierte während der 107 Minuten Pause in den Katakomben, als die Partie unterbrochen wurde?
Hradecky: Ich habe keine Ahnung, wer genau entschieden hat, dass wir erst einmal in die Kabine gehen müssen. Dort zogen wir unsere Schuhe aus. Wir gingen nicht davon aus, dass das Spiel fortgesetzt wird. Dann saßen wir alle am Handy und haben online geschaut, was nun passiert und wie es weitergeht. Irgendwann haben sich die beiden Kapitäne im Spielertunnel getroffen, aber ich weiß immer noch nicht, welche Optionen die Dänen überhaupt hatten. Wir sagten uns aber, dass wir allem zustimmen werden, was sie vorschlagen. Schließlich kam der Schiedsrichter herein und sagte, dass wir weiterspielen.
Wie haben Sie das empfunden?
Hradecky: Ich war ehrlich gesagt etwas geschockt, weil ich nicht dachte, dass dies passieren wird. Andererseits wäre es für alle sehr schwierig gewesen, eine Nacht darüber zu schlafen und am nächsten Tag zu spielen. Da hätte doch eh keiner ein Auge zugedrückt. Als klar war, dass die Dänen Christian kontaktiert hatten und er wieder bei Bewusstsein war, war es wohl das Bestmögliche, das Spiel fortzusetzen.
Können Sie erahnen, wie Sie darüber denken würden, wäre dies einem Ihrer Mitspieler passiert?
Hradecky: Gänzlich erahnen kann ich es natürlich nicht, aber es wäre um ein Vielfaches schwieriger gewesen - erst recht, wenn ich zu diesem Mitspieler eine starke persönliche Beziehung haben würde. Jeder hat ja zum Beispiel gesehen, dass Simon Kjaer total neben der Spur und noch vollkommen geschockt war.
Inwiefern sollten FIFA und UEFA eine Regel für solche Ausnahmesituationen verabschieden, durch die unumstößlich festgelegt wird, was nach Ereignissen dieser Art geschehen muss?
Hradecky: So etwas muss passieren, gar keine Frage. Es muss ein klar definiertes Protokoll geben, was bei solchen Geschehnissen zu tun ist. Das würde allen Beteiligten sehr helfen. Es darf nicht sein, dass sich letztlich womöglich traumatisierte Spieler überlegen müssen, was passieren soll. Es geht im Fußball doch um die Menschen, wie dieser Fall mal wieder eindeutig aufgezeigt hat. Sie sind am wichtigsten. Also braucht es eine klare Regel, die die menschliche und keine kommerzielle Perspektive in den Vordergrund rückt.
gettyDie Partie endete mit dem historischen Sieg Finnlands, Sie hielten dabei einen Elfmeter von Pierre-Emil Höjbjerg. Haben Sie angesichts der für die Dänen widrigen Umstände daran gedacht, Höjbjergs Schuss passieren zu lassen?
Hradecky: Nein, das war für mich eindeutig keine Option, auch wenn ich selbstverständlich extremes Mitleid mit ihnen hatte. Wenn die Kapitäne entschieden hätten, dass das Spiel mit 0:0 gewertet wird, hätten wir es genommen. Nachdem es aber hieß, das Spiel werde fortgesetzt, sind die Dänen ja mit viel Wucht und Druck aus der Kabine gekommen, um den Sieg für Christian zu holen. Es hört sich in diesem Kontext natürlich blöd an, aber wenn man auf dem Platz steht, dann ist man Profi und tut alles dafür, um zu gewinnen. Das haben die Dänen auch getan, in dieser Partie hat es für sie nicht sein sollen. Was sie anschließend bei dieser EM geleistet haben, war absolut großartig.
Finnland spielte in Kopenhagen und zweimal vor gut 20.000 Zuschauern in St. Petersburg, wo die Delta-Variante des Coronavirus grassierte und zahlreiche finnische Fans infizierte. Wie empfanden Sie die EM in dieser Hinsicht?
Hradecky: Ich hatte natürlich Sorgen, daher ist meine Familie auch gar nicht erst mitgereist. So erging es ja der Mehrheit der Finnen, die meisten sind zu Hause geblieben und waren grundsätzlich sehr diszipliniert. Wären die Umstände normal gewesen, ganz Finnland wäre losgezogen und zu den Spielen gereist.
