Martin Fraisl vom FC Schalke 04 im Interview: "Ausmisten, Tiere-Füttern, Feldarbeit: Ich war permanent im Einsatz"

Nino Duit
10. Februar 202211:27
SPOXgetty
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Martin Fraisl arbeitete auf dem Bauernhof und wollte Skifahrer werden, ehe er seinen Plan änderte und im Alter von 16 Jahren im Verein zum Fußballspielen anfing. Physisches Training alleine reichte ihm nicht, also schaute er pro Tag zwei Spiele und reiste quer durch Europa, um Torleute zu studieren. Heute ist der Österreicher 28 und Stammkeeper des FC Schalke 04. Im Interview mit SPOX und GOAL erzählt Fraisl seine erstaunliche Geschichte.

Herr Fraisl, Sie sind im Sommer zum FC Schalke 04 gewechselt - und haben nach Bezug Ihres neuen Zuhauses erstmal die Nachbarschaft zum Biertrinken eingeladen. Gab es Wieselburger aus Ihrer Heimat im österreichischen Mostviertel oder Veltins?

Fraisl: Ich habe in Gelsenkirchen leider kein Wieselburger bekommen, deswegen wurde es Veltins. Später habe ich aber mal für unsere Zeugwarte aus Österreich Wieselburger mitgenommen. Sie fanden Veltins besser.

Wie lief das Kennenlernen mit der neuen Nachbarschaft?

Fraisl: Das war damals relativ spontan. Die Kinder haben auf der Straße gespielt und ich habe alle, die vorbeigekommen sind, zu uns eingeladen. So wurden es immer mehr Leute. Ich bin sehr offen und gehe gerne auf Menschen zu. Mit einigen Schalke-Fans aus unserer Straße haben meine Frau und ich guten Kontakt. Über diesen Weg bekomme ich auch mit, was die Fans über meine Leistungen und die der gesamten Mannschaft denken.

Und?

Fraisl: Aktuell sind die Rückmeldungen durchweg positiv. Gleich zu Beginn der Saison habe ich die Erwartungen gedämpft. Ich habe den Fans erklärt, wie schwer es für eine neu zusammengestellte Mannschaft ist. Unser Ziel war es, im Winter in Schlagdistanz zu den Aufstiegsplätzen zu sein, um dann in der Rückrunde anzugreifen.

Aktuell liegt Schalke auf Platz fünf. Klappt der Aufstieg?

Fraisl: Ja, ich sehe sehr gute Chancen.

Ihr Vertrag läuft im Sommer aus. Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus, was haben Sie für Ziele?

Fraisl: Ich fühle mich auf Schalke sehr, sehr wohl und mag die Leute im und um den Verein. Die Schalker Mentalität gefällt mir gut. Ich kann mir eine Vertragsverlängerung gut vorstellen. Generell habe ich einen klaren Karriereplan. Bevor ich meine Frau kennengelernt habe, wusste nur meine Mutter über die nächsten Schritte Bescheid. Jetzt ist auch meine Frau eingeweiht. Öffentlich spreche ich über meine Karriereschritte immer erst, sobald ich sie erreicht habe. Aber wenn man mit Schalke in der 2. Liga spielt, kann man sich denken, was mein nächstes großes Ziel ist.

Wohl der Aufstieg in die Bundesliga. Ein anderes Ziel könnte die WM nächsten Winter in Katar sein. Österreich kann sich über die Playoffs noch qualifizieren. Schafft es Österreich? Und stehen Sie dann im Tor?

Fraisl: Das kann ich mir beides gut vorstellen. Österreich hat sehr gute Chancen auf die Qualifikation. Die Playoff-Gegner Wales, Schottland und Ukraine sind schlagbar. Und wenn ich so weitermache, werde ich bis dahin bestimmt mit dabei sein. Bei den letzten Lehrgängen war ich bereits auf Abruf nominiert.

