Marco Reus steht sinnbildlich für den starken Saisonstart von Borussia Dortmund. Der 33 Jahre alte Spielmacher war auch beim 3:0 gegen den FC Kopenhagen zum Auftakt in der Champions League wieder einer der Matchwinner. Für Reus ist es eine richtungsweisende Saison, aber er hat auch wortgewaltige Gegner.
Als Julian Weigl 2015 von 1860 München zu Borussia Dortmund wechselte, musste er im ersten Trainingslager einen kleinen Schock verdauen. Das damals 19-jährige Talent wurde per Los als Zimmerpartner von Marco Reus gewählt, aber Weigl hatte buchstäblich Schiss.
"Ich kannte ihn zu dem Zeitpunkt wirklich nur aus dem Fernsehen, er war schon damals mit der größte Star in Dortmund. Ich war eingeschüchtert", erzählte Weigl im Podcast Tomorrow: "Ich war da sehr angespannt. Ich bin sogar immer mit meinem Handy und manchmal sogar mit einem Magazin runter in die Lobby und habe da die Toilette benutzt."
Erst ein paar Tage später merkte er, dass Reus recht umgänglich und grundsätzlich ein ganz guter Typ ist. Inzwischen sind einige Jahre vergangen, aber auch noch heute schwärmen die jungen Spieler vom mittlerweile 33-jährigen Spielmacher des BVB.
"Er ist eine absolute Legende. Es ist bemerkenswert, wie er mit den jungen Spielern umgeht, auch mir hat er im Mannschaftsrat wirklich geholfen", sagte kürzlich Jude Bellingham. Dass es Menschen gibt, die bei Reus nicht so sehr ins Schwärmen geraten und die das Urgestein kritisch sehen, kann Bellingham nicht verstehen.
gettyMarco Reus mit unfassbarer 1:0-Statistik beim BVB
"Seine Bewegungen sind so geschmeidig", schwärmte der junge Engländer: "Manchmal liefere ich einfach nur den Ball bei ihm ab und staune, was er damit macht." So auch beim 3:0 des BVB zum Auftakt der Champions League gegen den FC Kopenhagen. Die Dänen kamen mit der Idee nach Dortmund, mit zwei Fünferketten zu verteidigen und Stürmer Andreas Cornelius als Libero vor diesen Ketten zu postieren.
Es gibt viele Mannschaften, die keine Lösungen finden und an der Aufgabe scheitern, so ein Bollwerk zu brechen. Der BVB hat dieses Problem in dieser Saison nicht, weil man mit Reus jemanden hat, der weiß, wie es geht, die berühmt berüchtigte Dose zu öffnen.
Sein sehenswerter Treffer in der 35. Minute war bereits das 60. Tor von Reus im BVB-Trikot zum 1:0. Ein unfassbarer Wert, bedenkt man, dass er in Dortmund mit Spielern wie Robert Lewandowski, Erling Haaland oder Pierre-Emerick Aubameyang zusammen gespielt hat. Dabei ist Reus mit diesen Zahlen nicht mal ganz zufrieden: "Es hätten noch ein paar mehr werden können."
Das mag Understatement sein, könnte aber auch schlicht daran liegen, dass Reus schon häufig die Erfahrung gemacht hat, wie schnell es im Fußball-Geschäft in die andere Richtung gehen kann.
Lothar Matthäus: "An Marco Reus nagt der Zahn der Zeit"
Es ist gar nicht lange her, da wurde Reus als das Problem des BVB ausgemacht. Die Medien hinterfragten regelmäßig den sportlichen Wert des Spielmachers für den BVB und untermauerten dies mit ein paar prominenten Expertenmeinungen.
"Bringen die Alt-Stars Mats Hummels und Marco Reus diese Mannschaft wirklich noch voran oder muss man sie respektvoll und anständig verabschieden?", fragte beispielsweise Lothar Matthäus in seiner Sky-Kolumne im Februar und kam zu dem Schluss: "Das ständige In-Watte-Packen der hoch bezahlten Dortmund-Stars und auch des Trainers darf so nicht weitergehen. Man muss über Reus, Hummels, den Trainer und weitere Spieler nachdenken."
