Peter Bosz arbeitet seit dem 4. Januar 2019 als Trainer bei Bayer Leverkusen. Der 55-Jährige war aber auch ein erfolgreicher Spieler, der unter anderem in Frankreich und Japan spielte und acht Mal für die niederländische Nationalelf auflief.
Im ersten Teil des Interviews mit SPOX und DAZN spricht Bosz vor dem Champions-League-Duell gegen Atletico Madrid (Di., 18.55 Uhr live auf DAZN) über seine prägenden Auslandsstationen als Spieler, die ersten Gedanken an eine Trainerkarriere im Alter von 16 Jahren, sein uraltes, aber bis heute existierendes Notizbuch und erklärt die Notenvergabe an seine Spieler.
Am kommenden Donnerstag erscheint Teil 2 des Gesprächs mit Peter Bosz. Dort spricht er über das Treffen mit dem todkranken Johan Cruyff, das Für und Wider seiner Spielweise und die Zeit bei Ajax Amsterdam und dem BVB.
Herr Bosz, von 1981 bis 1988 haben Sie für Vitesse Arnheim, Apeldoorn und den RKC Waalwijk als Profi in den Niederlanden gespielt. Mit 24 Jahren ging es dann zu Sporting Toulon in die 2. Liga Frankreichs. Wie kam es zu diesem Wechsel?
Peter Bosz: Die Möglichkeit war da und ich liebe Abenteuer. Das war eines. Obwohl ich nur in der zweiten Liga gespielt habe, wurde ich trotzdem zur Nationalmannschaft eingeladen. Alle Augen waren damals auf mich gerichtet, da es noch nicht viele Holländer gab, die in Frankreich gespielt haben.
Welche Rolle spielten die Finanzen bei diesem Transfer?
Bosz: Ich habe dort etwa das Hundertfache von dem bekommen, was ich in Holland verdiente. In Holland war ich allerdings noch ein Halbprofi. Der Wechsel nach Frankreich hatte aber nicht unbedingt etwas mit Geld zu tun. Mir ging es in erster Linie um meine Entwicklung als Mensch und Fußballspieler.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie als Junge nach Frankreich gingen und später als Mann zurück in die Niederlande kehrten.
Bosz: Genauso war es auch. Vor diesem Wechsel war ich noch ein Kind. Es war schwer, später in der Ligue 1 zu spielen. Das war Männerfußball. Nach drei Jahren in Toulon bin ich zu Feyenoord gegangen, damals in Holland die absolute Spitze. Da konnte man sehen, dass ich diese Erfahrungen aus Frankreich mitgenommen hatte. Das hat mir sehr geholfen. Die Ligue 1 war damals top, es war noch kein französischer Spieler im Ausland. Die waren alle in ihrer eigenen Liga unterwegs. Marseille, Lyon, Bordeaux, Cannes, Monaco - das waren auch in Europa Top-Mannschaften.
Wie anders war das Leben für Sie in Frankreich im Vergleich zu dem, das Sie aus Holland kannten?
Bosz: Als ich dorthin gewechselt bin, dachte ich auch an eine andere Kultur. Aber das stimmt nicht: Die Kultur dort ist wie bei uns in Holland oder in Deutschland - nur die Sprache ist eine andere. Ich bin später nach Japan gewechselt: Das ist eine andere Kultur! Da ist wirklich alles anders. In Frankreich war das nicht schwierig. Wir haben schnell die Sprache gelernt und uns dem Lebensstil angepasst. Und ganz ehrlich: Es gibt Schlimmeres, als nach Südfrankreich umzuziehen. (lacht)
1996 wechselten Sie für eine Saison in die japanische J-League zu JEF United Ichihara, auch 1999 gingen Sie zum Ausklang Ihrer Karriere noch einmal dorthin. Wieso eigentlich Japan?
Bosz: Wir hatten im Winter einmal mit Feyenoord ein Trainingslager in Hiroshima. Mich hat das, was ich dort gesehen habe, sehr begeistert. Die Menschen und ihr Umgang miteinander waren wirklich wunderbar. Ein Japaner sagt nie "Nein", sein Gegenüber muss das vielmehr merken, wenn er etwas nicht möchte. Sie gaben sich damals auch nicht die Hand, weil das aus ihrer Sicht ein aggressiver Akt ist. Stattdessen verbeugen sie sich voreinander. Der Umgang miteinander ist sehr respektvoll.
War das auch beim Fußballspielen so?