Hatten Sie persönlich Angst vor einer Infektion?
Hradecky: Nein. Ich hatte schon vor dem Turnier beide Impfungen bekommen. Auch während unserer Vorbereitungsspiele ist nichts passiert, das erschien mir innerhalb dieser Blase alles als sehr sicher. Unser Arzt war auch ziemlich streng. (lacht)
Aber Sie können die von vielen Stellen geäußerte Kritik nachvollziehen, die die EM hinsichtlich der pandemischen Lage in Europa auf sich zog?
Hradecky: Klar. Leider haben sich einige Fans infiziert, die sich dem Risiko ausgesetzt haben. Es war zudem ja offensichtlich, dass es aus epidemiologischer Sicht keinen Sinn ergibt, wie in England 60.000 Zuschauer ins Stadion zu lassen. Wembley war ja ein reiner Corona-Hotspot. Doch wir Spieler können dagegen nichts tun, wir sind in diesem Geschäft sehr oft nur die Marionetten. Diese Dinge werden mehrere Ebenen über uns von den Verbänden und Regierungen entschieden. Da bleibt uns keine Wahl, wenngleich es mit Zuschauern im Stadion natürlich auch deutlich mehr Spaß macht.
Wie war die Rückkehr von Zuschauern denn für Sie, nachdem man in der Bundesliga im Grunde die gesamte Saison über ohne auskommen musste?
Hradecky: Die Bundesligasaison hat in dieser Hinsicht keinen Spaß gemacht. Bei mir hat sich das wirklich auf mein Gefühlsleben und meine Motivation ausgewirkt. Es war sehr schwer, mich für die Spiele heiß zu machen, weil ich einfach den menschlichen Kontakt liebe. Ich bin ja auch nach Deutschland gewechselt, um die Emotionen der Fans aufzusaugen. Durch ihre Anwesenheit während der EM habe ich mich wieder neu in den Fußball verliebt. Das muss ich wirklich so sagen, die Fans waren einfach viel zu lange weg.
War es denn langweilig, während der EM wie schon zum Endspurt der Bundesligasaison in einer Blase leben zu müssen?
Hradecky: Nein. Wir haben so eine geile Truppe, die sich teils seit Jahren kennt. Wenn du dann zum ersten Mal ein solches Turnier zusammen mit deinen Landsmännern erleben darfst, dann ist das auch trotz Corona ein Highlight und fühlt sich wie eine Klassenfahrt an. Natürlich hätten wir es uns anders gewünscht. Hätte es kein Corona gegeben und Christian wäre nichts passiert, wären wir hundertprozentig in die Kopenhagener Innenstadt gegangen und hätten den Sieg gefeiert. Corona hat uns das Erlebnis an sich aber nicht kaputt gemacht.
Womit haben Sie sich denn die Zeit totgeschlagen, sind Sie ein Playstation-Typ?
Hradecky: Ganz und gar nicht. Ich war oft in der Sauna oder schwimmen, es wurde auch viel Frisbee-Golf gespielt. Wir hatten ausreichend Möglichkeiten, um uns die Zeit zu vertreiben. Doch man hat schon auch viel Zeit allein mit sich auf dem Zimmer verbracht.
Lukas Hradecky: Seine Leistungsdaten seit seinem Wechsel in die Bundesliga 2015
Wettbewerb | Einsätze | Gegentore | Zu-Null-Spiele |
Bundesliga | 199 | 139 | 27 |
Champions League | 6 | 9 | 1 |
Europa League | 16 | 21 | 3 |
DFB-Pokal | 24 | 19 | 11 |
Inwiefern fühlt man sich unter diesen Bedingungen denn eingesperrt?
Hradecky: Bei der EM fühlte ich mich nicht eingesperrt, im Alltag in der Bundesliga war das schon eher der Fall. Ich habe wie wohl alle anderen Menschen während des Lockdowns einfach die Freiheit vermisst. Man konnte zum Beispiel ein schlechtes Spiel nicht schneller vergessen, indem man sich mit anderen Dingen ablenkt, sondern hing ja ständig nur daheim herum. Meine Familie und meine Kumpels haben mich 15 Monate lang nicht besuchen können. Keine Ahnung, ob das Einfluss auf meine Leistungen hatte, aber es war schlicht eine völlig neue Situation für mich.
