Die UEFA als Kriegstreiber? Der beispiellose Gewalt-Exzess in Belgrad beim EM-Qualifikationsspiel zwischen Serbien und Albanien und das folgende Urteil des europäischen Verbands sorgen allseits für Unverständnis. Albanien-Star Mergim Mavraj vom 1. FC Köln spricht erstmals ausführlich über die Treibjagd und die Folgen für den Balkan. Und er erklärt, warum Albanien dennoch auf dem Weg zu einer Fußball-Größe ist und sich immer mehr Top-Talente für den Verband entscheiden.
SPOX: Vor eineinhalb Wochen fiel das umstrittene Urteil der UEFA zum Skandal-Spiel in der EM-Qualifikation zwischen Serbien und Albanien, das beim Stand von 0:0 nicht fortgesetzt wurde. Die Partie wurde zwar mit 3:0 für Serbien gewertet, weil Ihre Mannschaft eine Fortsetzung der Partie verweigert hätte. Den Serben wurden die drei Punkte allerdings auch sofort wieder abgezogen, so dass beide Mannschaften faktisch verloren haben. Beide Verbände legten sofort Einspruch ein. Wie lautete Ihre erste Reaktion?
Mergim Mavraj: Als mir das erzählt wurde, dachte ich nur: "Unfassbar!" Ich konnte das nicht glauben. Niemand mit einem Mindestmaß an Gerechtigkeitsbewusstsein und mit der Kenntnis der Gegebenheiten konnte anzweifeln, was in Belgrad passiert war. Man hört als Außenstehender ja vieles über die Entscheidungen der Funktionäre. Doch wenn man selbst davon betroffen ist, wird man knallhart desillusioniert. Wenn wenige Stunden nach dem Urteil nicht das nächste Bundesliga-Spiel gegen Bremen angestanden hätte, wäre ich wohl richtig sauer gewesen. So habe ich versucht, das Urteil nicht zu sehr an mich heranzulassen.
SPOX: Der Vorwurf der UEFA an Albanien: Obwohl das Spiel nicht offiziell abgebrochen wurde, verließen die Spieler den Platz.
Mavraj: Ich verstehe den Vorwurf nicht. Schon vor dem Anpfiff konnten wir uns darauf einstellen, was passieren wird. Die Stimmung unter den serbischen Fans war extrem negativ und von Hass durchsetzt. Wir hörten nur: "Schlachtet Sie! Hängt Sie auf! Tod den Albanern!" Und als die Situation tatsächlich eskalierte, mussten wir uns in Sicherheit bringen. Warum wird das nicht berücksichtigt? Als Kevin-Prince Boateng bei einem Spiel in der Serie A rassistisch beleidigt wurde und vom Platz ging, war das absolut verständlich und die UEFA verzichtete auf eine Strafe. Völlig zu Recht, Rassismus darf nicht toleriert werden. Nur: Wenn in Belgrad die Fans "Tötet die Albaner!" singen, ist es etwas anderes und dafür erteilt die UEFA einen Freifahrtschein? Es wird genauso der Hass auf eine Volksgruppe geschürt. Die offensichtliche Unterscheidung der UEFA, die sich sonst dem Kampf gegen Rassismus verschrieben hat, kann ich nicht nachvollziehen.
SPOX: Sie sagten eingangs, dass die albanischen Spieler darauf vorbereitet waren, dass das Spiel in einem Platzsturm der Fans und einer Massenschlägerei endet?
Mavraj: Ja, zumindest zogen wir es in Betracht. Wer vor Ort dabei war und die Stimmung gespürt hat, musste damit rechnen. Daher war ich fast schon gelassen, als Ende der ersten Halbzeit die Stimmung vollkommen ins Negative kippte. Meine Religion erlaubt mir nicht, Gewalt auszuüben. Daher bereitete ich mich innerlich darauf vor, wie ich mich verhalten muss, damit mir selbst nichts passiert und ich zugleich keinem etwas antue.
SPOX: Und dann kam ein serbischer Fan auf Sie zugestürmt, der Sie treten und schlagen wollte. Die Fotos gingen um die Welt. Was dachten Sie sich in dem Moment?
Mavraj: Seinem Tritt konnte ich ausweichen, in dem ich mein Bein hochzog. Und als er zum Faustschlag ausholte, hielt ich gerade noch meinen Arm vor mein Gesicht. Der Fan war daraufhin so perplex, dass ich ihn zur Seiten schubsen konnte und er hinfiel. Wenige Augenblicke später kamen schon die serbischen Spieler, die ihn und die anderen Fans, die auf den Platz gerannt kamen, zur Seite drängten. Kurz darauf bin ich mit der Mannschaft in die Kabine geflüchtet.