Bosz: Ja. In meinem ersten Training stoppte ein Mitspieler einen Ball, der knapp im Aus war. Der Trainer hatte eigentlich nichts gesagt, normalerweise würde man also weiterspielen. Doch der Spieler hat zugegeben, dass der Ball im Aus war. Der muss verrückt sein, dachte ich. Das ist aber die Mentalität und Kultur in Japan. Oder eine andere Geschichte: Wir waren viel mit dem Zug unterwegs und mussten unsere Taschen immer selbst mitnehmen. Einmal mussten wir etwas länger warten und wollten einen Kaffee trinken gehen. Alle Spieler haben ihre Taschen einfach am Bahngleis stehen lassen, ich aber wollte meine natürlich mitnehmen. Man sagte mir aber, das sei überhaupt nicht nötig, weil niemand einfach die Tasche eines anderen wegnimmt. Die Spieler haben auf dem Parkplatz am Trainingsgelände auch ihre Schlüssel im Auto stecken lassen, weil keiner auf die Idee käme, das Auto zu klauen. Das Essen war übrigens auch super und gesund, ich habe drei Kilo abgenommen. Tokio ist eine Stadt mit zwölf Millionen Einwohnern, doch es hat sich nie so angefühlt. Ich hoffe, dass ich noch einmal die Möglichkeit bekomme, nach Japan zurückzukehren.
Müsste es dann wieder Japan sein - oder ginge es Ihnen vor allem um ein neues Abenteuer?
Bosz: Das Abenteuer bleibt interessant für mich, weil es mir sehr viel bringt. Das war in Japan und Frankreich so und ist es jetzt auch in Deutschland. Ich sammle gerne Erfahrungen, denn sie sind es, die am Ende einen Menschen ausmachen. Ich suche aber auch immer die Kombination aus Lebenserfahrung und sportlicher Herausforderung. Ich möchte schon auf einem gewissen Niveau arbeiten.
Was hatte es mit Ihrer Kolumne in Ihrer Apeldoorner Heimatzeitung auf sich, die Sie während der Zeit in Japan schrieben?
Bosz: Ich wollte ein bisschen von meinen Erlebnissen erzählen und habe über das Miteinander und Leben in Japan geschrieben. Kaufen Sie zum Beispiel mal eine Kartoffel in Japan. Die ist fast so teuer wie Gold, unglaublich. Ich bin auch meist mit Japanern ausgegangen und nicht etwa mit den anderen ausländischen Spielern, die damals in meiner Mannschaft waren. Das war interessanter für mich und es hat die Zeit überdauert. Ich habe heute noch Kontakte nach und bekomme Besuch aus Japan.
Wie sehr haben Sie Ihre Auslandserfahrungen, 1998 spielten Sie auch noch bei Hansa Rostock, letztlich als Mensch geprägt?
Bosz: Vielleicht auch ein Beispiel dazu: Spieler auf meiner Position habe ich in Holland immer als Konkurrenten angesehen. In Frankreich bekam ich von einem Mitspieler eine Einladung zu sich nach Hause. Der spielte auf meiner Position und trotzdem saßen wir abends da und haben gegessen und Wein getrunken. Als ich zurück in Rotterdam war, gab es einen russischen Spieler im Team. Der hat in der Kabine nie gesprochen. Ich habe mich an Frankreich erinnert und ihn eingeladen. Ein Freund von mir hatte eine russische Frau, die hat übersetzt. Dann hat der Mitspieler gemeint, es gebe noch vier andere Russen in der Eredivisie. Eines Abends saßen wir schließlich alle zusammen und mein Mitspieler hat geredet wie ein Wasserfall. Das sind die Dinge, die man mitnimmt und einem helfen können.
Im Jahr 2000, ein Jahr zuvor hatten Sie Ihre aktive Spielerkarriere beendet, begannen Sie als Trainer und übernahmen Ihren Jugendverein AGOVV Apeldoorn. Es heißt aber, Sie wussten schon mit 16, dass Sie später Trainer werden wollten. Wie kam es dazu?
Bosz: Ich war mit 16 Jahren schon Jugendtrainer und habe versucht, alles, was mir meine Trainer beigebracht hatten, auch meinen Spielern beizubringen. Das hat mir einfach Spaß gemacht. Ich habe versucht, das, was meine Trainer nicht so gut gemacht haben, bei meinen Spielern besser zu machen. Als Spieler war ich zudem nicht groß, nicht schnell, irgendwie nicht so richtig gut. Ich dachte: Wenn ich als Trainer früh anfange, könnte ich vielleicht mehr Erfolg haben und am Ende bei einem Top-Verein landen.
Sie erwarben dann auch schnell an der Sportschule Cios sämtliche Trainerscheine. Mit 18 fehlte Ihnen nur noch die UEFA-Pro-Lizenz.