Martin Fraisl löste Ralf Fährmann Ende September als Stammkeeper des FC Schalke 04 ab.getty

Sie haben Ihren klaren Karriereplan angesprochen. Gab es jemals ein Ziel, das Sie nicht erreicht haben?

Fraisl: Ich hatte das Ziel, nie abzusteigen. Letztes Jahr hat es mich mit ADO Den Haag aber leider erwischt.

Ein Blick zurück in die Vergangenheit: Sie sind auf einem Bio-Bauernhof im österreichischen Mostviertel aufgewachsen. Mussten Sie als Kind mithelfen?

Fraisl: Logisch. Ausmisten, Tiere füttern, Feldarbeit: Ich war permanent im Einsatz. Später hatte ich wegen meiner Sportlerkarriere weniger Zeit als mein Bruder, der heute noch auf dem Hof unserer Eltern arbeitet und ihn irgendwann übernehmen wird.

Können Sie sich vorstellen, nach der aktiven Karriere an den Hof zurückzukehren?

Fraisl: Nein, ich möchte nach der aktiven Karriere gerne im Fußball bleiben.

Welche Aufgaben haben Sie damals am liebsten übernommen, welche am wenigsten gern?

Fraisl: Am liebsten bin ich mit dem Traktor pflügen gefahren. Nicht so gerne war ich draußen, wenn es geregnet hat. Aber das war egal: Was getan werden musste, musste getan werden.

Helfen Sie heutzutage noch gelegentlich mit?

Fraisl: Ehrlich gesagt nicht. Ich bin sehr selten zuhause und wenn doch, versuche ich möglichst viel Zeit mit Freunden und meiner Familie zu verbringen. Meine Eltern sorgen dann dafür, dass die Arbeit zur Ruhe kommt.

Was wird am Hof vertrieben?

Fraisl: Das Hauptgeschäft ist der Verkauf von Geflügel. Wir bauen aber auch Kartoffeln und Karotten an.

Nehmen Sie bei Heimatbesuchen Proviant mit?

Fraisl: Bei der Rückreise nach Gelsenkirchen habe ich immer eine riesige Kühlbox mit Fleisch dabei. Das Fleisch von unserem Hof hat die beste Qualität. Ich weiß, wo es herkommt und dass es komplett Bio ist. Für mich als Sportler ist das perfekt.

Stimmt es, dass Sie in jungen Jahren Skifahrer werden wollten?

Fraisl: Ja, die Pläne waren damals sehr konkret. Im Winter war ich fünfmal pro Woche Skifahren, in den Sommerferien habe ich am Gletscher trainiert. Mit 16 habe ich mich aber dann für den Fußball entschieden.

Wie kam es?

Fraisl: Skifahren war schön und ich mochte es. Ich konnte dabei aber nicht meine ganze Sport-Leidenschaft ausleben. Ich konnte mich nicht so verhalten, wie man mich heute auf dem Fußballplatz kennt. Ich habe das Skifahren letztlich nicht in dem Maße geliebt, wie ich den Fußball liebe. Irgendwann kam dann der Moment, an dem ich umgeschwenkt bin.

Denken Sie, dass das Ski-Training Ihnen als Fußballer etwas gebracht hat?

Fraisl: Ja, durch das Skifahren habe ich mir eine physische Basis geschaffen. Ich bin dadurch sehr dynamisch und beweglich. Von der Athletik-Abteilung höre ich häufiger, dass meine Sprungwerte sehr gut sind. Das hat sicher mit dem Skifahren zu tun.

Haben Sie schon vor Ihrem Sportarten-Wechsel regelmäßig Fußball gespielt?

Fraisl: Ich war nicht im Verein, habe aber in meiner Freizeit gerne gespielt. Im Tor stehe ich, seit ich acht oder neun Jahre alt bin. Damals habe ich bei einem Fußballspiel in der Schule den Sohn eines Lehrers so umgegrätscht, dass sein Vater gesagt hat: "Jetzt reicht's, der muss ins Tor."