SPOX: Die serbischen Spieler halfen den albanischen Gegnern?
Mavraj: Die Jungs auf dem Platz benahmen sich sehr anständig. Sie standen uns gegen die Fans und die ebenfalls sehr aggressiven Ordner bei. Bei den Auswechselspielern war es etwas anderes. Sie ließen sich von der Stimmung anstecken, machten selbst Ärger und griffen uns an.
SPOX: Von albanischer Seite hieß es, dass sich einige Spieler verletzt hätten. Von serbischer Seite heißt es, der Platzsturm sei eine Ausrede gewesen, um das Spiel abzubrechen, und Ihr Verband übertreibe, um ein milderes Urteil zu bekommen.
Mavraj: Ganz ehrlich: Die Frage lautete nicht, ob wir weiterspielen wollen. Denn wir waren schlichtweg nicht mehr in der Lage weiterzuspielen. Wie soll sich ein Spieler auf Fußball konzentrieren, wenn einem die Nase gebrochen wurde? Taulant Xhaka wurde wie Lorik Cana ins Gesicht geschlagen, er hatte ein dickes blaues Auge. Ermin Lenjani blutete am Hals und bei Debatik Curri klaffte hinter dem Ohr eine große Wunde. Bekim Balaj, der einen Stuhl auf den Kopf bekommen hatte, war ganz benommen.
SPOX: Wie ging es nach dem Abbruch weiter?
Mavraj: Der Weg in die Kabine war - neutral formuliert - hindernisreich. Der Spielertunnel war ja ein Provisorium und eher ein Zelt. Daher spürten wir jeden Stein, den die Fans gegen die Plane warfen. Dann kamen uns im Tunnel die serbischen Polizisten entgegen, die uns den Zugang zur Kabine versperren wollten, weil sie wussten, dass das Spiel wohl für uns gewertet wird, wenn es abgebrochen wird. Wir kämpften uns irgendwie durch.
SPOX: Und dann?
Mavraj: Dann saßen wir bis 4 Uhr morgens in der Kabine. Wobei die Zeit relativ schnell verging, weil immer wieder Leute reinkamen: UEFA-Delegierte, andere Offizielle oder Serbiens Kapitän Branislav Ivanovic, der uns vom Weiterspielen überzeugen wollte. Es dauerte alleine eine Stunde, als Polizisten unsere Taschen durchsuchten, weil sie wissen wollten, ob wir etwas von der Drohne oder der Fahne mitgenommen hatten. Dabei lag alles beim Schiedsrichter. Um 4 Uhr war die Lage so beruhigt und alle Fans wurden rauseskortiert, so dass wir mit dem Mannschaftsbus, begleitet von einer Polizeieskorte, sicher zum Flughafen fahren konnten.
SPOX: Serbien wurde von der UEFA unter anderem bestraft, weil Raketen ins Stadion geschmuggelt wurden, die Fans auf den Platz rennen konnten und nicht ausreichend Ordnungskräfte zugegen waren. Den Albanern wiederum wurde die Weigerung zum Weiterspielen und das Zeigen der Großalbanischen Flagge mithilfe der Drohne vorgeworfen. Es stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit.
Mavraj: Diese Unverhältnismäßigkeit ärgert mich maßlos. Das mit dem Nicht-Weiterspielen sollte jedem einleuchten. Und die Aktion mit der Fahne lag nicht in unserer Hand. Es ist immer noch nicht geklärt, wer die Drohne überhaupt gesteuert hat.
Seite 1: Mavraj über das Skandal-Spiel, das Urteil und die Treibjagd auf dem Platz
Seite 2: Mavraj über alte Ressentiments, positive Effekte und Vorbilder
SPOX: Albaniens Regierungschef Edi Rama sagte, dass 2014 "das beste Jahr für den Balkan und seine Geschichte" und "das erste friedliche Jahr in der ganzen Region ohne Grenzkonflikte" gewesen sei - bis es zur Massenschlägerei in Belgrad kam. Besteht ein Risiko, dass die alten Ressentiments wiedererweckt werden?
