Nach einem Jahr als Cheftrainer hat Ralf Rangnick bei Bundesliga-Aufsteiger RB Leipzig den Trainingsanzug wieder gegen den feinen Zwirn des Sportdirektors getauscht. Im ersten Teil des Interviews erklärt Rangnick ausführlich seine Spielidee und spricht dabei über das Training mit Kindern, den Unterschied zwischen Ribery und Robben sowie die Gewichtung spielmachender Aspekte. Den zweiten Teil gibt's hier.
SPOX: Herr Rangnick, in den letzten Jahren wurde immer klarer, Fußballvereine bräuchten eine in Stein gemeißelte Philosophie, um kontinuierlich Erfolg haben zu können. Muss das für Sie wirklich zwingend eine Option für alle Klubs sein - oder sind dann ständige Anpassungen nicht programmiert?
Ralf Rangnick: Jede erfolgreiche Firma - und ein Fußballverein im Profibereich ist nichts anderes - sollte eine Corporate Identity haben. Daraus abgeleitet bildet sich ein Corporate Behaviour, das die Zusammenarbeit und den Umgang untereinander sowie die Auswahl von Personal kennzeichnet. Im Fußball war das lange Zeit nicht der Fall. Es gibt bislang europaweit immer noch relativ wenig Vereine, die in dieser Hinsicht eine eigene nachhaltige Identität haben, welche man in Bezug auf Spielstil, Transferpolitik und Nachwuchsarbeit ablesen kann. Ich bin davon überzeugt, dass es ohne diese Identität gar nicht möglich ist, langfristig nachhaltig zu arbeiten.
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SPOX: Geht da aber nicht individuelle Kreativität flöten, wenn alle auf dieselbe Linie gebracht werden sollen?
Rangnick: Überhaupt nicht. Unsere Trainer trainieren mit den Allerjüngsten kindgerecht, sowohl was Umgang und Führung, als auch das Training an sich betrifft. Früher hat man das Fußballspielen auf der Straße gelernt, heute jagen sie dort Pokemons anstatt Bälle.
SPOX: Wie sieht bei RB Leipzig kindgerechtes Training genau aus?
spoxRangnick: Nehmen wir mal an, man hätte eine Gruppe von sieben- bis achtjährigen fußballinteressierten Buben und schmeißt ihnen einen Ball hin. Was passiert dann?
SPOX: Sie rennen dorthin, wo der Ball ist.
Rangnick: Und genau dieses Verhalten wollen wir ihnen innerhalb unserer Spielidee auch zwingend belassen. Wir müssen ihnen nur beibringen, dass sich bei Ballbesitz auch mal der eine oder andere vom Ball weg bewegt, um dann anspielbar zu sein. Vereinfacht gesagt wäre es für meinen Geschmack zu wenig, nach dem Motto 'Learning by doing' lediglich zu sagen: Lasst sie doch einfach mal kicken.
SPOX: Weshalb?
Rangnick: Auch diese Altersgruppen wollen besser werden. Dazu braucht es also einen Trainer, der ihnen auf kindgerechte Art und Weise aufzeigt, wie und in welchen Bereichen sie besser werden können.
SPOX: Es heißt doch aber immer, man solle Erfolg nicht über Entwicklung stellen.
Rangnick: Von dieser These halte ich gar nichts. Sie klingt zwar gut und ganz oberflächlich betrachtet würde ich sogar zustimmen. Wenn sie aber Kinder haben, die irgendetwas zusammen spielen, dann wollen die sich messen und am Ende auch gewinnen. Sie wollen nicht nur deshalb Fuß- oder Federball spielen, damit der Ball einfach nur hin und her fliegt.
SPOX: Sondern?
Rangnick: Es muss auf jeden Fall um irgendetwas gehen. Einfach nur den Ball hin und her zu spielen - das würde auch mich nach wie vor nicht reizen und zufriedenstellen.
SPOX: Heißt: Leipzig als Verein erwartet von seinen Trainern, mit den Kindern Titel zu gewinnen?
Rangnick: Nein, für uns ist das nur ein Nebenprodukt. Der Auftrag für unsere Trainer lautet, ihre Spieler und Mannschaften zu entwickeln und in den für unser Spiel relevanten Dingen besser zu machen. Das ist für mich vollkommen logisch. Zumal mir in Deutschland nur wenige Vereine einfallen, die wie wir von den Achtjährigen bis zur U19 eine einheitliche Spielidee haben. Damit meine ich nicht, dass alle in der gleichen Grundordnung spielen. Das machen sie bei uns auch nicht. Aber man sollte zumindest einmal einen durchgängigen roten Faden haben. Jedes Kind, das in die nächste Jahrgangsstufe kommt, tut sich doch dann ungleich leichter, wenn es schon ungefähr weiß, was auf es zukommt.
SPOX: Vor allem bei den Profis geht die Spielphilosophie von RB Leipzig im ersten Moment davon aus, den Ball nicht zu haben, ihn dann aber möglichst tief in des Gegners Hälfte zu erobern. Inwieweit hat das auch damit zu tun, dass dieser Spielstil mit der Marke Red Bull, die sich ja ebenfalls sehr über Extremsportarten definiert, übereinstimmt?