Ist denn dieses Gefühl des Eingesperrtseins als Fußballprofi ein Thema innerhalb einer Mannschaft? Denn auch ohne Corona können manche Spieler ja nicht einfach hinausgehen und sich aufhalten, wo sie wollen.
Hradecky: Ja, darüber wird schon gesprochen, denn es isoliert einen und kann sich auch auf das eigene Verhalten auswirken. Vielleicht sogar auch darauf, auf welche Weise man die Welt oder andere Menschen sieht. Als Fußballer, der in der Öffentlichkeit steht, wird man schnell auf ein Podest gehoben. Dadurch ist man oft gezwungen, ein anderes Leben zu führen als die meisten Menschen. Andererseits liebe ich ja auch meinen Beruf und damit geht eben einher, dass man einige Dinge dafür opfern muss. Das ist schade, aber ich weiß auch, dass ich nach meiner Karriere die Möglichkeit habe, mich dem sozusagen normalen Status wieder angleichen zu können.
Sie sollen zu Beginn Ihrer Karriere bei Esbjerg fB, wo Sie im Juli 2009 Ihr Profidebüt feierten, ziemlich nervös gewesen sein und beinahe Angst davor gehabt haben, den Ball zu berühren. Das kann man sich angesichts Ihrer heutigen Lockerheit gar nicht vorstellen. Was war damals los?
Hradecky: Ich habe mich durch den öffentlichen Fokus auf meine Person dazu verleiten lassen, zu sehr darüber nachzudenken, wie ich bei anderen ankomme und wie andere mich sehen. Deren Meinungen hatten bei mir zu viel Gewicht und das hat mich behindert. Ich habe mich auf dem Platz nicht wohlgefühlt. Das war einfach meinem mangelnden Selbstbewusstsein geschuldet. Ich hatte die Befürchtung, dass es vielleicht nicht reicht, um mich dort durchzusetzen und auf Profiniveau zu etablieren.
Stimmt es, dass es dann zu diesen Themen ein langes Gespräch mit Ihren besten Freunden in einem finnischen Sommerhaus gab, das für Sie den Wendepunkt bedeutete?
Hradecky: Ja. Wir nahmen uns dieses Haus, gingen zwischendurch segeln und hatten genug Bier dabei. An einem Abend haben wir dann mal richtig was getrunken und uns offen über diese Dinge unterhalten. Ich habe das nicht bewusst gemacht, aber mir war ja auch klar, dass es so nicht weitergehen kann. Am Ende dieses Trips stand für mich fest: Jetzt reicht's - wenn es als Profi klappt, klappt es und wenn nicht, dann eben nicht. Wichtig ist nur, wie ich damit umgehe und dass ich mich auf meinem Weg nicht von außen beeinflussen lasse. Auch die vielen Gespräche mit meinem Vater haben mir da sehr geholfen.
Sie konnten Ihr Vorhaben direkt gut umsetzen: In der darauffolgenden Saison, Ihrer zweiten Saison als Stammtorhüter, haben Sie stark gehalten und sind mit Esbjerg 2013 Pokalsieger geworden.
Hradecky: Genau. Ich muss zugeben, dass ich in dieser Hinsicht bis heute vor manchen Spielen oder während einer Saison Selbstgespräche mit mir führe und mich daran erinnere, was wir damals besprochen und entschieden haben. Und ich habe auch daraus mitgenommen, dass man immer vorsichtig sein muss, bevor man Urteile über andere Menschen fällt, da man nie wissen kann, ob jemand einen inneren Kampf mit sich austrägt.
gettySie standen 2006 bei Turku PS erstmals im Kader einer Profimannschaft, sind also schon seit 15 Jahren in diesem Geschäft dabei. In dieser Zeit hat sich der Fußball, aber auch die Gesellschaft enorm verändert. Wie blicken Sie darauf?