Mavraj: Es ist nicht so, dass Serbien und Albanien noch so verfeindet sind wie früher. Alleine wirtschaftlich gibt es viele Verbindungen und es werden gemeinsame Projekte umgesetzt. Finanziell ist man voneinander abhängig, daher wurde der gegenseitige Umgang in den letzten Jahren immer konstruktiver. Umso trauriger ist es, dass mit dem UEFA-Urteil der Frieden nicht weiter gefördert wird. Stattdessen wurde der Nährboden gelegt für neuen Unmut und eine Radikalisierung in beiden Ländern, weil sich jetzt alle benachteiligt fühlen.
SPOX: Mit einigen Tagen Abstand: Gibt es irgendetwas Positives nach den Vorfällen?
Mavraj: Ich hoffe, dass jetzt eine positive "Jetzt erst recht"-Einstellung einkehrt. Die Nationalmannschaft und Albanien als Land werden noch enger zusammenrücken und alles daran setzen, sich für die EM 2016 zu qualifizieren, obwohl wir ungerecht behandelt wurden. Schon in den letzten Tagen war eine extreme Nähe zwischen der Bevölkerung und der Mannschaft zu spüren - und diese Solidarität kann Kräfte wecken. Wir müssen nur daran denken: Egal wie es lief, am Ende waren es nur ein Spiel und drei verlorene Punkte, die wir uns während der Quali zurückerkämpfen können. Mit dem Sieg in Portugal und dem Unentschieden gegen Dänemark haben wir gezeigt, dass wir uns mit jedem messen können.
SPOX: In der sehr ausgeglichen besetzten Quali-Gruppe mit Portugal, Dänemark und Serbien gilt Albanien mittlerweile als Geheimfavorit. Wie stark ist Ihr Team?
Mavraj: Wir sind stärker denn je. Unsere Stärke ist, dass uns viele noch nicht richtig kennen - und gleichzeitig alle genau wissen, dass wir sehr unangenehme Gegner sind und uns über den Kollektivgedanken definieren. Die WM hat gezeigt, dass der Fußball sich gewandelt hat, weg vom Superstar hin zum mannschaftlichen Spiel und Teamspirit. Und das wollen wir mit Leben füllen. Wir stehen defensiv sehr diszipliniert und mit einer extremen taktischen Ordnung. Niemand möchte gegen uns spielen.
SPOX: Ist Bosnien-Herzegowina ein Vorbild?
Mavraj: Definitiv. Nicht vom spielerischen her, weil Bosnien anders als wir mit individueller Klasse gespickt ist. Dennoch wollen wir einen ähnlichen Weg gehen. Bosnien scheiterte zehn Jahre lang häufig knapp an einer Qualifikation für ein Großturnier - bis zur WM 2014. Das beweist, dass man hart arbeiten muss und der Weg kurvig ist, aber am Ende der Erfolg wartet. Umso mehr freuten wir uns für die Bosnier mit, als wir sie bei der WM sahen. Wir werden ebenfalls Geduld brauchen und lernen müssen zu scheitern.
SPOX: Ist der sportliche Aufschwung der Grund dafür, dass zuletzt mit Donis Avdijaj sogar Schalke größtes Offensivtalent erklärte, lieber für Albanien als für Deutschland zu spielen?
Mavraj: Es ist ein schrittweiser Fortschritt. Viele sehen, dass sich der albanische Verband immer professioneller aufstellt und dadurch die Leistungsfähigkeit erhöht wird. Mittlerweile ist der Verband genauso strukturiert und modern organisiert wie ein deutscher Bundesliga-Klub und der Umgang ist von Respekt geprägt. Das Gesamtbild hat sich ins Positive verkehrt. Wir standen uns in der Vergangenheit selbst im Weg. Mittlerweile ist die Lust zu spüren, als Gruppe etwas zu reißen, statt nur persönliche Eitelkeiten zu pflegen. Es kommt deswegen nicht von ungefähr, dass die Ergebnisse immer besser werden und jedem Spieler, der albanische Wurzeln hat, eine Perspektive geboten wird. Ich glaube, dass sich immer mehr große Talente für Albanien entscheiden.
SPOX: Wenn die Spieler mit kosovo-albanischen Eltern sich für Albanien entschieden hätten, könnte Ihre Mannschaft noch stärker sein. Nur: Xherdan Shaqiri, Granit Xhaka, Valon Behrami, Admir Mehmedi oder Blerim Dzemaili spielen alle für die Schweiz. Zudem strebt die Teilregion Kosovo an, eine eigene Nationalmannschaft zu etablieren. Es gibt seit diesem Jahr erste inoffizielle Länderspiele, an denen unter anderem Albert Bunjaku teilnahm. Wie stehen Sie zu dem Thema?