Im April legte Matthäus an gleicher Stelle noch einmal nach: Zwar gebe es "nur wenige BVB-Stars, die in den vergangenen Jahren mehr für diesen Klub geleistet haben als diese beiden fantastischen Fußballer. Aber auch an ihnen nagt der Zahn der Zeit". Er verglich Hummels und Reus mit seiner eigenen Situation im Jahr 2000, als er den FC Bayern Richtung New York Metrostars aus ähnlichen Gründen verließ.
Immerhin muss man dem Rekord-Nationalspieler zu Gute halten, dass er Reus und Hummels nicht ganz abschrieb: "Vielleicht bekommen sie nochmal so die Kurve, dass sie uns alle in der nächsten Saison überraschen." Nach den ersten Eindrücken dieser Saison kann man durchaus festhalten, dass sowohl Mats Hummels, der eine starke Runde spielt, als auch Marco Reus die Kurve bekommen haben.
Die Spielweise von Edin Terzic kommt Marco Reus entgegen
Das hat durchaus Gründe. Da ist die Spielweise von Trainer Edin Terzic, der seine Vorgehensweise offensichtlich auf die Fähigkeiten und auf das Leistungsvermögen seines Spielermaterials zuschneidet. Der BVB spielt nicht mehr in der Intensität, die Terzic-Vorgänger Marco Rose praktizieren ließ.
Terzic hat die Komplexität abgeschafft und seine Spieler gewonnen. Das sieht zwar nicht mehr so spektakulär aus, funktioniert aber bisher gut, weil Dortmund nun auch die engen Spiele gewinnt, die man vorher noch öfters aus der Hand gegeben hatte. "Es ist alles eine stetige Entwicklung und da arbeiten wir alle dran", sagte Reus zum Prozess beim BVB.
Es ist auch eine Entwicklung, die seine eigene Zukunft beeinflussen wird. Reus ist in seinem letzten Vertragsjahr. Das Urgestein will seine Karriere beim BVB beenden und glaubt, dass er dem Klub auch noch weiter helfen kann. Schon in der Sommervorbereitung sagte er, dass er "noch viele Jahre im Tank hat" und sich "fit" fühlt. "Top-Top-Top-Fit", wie er nach dem Hoffenheim-Spiel, bei dem er wieder den 1:0-Siegtreffer erzielte, nochmals feststellte.
So kann Reus nicht nur dem BVB helfen, sondern womöglich auch wieder dem DFB. Für die Nationalmannschaft wurde er zuletzt im November 2021 nominiert und Reus lässt durchblicken, dass er bei der WM 2022 in Katar dabei sein möchte. Es ist ein Makel in seiner Karriere, dass er trotz vieler Jahre als Führungsspieler beim BVB nur ein großes Turnier mitmachen konnte.
gettyFährt Marco Reus zur WM nach Katar?
Die freiwillige Absage für die Europameisterschaft 2021 sorgte damals für große Kritik. Selbst Hasan Salihamidzic ließ sich damals zu einer Stichelei gegen Reus hinreißen, als dieser die ersten Länderspiele nach der EM sausen ließ und dann in der Bundesliga auf dem Platz stand.
"Es ist schon manchmal verwunderlich, dass man von der Nationalmannschaft wegfährt und dann zwei, drei Tage später wieder spielt", sagte der Sportvorstand des FC Bayern damals. Aus Dortmund gab es deutliche Reaktionen.
Dass nun Reus dabei sein will, ist sein gutes Recht, auch wenn er nicht nur Fürsprecher hat. "Wenn er vor zwei Jahren sagt, er kann nicht oder mag nicht, dann kann er nicht zwei Jahre später zur Weltmeisterschaft fahren. Das geht nicht", sagte Dietmar Hamann zuletzt.
"Die Entscheidung, damals nicht zur Europameisterschaft zu fahren, basierte auf dieser Verletzungshistorie. Er hatte sich sehr müde gefühlt", konterte BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl, der aber nun eine "andere Situation" sieht.
Das sieht wohl auch Bundestrainer Hansi Flick so, der als Liebhaber der Fähigkeiten von Reus gilt und wohl auch in engem Kontakt zum 45-fachen Nationalspieler steht.
Sicher hat Flick einige Optionen, die Nominierung ist kein Selbstläufer. Aber einen Dosenöffner kann er gut gebrauchen. Und einen, der den jungen Spielern mit Rat und Tat zur Seite steht.