Rangnick: Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann fällt mir schon auf: Bullen treten selten alleine auf, sondern meistens in einer Herde. Man spricht dann ja auch von einer Stampede. Dieses Herden- oder Schwarmverhalten, wie wir es nennen, ist schon ein elementarer Bestandteil unserer Spielweise. Gedanklich kann man da sicher gewisse Parallelitäten erzeugen, die jedoch nie Teil dessen waren, weshalb wir nun so spielen, wie wir spielen.
SPOX: Wie wichtig ist es für Sie, dass die gesamte Mannschaft dieses Schwarmverhalten ausstrahlt?
Rangnick: Wenn wir Technik trainieren, dann machen wir das nicht durch ständiges Wiederholen des einzelnen Spielers, sondern immer im Team. Auch Dribblings werden mindestens in einer Zwei-gegen-zwei- oder Überzahl-Unterzahl-Situation trainiert, denn alles im Fußball muss in Relation zu Mit- und Gegenspielern, zu Raum und Zeit, gesehen werden. Damit unterscheiden wir uns sehr stark von dem von Wiel Coerver entwickelten holländischen Drill-Training. Es weiß ja inzwischen jeder Lernpsychologe, dass einen stures Wiederholen von ein und demselben Bewegungsablauf nicht wirklich richtig weiterbringt. Im Basketball gab es mal zwei Testgruppen: Die eine hat 5000 Mal von der gleichen Stelle geworfen, die andere 5000 Mal von einer immer leicht veränderten Position. Und jetzt raten Sie mal, welche Gruppe sich nachweislich um 20 bis 30 Prozent verbessert hat? Wir halten vom repetitiven Lernen der immer gleichen Situation eher weniger.
SPOX: Zumal Ihrer Spielidee entsprechend die Tatsache, den Ball erst einmal nicht zu haben, nichts mit defensivem Fußball zu tun hat.
Rangnick: Ähnlich wie Jürgen Klopp in Dortmund und jetzt in Liverpool, teilweise auch bei Pep Guardiola zu Barca-Zeiten, betrachten wir unser Spiel aus der Perspektive: Was passiert, wenn der Gegner den Ball hat? Dieses Verhalten, gerade auch unser Gegenpressing, ist aber kein Abwehr-, sondern ein Angriffsmittel. Wir wissen aufgrund von Untersuchungen der Entwicklungen der letzten Jahre, je weiter vorne, je dynamischer und aggressiver wir den Ball erobern, desto größer wird daraus die resultierende Torchance. Das liegt nicht nur an der Unorganisiertheit des Gegners. Es hängt auch extrem von der Wucht und Dynamik der Balleroberung ab, denn diese Dynamik nimmt man dann ja auch sofort und automatisch in den Gegenangriff mit.
SPOX: Und man ist dann deutlich näher am gegnerischen Tor.
Rangnick: Ja, aber es macht tatsächlich einen Unterschied, wenn man den Ball an derselben Stelle mit weniger Wucht und Dynamik erobern würde. Dann sind nämlich Häufigkeit und Klarheit der Torchance geringer.
SPOX: In Leipzig wird bei der Kaderzusammenstellung auf junge und sehr athletische Spieler Wert gelegt, die schnell regenerieren und weniger verletzungsanfällig sind. Was ist denn mit dem klassischen Feingeist - stirbt der aus oder würde er einfach nicht zum RB-Spielstil passen?
Rangnick: Wenn er für unsere Spielweise trotzdem die richtige Mentalität mitbringt, würde sich das nicht ausschließen. Im Gegenteil: Ein Spieler mit Auge für den tödlichen Pass ist hilfreich und macht natürlich auch den Unterschied aus. Spieler wie Lionel Messi oder Franck Ribery sind deshalb genial, weil sie in ihren Aktionen immer unberechenbar bleiben. Arjen Robben ist eher jemand, der in der Regel das Dribbling sucht. Das macht er großartig, aber er ist dadurch auch leichter auszurechnen. Für unser Spiel ist diese Unberechenbarkeit wichtig. Und daher brauchen wir ein komplexeres Anforderungsprofil.
SPOX: Wie gewichtet man denn in Leipzig spielmachende Aspekte im Training?
Rangnick: Das ist ebenfalls wichtig, denn wir haben ja auch eigenen Ballbesitz. Jürgen Klopp hat vor ein paar Jahren erzählt, dass 80 Prozent seines mannschaftstaktischen Trainings mit dem BVB auf den Ballbesitz des Gegners ausgelegt und für ihn Gegenpressing der perfekte Spielmacher sei. Das ist zum einen natürlich eine enorm hohe Zahl, aber ich kann beide Aussagen zu ganz großen Teilen unterschreiben. Wir hatten in der Vorsaison gegen viele defensive Teams verstärkt den Ball. Und dafür braucht es ebenfalls gewisse Prinzipien, die sich umgekehrt dann wiederum auch positiv auf unser Gegenpressing auswirken.
Lesen Sie ab Mittwoch, 17. August, den zweiten Teil des Interviews mit Ralf Rangnick
RB Leipzig im Steckbrief