Mavraj: Es ist kein politisches Statement, sondern das, was ich fühle: Meine Eltern stammen aus dem Kosovo und für mich ist der Kosovo weiter ein Teil von Albanien. Daher würde ich es mir wünschen, dass die Spieler mit kosovarischen Eltern alle für Albanien spielen und wir eine Einheit bilden.
SPOX: Fürths derzeit verletzter Stürmer Ilir Azemi, mit dem Sie sehr gut befreundet sind, möchte nicht für Albanien spielen, sondern nur für den Kosovo.
Mavraj: Ilir würde unser Anforderungsprofil absolut erfüllen und ist ein super Stürmer. Er hat es letztes Jahr in der Rückrunde mit 13 Toren bewiesen. Deswegen habe ich mir in den letzten Jahren den Mund fusselig geredet, um ihn zu überzeugen. Aber er will nur für den Kosovo spielen, obwohl das Land noch nicht einmal offiziell anerkannt ist. Das ist schade - trotzdem respektiere ich natürlich seine Entscheidung.
SPOX: Ihr Wort hat Gewicht in Albanien. Sie sind gemeinsam mit Lazio Roms Lorik Cana nicht nur der Abwehr-Chef, sondern der Führungsspieler der Mannschaft. Nach dem Wechsel von Fürth nach Köln mussten Sie jedoch etwas erleben, das Sie seit Jahren nicht mehr kennen: Sie saßen auf der Bank. Wie ungewohnt war das?
Mavraj: Wie für jeden Spieler fiel es mir nicht leicht. Speziell, weil ich in den letzten Jahren eigentlich überall Stammspieler war. Gleichzeitig bin ich nicht blauäugig nach Köln gekommen. Es wäre vermessen gewesen zu glauben, dass man sofort in eine erfolgreiche Mannschaft reinrutscht. Daher formulierte ich für mich den Anspruch, mich an die Situation anzupassen und positiven Einfluss auf die Mannschaft zu nehmen, in dem ich keinen Ärger mache und mich als Persönlichkeit zurücknehme. Es war eine Prüfung und ich bin froh, dass ich sie bestanden habe.
SPOX: Nachdem Sie in den ersten sieben Bundesligaspielen nicht einmal eingewechselt wurden, gehören Sie nun zum Stamm und waren maßgeblich beteiligt an drei Pflichtspielsiegen in Folge. Fühlen Sie sich nun bestätigt, zur Verwunderung vieler Köln zugesagt zu haben und nicht Stuttgart, Hamburg oder Lazio Rom, die ebenfalls Interesse hatten?
Mavraj: Nein, eine Bestätigung war nicht nötig, weil ich immer gespürt habe, dass Köln der richtige Verein ist. Deswegen fiel die Entscheidung im Sommer trotz der anderen Optionen auch sehr schnell.
SPOX: Obwohl Köln ein Aufsteiger ist und als Ziel den Klassenerhalt ausrief?
Mavraj: Man darf nie vergessen: Köln ist ein ganz besonderer Verein. Ich kann das Gefühl nur schwer in Worte fassen. Es ist ein bisschen, wie wenn sich zwei Freunde eine Frau anschauen: Für den einen ist sie vielleicht nicht das perfekte Topmodel, aber für den anderen ist sie genau richtig - ohne das genau beschreiben zu können. So ist Köln und so ist der FC. Als ich gegen Dortmund in der Startelf stand und die Stimmung im Stadion aufsog, bin ich im positiven Sinn fast verrückt geworden. Ich weiß nicht, ob es eine andere deutsche Stadt gibt, die so viel Herzblut in ihren Verein investiert wie Köln.
SPOX: Gab es Irritationen, als eine Salafisten-Gruppe namens "Die wahre Religion" ein Foto von Ihnen mit einem Koran unerlaubt nutzte, um für deren Agenda zu werben?
Mavraj: Nein, ganz im Gegenteil. Wir wissen alle, wie brisant das Thema ist, trotzdem hat der Verein mich sofort unterstützt. Die handelnden Personen und die Presseabteilung haben mir sehr geholfen und die unschöne Episode in meinem und im Sinne des FC geklärt. Dafür bin ich dem Verein sehr dankbar.
Seite 1: Mavraj über das Skandal-Spiel, das Urteil und die Treibjagd auf dem Platz
Seite 2: Mavraj über alte Ressentiments, positive Effekte und Vorbilder