Bosz: Genau. Die Lizenzen habe ich in drei Jahren über die Sportschule gemacht, auf der ich nach der normalen Schule war. Die Pro-Lizenz folgte 1999. Ich habe auch permanent die interessanten Ansätze meiner Trainer aufgeschrieben. Bei der Nationalmannschaft unter Rinus Michels war es sehr interessant. Da bin ich nach den Sitzungen sofort aufs Hotelzimmer gegangen und habe mir die Sachen aufgeschrieben. An der Sportschule habe ich auch Wiel Coerver getroffen (eine Trainerkoryphäe in Holland, die wegen der fortschrittlichen Trainingsmethoden auch "Albert Einstein des Fußballs" genannt wurde, Anm. d. Red.). Mit ihm habe ich drei Mal pro Tag trainiert und sehr viel gelernt.
Peter Bosz: Seine Trainer-Bilanz in Deutschland
Verein | Spiele | Siege | Unentschieden | Niederlagen |
Bayer Leverkusen | 31 | 16 | 5 | 10 |
Borussia Dortmund | 24 | 8 | 6 | 10 |
Haben Sie das Buch mit Ihren damaligen Notizen noch?
Bosz: Es existiert noch, ja. Ich habe darin aber auch Dinge wieder gestrichen und andere hinzugefügt. Am Ende steht darin die aus meiner Sicht beste Vorgehensweise für meine Philosophie. Das ist das Total-Paket. Wie ich damals aber noch geschrieben habe, quasi noch als Kind: Das ist manchmal schon lustig zu lesen. (lacht) Ich schreibe auch heute noch alles zu unserem Spiel und zum nächsten Gegner in ein Buch - per Hand. Ich mag es, Dinge aufzuschreiben. Dann bleiben sie mir länger im Gedächtnis.
Welcher Trainer nimmt bei diesen Notizen den größten Platz ein?
Bosz: Man kann von jedem etwas lernen. Wichtig ist, dass man sich verbessern will. Ich sage deshalb auch: Wenn ich mich als Trainer nicht mehr entwickle, dann will ich aufhören. Dann ist Schluss.
Was waren das denn für Fehler, die Ihre ehemaligen Trainer machten, wie Sie vorhin angesprochen haben?
Bosz: Dass man zum Beispiel ehrlich sein muss. Ich hatte einen Trainer, der hatte Probleme damit, einem Spieler zu sagen, dass er nicht spielt. Dann hat er ewig herumgesprochen und es war klar, dass das nur Quatsch ist, was er da redet. Spieler wollen ehrlich behandelt werden, auch wenn sie in der Sache vielleicht anderer Meinung sind. Das ist wichtig, das habe ich gelernt.
Ihr ehemaliger Trainer bei Feyenoord, Wim Jansen, gilt als eine Art Lehrmeister von Ihnen. Was war so besonders an ihm?
Bosz: Er war ein Freund von Johan Cruyff und hat mir gerade in diesen kleinen Dingen, die wir besprochen haben, die Augen geöffnet. Bei ihm habe ich sehr viel aufgeschrieben. Mein Coach in Frankreich war dagegen sehr defensiv in seiner Herangehensweise. Von ihm habe ich also viele Dinge für die Defensive notiert. Offensiv dagegen war er katastrophal. (lacht)
Was ist der wichtigste inhaltliche Punkt, der all die Jahre überlebt hat und auch heute noch Gültigkeit für Sie besitzt?
Bosz: Dass Spieler immer in Bewegung sein müssen. Wenn ein Spieler bei Jansens Positionsspiel im Training beim Sechs gegen Zwei gestanden ist, musste er sofort in die Mitte. Man darf nie still stehen! Wenn man zweite Bälle erobern will, muss man immer in Bewegung sein, hat er mir erklärt. Wenn man steht, ist man diese eine Zehntelsekunde zu spät dran. Auch Spieler, die nicht besonders explosiv sind, können so rechtzeitig zur Stelle sein.
Als Sie zwischen 1991 und 1996 bei Feyenoord spielten, sind Sie einmal nach Amsterdam gefahren, um dort heimlich eine Trainingseinheit von Louis van Gaal zu beobachten - von Ihrem Auto auf dem Parkplatz aus. War Ihnen das Risiko nicht zu groß, entdeckt zu werden?
Bosz: Es war auf jeden Fall gefährlich, denn Ajax und Feyenoord sind wie Hund und Katze. Ich habe mich einfach gewundert, wie Van Gaal mit einer jungen Mannschaft, die er neu aufgebaut hatte, so gut Fußball spielen konnte. Ich wollte das unbedingt sehen. Leider konnte ich vom Auto aus nicht hören, was er mit seinen Spielern besprochen hat. Das war schade, weil die Kommunikation gerade bei Van Gaal elementar wichtig ist. Viel habe ich leider nicht in Erfahrung bringen können.
Wenn Sie in all den Jahren so viele Einflüsse hatten und so viel aufgeschrieben haben, wieso wussten Sie dann zu Beginn Ihrer Trainerkarriere noch nicht genau, welcher Typ Trainer Sie sein und für welchen Fußball Sie stehen wollten, wie Sie einmal sagten?