Hradecky: Was mir wirklich ein Dorn im Auge ist, ist der enorme Einfluss der sozialen Medien. Auf all diesen Kanälen wird viel zu viel Diffamierendes erlaubt, und so vieles dann auch noch anonym. Ich würde niemanden dafür persönlich kritisieren, aber ich finde, dass es darüber hinaus viele Fußballprofis und auch andere Prominente mit ihren Social-Media-Aktivitäten einfach übertreiben. So wie sie sich dort teilweise darstellen, entfernen sie sich immer weiter von der normalen Welt und dem normalen Leben. Da wird einem oft ein Paralleluniversum vorgespielt. Da frage ich mich oft: Wann sind die eigentlich mal privat, wollen die gar nicht in Ruhe gelassen werden? Am Ende muss das natürlich jeder für sich selbst entscheiden und damit umgehen.
Sie selbst sind ja auch aktiv und haben Ihre Accounts.
Hradecky: Natürlich, ich spiele das Spiel mit - nur eben auf meine Weise. Mir gefällt es durchaus, mich bei Twitter durch meine Timeline zu scrollen oder mir Bilder auf Instagram anzuschauen. Ich selbst poste aber nichts aus meinem Urlaub oder grundsätzlich von meinem Privatleben. Ich will auch gar nicht, dass sich überhaupt jemand dafür interessiert. Für mich sind Postings im Zusammenhang mit meinem Verein und Beruf oder auch mal ein lockerer Spruch in Ordnung. Alles darüber hinaus braucht es in meinen Augen nicht. In der Hinsicht wäre ich gerne Profi in den 1990er-Jahren gewesen, als es all diese Dimensionen und Entwicklungen noch nicht gab und man größere Freiheiten nicht nur als Profi, sondern auch als Mensch genießen konnte.
Inwiefern sind Sie denn froh, noch zu einer Zeit aufgewachsen zu sein, in der es kein Smartphone gab?
Hradecky: Dafür bin ich sehr dankbar. Ich denke häufig, dass der enorme technische Fortschritt bei aller Erleichterung, die er für den Menschen auch mit sich bringt, in Zukunft zu einem immer größeren Problem werden kann. Man sieht doch heute zum Beispiel kaum noch Kinder, die draußen auf dem Bolzplatz kicken oder einen anderen Sport an der frischen Luft betreiben. Wo sollen also neue Talente herkommen, wenn sich nur noch die wenigsten sportlich betätigen? Die digitale Welt übt eine solch große Anziehungskraft aus, dass der Sport an sich in Zukunft immer mehr durch Dinge wie eSport ersetzt werden könnte.
Was sich in all diesen Jahren auch verändert hat: Sie sind bekannter geworden und haben deutlich mehr Geld verdient. Wie sind Sie persönlich damit umgegangen?
Hradecky: Ich hatte zum Glück eine gesunde Gehaltsentwicklung. Bei Turku habe ich 100 Euro im Monat bekommen. Da war ich einfach nur überglücklich, dass ich mit meinem liebsten Hobby Geld verdient habe. Auch das Gehalt in Dänemark war weit weg davon, mir alles leisten zu können. Dass ich nun mehr bekomme als vor zehn Jahren, hat mich als Menschen nicht verändert, würde ich behaupten wollen.
Haben Sie sich nicht einmal einen Lustkauf gegönnt, als Sie sich so etwas leisten konnten?
Hradecky: Nein. Ich bin ohnehin kein Materialist, ich brauche keine Uhren oder ein dickes Auto. Wie beim Thema Social Media respektiere ich aber jeden, der da anders tickt. Es ist doch wunderschön, wie unterschiedlich die Menschen sein können. Für mich ist entscheidend, dass man sich gegenseitig mit Respekt behandelt und sich normal verhält und benimmt.
Was würde denn passieren, wenn Sie plötzlich mit einem Tattoo aufkreuzen oder sich ein Gold-Steak gönnen würden?
Hradecky: Das wird nicht geschehen, denn das wäre nicht ich. Und ich würde für den Rest meines Lebens von meinen Brüdern und meinem Vater ausgelacht. Darauf kann ich getrost verzichten. (lacht)