Nach dem Weiterkommen gegen Juventus Turin steht Ajax Amsterdam erstmals seit Mitte der 1990er Jahre wieder im Champions-League-Halbfinale. Erstmals seit 2005 schaffte das ein Verein, der keiner der fünf großen Ligen angehört. Ajax erlebt einen Frühling wie damals, aber dieser Frühling wird keinen Sommer sehen.
Es sind Bilder, von denen man dachte, dass es sie nie mehr wieder geben würde. Nie mehr wieder. Sie stammen von Mitte der 1990er Jahre und je weiter die unaufhaltsame Zeit von diesen Bildern davonzog, desto sicherer wurde man sich dabei: nie mehr.
Die Trikots auf diesen Bildern sind weiter als heute und die Hosen kürzer und Ajax Amsterdam, dieser Lieblingsklub aller Fußballliebhaber, feiert auf diesen Bildern Erfolge in der Champions League. Es war in der unschuldigen Anfangszeit dieses Wettbewerbs.
Eine junge Ajax-Mannschaft stürmte 1995 zum Titel und im darauffolgenden Jahr erneut ins Finale. Patrick Kluivert, Clarence Seedorf, Edgar Davids, Marc Overmars, Edwin van der Sar. Ach. Bald aber folgte das Ende dieser unschuldigen Zeit und es trug den Namen Bosman-Urteil. Spieler durften fortan nach Vertragsende ablösefrei wechseln, Ajax zerfiel und mit ihm die Hoffnung auf Erfolge von Klubs wie Ajax.
Ajax: Der romantischste Klub aller Kleinen
Seit der PSV Eindhoven 2005 erreichten ausnahmslos Klubs aus den fünf großen, reichen Ligen das Champions-League-Halbfinale. Die Großen wurden mit der Zeit nur immer größer. Und wenn die Kleinen andeuteten, groß werden zu können, wurden sie von den Großen kleingekauft. Kein Klub erlitt dieses Schicksal so nachhaltig und wiederkehrend wie die ewige Talentschmiede Ajax.
Und dann, dann kam dieser Frühling 2019 mit seiner vorläufigen Krönung an diesem Dienstagabend im April im Allianz Stadium von Turin. Die Bilder waren nicht die gleichen wie damals, aber sie sendeten die gleiche Botschaft: Es ist doch noch möglich! Ein Kleiner steht im Halbfinale der Champions League! Und dann auch noch der romantischste aller Kleinen: Ajax!
gettyAjax' historische Europatour von Graz bis ins Halbfinale
Nach dem entscheidenden 2:1-Sieg im Rückspiel gegen Juventus erschienen sogar einige Protagonisten der einstigen Bilder auf dem Rasen. Sie trugen keine zu weiten Trikots oder zu kurze Hosen, sie trugen Anzug.
Van der Sar nennt sich nicht mehr Keeper, sondern Geschäftsführer und schmiss seine Fäuste vor dem ekstatisch jubelnden Ajax-Fanblock immer wieder aufs Neue in die Luft. Overmars nennt sich nicht mehr Flügelstürmer, sondern Geschäftsführer. Er lief mit ausgebreiteten Armen los, statt aber abzuheben wie ein Flugzeug, schmiss er sich auf seinen Bauch und glitt den Rasen entlang wie ein Segelschiff.
Sie feierten gemeinsam mit ihren spielenden Nachfolgern, die mit Juventus nach Real Madrid den zweiten Titelfavoriten aus dem Wettbewerb warfen, nachdem sie bereits in der Gruppenphase zwei Remis gegen den FC Bayern München geholt hatten.
Begonnen hatte die Europatour Ende Juli vergangenen Jahres mit Spielen gegen Sturm Graz. Als erster Verein der Champions-League-Geschichte kämpfte sich Ajax durch drei Qualifikationsrunden und dann bis ins Halbfinale.
Van de Beek: "Hätten noch höher gewinnen müssen"
Wie schon im Hinspiel gegen Juventus geriet Ajax auch im Rückspiel durch einen Treffer von Cristiano Ronaldo in Rückstand (28.), wie schon im Hinspiel ließ sich Ajax davon aber auch im Rückspiel nicht beirren. Donny van de Beek (34.) und der erst 19-jährige Kapitän Matthijs de Ligt (67.) drehten das Spiel. "Wir haben es wieder getan, unfassbar", sagte de Ligt danach: "Es ist bizarr. Ich habe keine Worte dafür."
Bizarr war nicht nur der Umstand des Weiterkommens an sich, sondern vor allem auch das Wie. Nach einer nervösen Anfangsphase wurde Ajax ab Mitte der ersten Halbzeit immer besser. Fortan kombinierten die flinken Offensivspieler gegen die eigentlich so routinierte Juventus-Defensive traumhaft und Dusan Tadic zeigte seine schönsten Hacken-Tricks. Es waren aber keine Hacken-Tricks, der Hacken-Tricks wegen - sie machten Sinn, sie brachten Raumgewinn, sie setzten seine Kollegen in Szene.
"Wir hätten noch höher gewinnen müssen", sagte van de Beek. Und tatsächlich: Der Torschütze zum 1:1 hatte Chancen zu zwei weiteren Toren und auch Hakim Ziyech hätte noch treffen können.
Ajax-Jubel vom Fanblock in die Kabine und zurück
Die jungen Wilden stürmten und stürmten und die Älteren mit ihrem langen Haar oder Bart sorgten für Ruhe. Daley Blind in der Innenverteidigung, Lasse Schöne im defensiven Mittelfeld. "Wir spielen ohne Furcht", sagte Blind, "und wir haben eine gute Mischung aus jungen und erfahrenen Spielern." Nach Abpfiff jubelten sie alle zusammen so wild, dass es wilder kaum geht. Die Jungen und die Erfahrenen.
Sie tanzten vor ihrem Fanblock und von dort einfach in die Kabine weiter. Sie tanzten wieder zurück vor den Fanblock und wieder in die Kabine. Trikots hatten sie da schon keine mehr an, die waren längst auf die Ränge geflogen. Wer dort eines fing, fing ein Souvenir des kleinen Aufflackerns der unschuldigen Zeit.
Ajax' Talente machen sich interessanter - und zu Legenden
Ajax erlebt einen Frühling wie damals, aber dieser Frühling wird keinen Sommer sehen. Entweder nach dem Halbfinale gegen den Sieger des Duells Manchester City gegen Tottenham Hotspur oder nach dem Finale in Madrid am 1. Juni ist er vorbei und das wissen alle Beteiligten ganz genau. Ob die Mannschaft im sommerlichen Transferfenster denn zerfallen werde, wurde Trainer Erik ten Hag neulich von der Süddeutschen Zeitung gefragt und er antwortete mit: "Ja!"
Frenkie de Jongs (21) Wechsel für 75 Millionen Euro zum FC Barcelona steht schon fest, de Ligt (19) wird ihm wohl folgen. Auch Ziyech (26), van de Beek (21), der Hinspieltorschütze David Neres (22), Keeper Andre Onana (23) und all die anderen machen sich mit jedem weiteren Spiel interessanter für die großen Klubs - und gleichzeitig zu Legenden beim kleinen Ajax.
Und vielleicht am wichtigsten: Sie zeigen allen anderen Kleinen, dass es noch möglich ist, ganz nach oben zu kommen. Wenn auch nur für einen Frühling.