Bosz: Weil Spieler sein und Trainer sein zwei völlig unterschiedliche, komplett andere Berufe sind. Um ein guter Trainer zu sein, benötigt man Erfahrung. Bei meinen ersten Spielen als Trainer war das definitiv nicht so.
Heutzutage bewerten Sie Ihre Spieler nach jedem Spiel mit Noten auf einer Skala von eins bis zehn. Wie gehen Sie da vor, wann genau machen Sie das zum Beispiel?
Bosz: So schnell wie möglich nach dem Spiel, spätestens am Morgen danach. Ich schaue mir das komplette Spiel noch einmal an, das dauert rund vier Stunden. Ich orientiere mich in der Niederschrift an unserer Spielweise und unseren Prinzipien. So habe ich das Live-Spiel, das Relive und damit einen guten Eindruck von jedem einzelnen Spieler. Und dann vergebe ich die Note. Wenn ich mich mit einem Spieler zusammensetze, kann ich so auch immer seinen Saisonverlauf sehen. Das macht es bisweilen leichter, wenn ich einem Spieler erklären muss, dass er im nächsten Spiel nicht spielen wird.
Stimmt es, dass noch kein Spieler die Note zehn bekommen hat?
Bosz: Ja. Das wird wohl auch nicht passieren.
Warum?
Bosz: Weil es das perfekte Spiel nicht gibt. Das hat noch nie ein Spieler geschafft. Auch Spieler, die in einem Spiel vier, fünf Tore schießen, haben Fehler gemacht. Es hätten vielleicht auch sieben oder acht Tore sein können. Ich bin sehr kritisch mit meinen Spielern. Das muss ich auch bleiben, denn nur dann kann ich ihnen am besten helfen.
Was müsste denn ein Spieler für eine Neun in der Bosz-Skala leisten?
Bosz: Man muss sehr gut für die Mannschaft spielen und helfen, unseren Plan umzusetzen. Für eine Neun muss man sehr besonders sein und etwas Außergewöhnliches machen. Dann kann das in diese Richtung gehen, aber eine Neun ist schon sehr schwierig. Seit ich in Leverkusen bin, habe ich noch keine Neun vergeben.
Erinnern Sie sich an den letzten Spieler, der eine Neun bekommen hat?
Bosz: Nein, da müsste ich nachschauen.
Nach dem Spiel am Dienstag in der Champions League bei Atletico Madrid werden Sie wieder Noten vergeben. Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an Atletico denken?
Bosz: Mir gefällt die Gewinnermentalität. Die wollen einfach gewinnen. Seit Diego Simeone da ist, ist die Entwicklung unglaublich. Das ist nicht nur eine Mannschaft, die umschaltet und eine sehr gute Verteidigung hat. Es ist auch eine Mannschaft, die offensiv sehr gut spielen kann und schon seit Jahren hervorragende Angreifer hat.
Wie kann es Ihre Mannschaft schaffen, Atleticos herausragende Defensive auseinanderzuspielen?
Bosz: Wir haben unseren eigenen Ansatz. Wir spielen in der Bundesliga oft gegen sehr tief stehende Mannschaften, das sind wir gewöhnt. Oft erzielen wir auch gute Ergebnisse in diesen Spielen. Gegen Atletico ist das aber eine andere Stufe. Es wird uns sehr viel abverlangt werden, nicht nur in der Offensive. Wir müssen auch unsere Restverteidigung gut organisieren. Ihre Konter sind sehr gut, das erfordert eine hohe Konzentration von uns. Alles was wir machen, müssen wir zu 100 Prozent machen.
Wie wichtig sind Spiele gegen diese großen Mannschaften in der Entwicklung Ihrer doch noch sehr jungen Mannschaft?
Bosz: Sehr wichtig. Das haben wir schon gegen Juventus gemerkt: Wir haben nicht schlecht gespielt, aber am Ende stand es 0:3. Wenn man das Spiel nicht gesehen hat, denkt man: Die hatten keine Chance. Aber das stimmt nicht. Wir benötigen diese Spiele, um uns zu entwickeln. Das ist mit Länderspielen so und auch mit Spielen in der Champions League.
In der Bundesliga steht Bayer sehr gut da, in der Königsklasse wurden beide bisherigen Spiele aber verloren. War die Niederlage am 1. Spieltag im Heimspiel gegen Lokomotive Moskau die bisher größte Enttäuschung für Sie als Leverkusen-Trainer?
Bosz: Ich glaube schon. Wenn man in einer Gruppe mit Juventus und Atletico ist, muss man das erste Spiel zu Hause gegen Moskau gewinnen. Leider haben wir zu viele Fehler gemacht. Wir müssen jetzt also irgendwo die Punkte holen, wo man das vielleicht nicht erwartet.