Wie ging es weiter, nachdem Sie sich für den Fußball entschieden haben?

Fraisl: Ich habe keine Akademie besucht, sondern mich durch die Amateurligen in den Profifußball gearbeitet. Wenn ich irgendetwas angehe, dann mit 100 Prozent und voller Hingabe. So ist es auch beim Fußball.

Wie kann man sich das vorstellen?

Fraisl: Weil man seinen Körper nicht zehn Stunden pro Tag trainieren kann, habe ich zusätzlich visuell trainiert. Ich habe mir im Schnitt zwei Spiele pro Tag angeguckt, am Wochenende auch mal drei oder vier. Über einen Freund hatte ich Zugang zu einer Scouting-Plattform. Da konnte man die Unterbrechungen überspringen und sich nur die Nettospielzeit anschauen. Das sind pro Spiel ungefähr 60 Minuten. Außerdem bin ich kreuz und quer durch Europa gereist, um möglichst viele Spiele im Stadion zu sehen. Es ging mir immer darum, die jeweiligen Torhüter zu beobachten und mir etwas von ihnen abzugucken.

Wie haben Ihre Reisen konkret ausgesehen?

Fraisl: Meistens war ich alleine unterwegs, manchmal hatte ich noch einen Freund dabei. Ich habe versucht, mir ein Netzwerk im Fußball aufzubauen und meine Kontakte für solche Reisen zu nutzen. Über einen Freund habe ich beispielsweise Christian Fuchs kennengelernt, der mir bei einer Reise nach Leicester geholfen hat. Ich war drei Tage in der Gegend. Neben einem Leicester-Spiel habe ich mir auch ein Viertligaspiel angeguckt, außerdem war ich bei einem Training von Leicester. Da bin ich mit Stift und Zettel hingegangen und habe mir Notizen zum Verhalten von Kasper Schmeichel gemacht. Wie gibt er sich gegenüber seinen Kollegen? Wie tritt er beim Warmmachen und beim Training auf? So habe ich viel gelernt.

Haben Sie Ihre Reiseziele nur nach Keepern ausgewählt? Oder haben auch die jeweiligen Klubs und Stadien eine Rolle gespielt?

Fraisl: Es ging mir schon auch um die Stadien und die Stimmung vor Ort. Für mich ist es inspirierend, vor einem Spiel auf ein Stadion zuzugehen. Aber der Hauptgrund für einen Besuch war, welche Torhüter ich mir anschauen kann.

Wovon hing es ab, welche Keeper für Sie interessant sind?

Fraisl: Da gab es verschiedene Kriterien. Thibaut Courtois fand ich beispielsweise weniger interessant, weil er mit seiner Körpergröße von über zwei Metern ganz andere Bewegungsmuster anwenden muss als beinahe alle anderen Keeper. Ich habe mich eher nach beweglichen und dynamischen Torhütern umgeschaut.

Haben Sie ein Vorbild?

Fraisl: Gianluigi Buffon. Grande Gigi ist eine Legende! Mich fasziniert sein herzhaftes Torwartspiel. Er verkörpert absolute Hingabe zum Sport und eine unglaubliche Leidenschaft.

Wie sind Sie mit den Erkenntnissen umgegangen, die Sie bei Ihren Reisen und Spielbeobachtungen gesammelt haben?

Fraisl: Ich habe mir viel aufgeschrieben und versucht, die jeweiligen Eigenschaften in mein Torwartspiel zu implementieren. Anschließend habe ich entschieden, was zu mir passt und was nicht. Je klarer ich das herausgefunden habe, desto unwichtiger wurde mir, was andere gemacht haben.

Martin Fraisl: Seine Karrierestationen im Profibereich

ZeitraumKlubLigaPflichtspiele
2014 bis 2016SC Wiener Neustadt2. Liga (Österreich)3
2016 bis 2018Floridsdorfer AC2. Liga (Österreich)65
2018 bis 2019FC Botosani1. Liga (Rumänien)16
2019 bis 2021SV Sandhausen2. Liga (Deutschland)47
2021ADO Den Hag1. Liga (Niederlande)15
seit 2021FC Schalke 042. Liga (Deutschland)14

Sie spielten bis zum Alter von 25 Jahren beim österreichischen Zweitligisten Floridsdorfer AC, ehe Sie in die erste rumänische Liga zum FC Botosani gewechselt sind. Wie kam dieser Transfer zustande?

Fraisl: Bei einem Trainingslager mit dem FAC hatten wir ein Testspiel gegen Levski Sofia. Botosani war zeitgleich ebenfalls für ein Trainingslager in der Nähe. Weil sie damals an einem Levski-Spieler interessiert waren, haben sich ein paar Vertreter unser Testspiel angeschaut. Wie ich später erfuhr, habe ich dabei ihren Torwarttrainer mit meiner Spielweise imponiert. Daraufhin hat er mich über ein Scouting-Programm verfolgt. Als Botosani ein paar Monate später einen Torwart gesucht hat, hat er meinen Kontakt ausfindig gemacht und sich bei mir gemeldet.

Was hat Sie an Rumänien gereizt?

Fraisl: Meine langfristige Vision ist es, in einer der vier großen Ligen zu spielen. Ich weiß, dass die österreichische Bundesliga dafür nicht immer die beste Plattform ist. Aus Rumänien schaffen mehr Spieler den Sprung. Deswegen bin ich gewechselt.

Letztlich haben Sie eine Saison für Botosani gespielt, ehe Sie zum SV Sandhausen weitergezogen sind. Welches Erlebnis in Rumänien ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Fraisl: Einmal haben wir gegen den Tabellenletzten zuhause nur 0:0 gespielt. Das Verständnis von Fanseite für unseren Auftritt war nicht ganz so groß. Nach dem Spiel bin ich mit ein paar Kollegen zum Essen in ein Restaurant im Stadtzentrum gegangen. Dort hat jeder seine Speise bestellt: der eine Lasagne, der andere Nudeln oder eine Pizza. Das kam aber alles nicht, stattdessen wurde uns trockenes Hühnchen mit Reis gebracht und gesagt: "Das könnt ihr essen, mehr habt ihr nicht verdient." Also haben wir es gegessen und sind direkt nach Hause gegangen. Nach Siegen wurden wir wie Helden behandelt. Nach Niederlagen war es genau das Gegenteil.

Zum Abschluss ein ganz anderes Thema: Sie haben es sich einst zum Ziel gesetzt, Ihr Kälteempfinden abzutrainieren. Wie kamen Sie darauf?

Fraisl: Früher sind mir bei niedrigen Temperaturen immer meine Hände und Füße eingefroren. Dadurch war ich nicht mehr so reaktionsschnell, was mich gestört hat. Irgendwann habe ich durch Zufall erfahren, dass man sich sein Kälteempfinden abtrainieren kann. Das habe ich dann konsequent durchgezogen. Nach und nach habe ich immer weniger angezogen. Am Anfang war das ein Kampf. Aber mittlerweile kann ich mich bei Minusgraden mit kurzer Hose und T-Shirt draußen bewegen, ohne dass ich friere. Der Prozess hat rund zwei Jahre gedauert.

Was bekommen Sie darauf für Rückmeldungen?

Fraisl: Andere Fußballer fragen mich oft danach. Aber ich habe noch keinen kennengelernt, der das dann tatsächlich selbst versucht hat. Wenn ich einen neuen Trainer habe und er mich zum ersten Mal bei Minusgraden mit T-Shirt sieht, höre ich immer: "Was ist mit dir? Du wirst krank und kannst am Wochenende nicht spielen. Hör' auf damit!" Darauf sage ich nur: "Trainer, mach' dir keine Sorgen."