Das Leben nach Matip

Nino Duit
18. August 201611:53
Marvin Friedrich (l.) und Thilo Kehrer stehen vor dem Durchbruch auf Schalkegetty
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Wie kein zweiter Verein schafft es Schalke 04, abgewanderte Spieler durch Talente aus der eigenen Nachwuchsabteilung zu ersetzen. Im Sommer wechselt Joel Matip nach Liverpool. Mit Marvin Friedrich und Thilo Kehrer stehen zwei Absolventen der Knappenschmiede bereit. Einst wohnten sie gemeinsam im Internat - jetzt duellieren sie sich um Spielanteile.

Es läuft die 86. Spielminute des Viertelfinals gegen den FC Chelsea. Schalke führt sicher mit 3:1, dem Einzug ins Halbfinale steht nicht mehr viel im Weg und um etwas Zeit von der Uhr zu nehmen, wechseln die Königsblauen noch einmal: Leroy Sane trabt vom Platz, Thilo Kehrer kommt ins Spiel und hilft im Defensivverbund an der Seite von Marvin Friedrich, die Führung ins Ziel zu bringen. Gelingt natürlich.

Im Semifinale wartet der FC Barcelona. All das ist keine Wunschvorstellung, all das ist Realität, passiert am 16. März 2014. Zwar nicht in der Champions League, aber in der UEFA Youth League. Die Protagonisten waren ja auch noch Teenager.

Sane ist mittlerweile längst etabliert in der Schalker Profimannschaft, europaweit umworben sogar. Friedrich und Kehrer sind noch nicht so weit. Das Schalker Defensiv-Duo könnte aber bald sehr wichtig werden. "Sie sind beide sicherlich in der Lage, in der kommenden Saison deutlich mehr Spielanteile zu bekommen", sagt ihr ehemaliger A-Jugendtrainer Norbert Elgert im Gespräch mit SPOX.

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Spätestens seit sich Benedikt Höwedes schwer verletzte und nicht absehbar ist, wie lange Matija Nastasic noch brauchen wird, um nach seinem Achillessehnenriss wieder eine echte Alternative zu sein; spätestens seit Joel Matip seinen ablösefreien Wechsel am Saisonende zum FC Liverpool verkündete und sich Kaan Ayhan in der Winterpause Eintracht Frankfurt anschloss, rückten Friedrich und Kehrer in den Fokus - den der Schalker Verantwortungsträger und auch den medialen.

Als Ende Januar der anvisierte Wechsel von Serdar Tasci scheiterte und in der Kürze keine Alternative zu finden war, sprach Manager Horst Heldt fast trotzig: "Dann setzen wir lieber auf unsere jungen Alternativen."

Kein Zufall

Mit jungen Alternativen hat Schalke schon reichlich gute Erfahrungen gemacht. Von Manuel Neuer über Julian Draxler, Max Meyer, Leroy Sane und Benedikt Höwedes bis hin zu Joel Matip oder Sead Kolasinac. Sie alle entstammen der Knappenschmiede und bekamen früh die Chance, sich in der Profimannschaft zu etablieren. Sie erkämpften sich Stammplätze, überzeugten und empfahlen sich so für andere, betuchtere Vereine.

Manche folgten den Lockrufen, andere bekannten sich zu Schalke und wieder andere werden wohl früher oder später weiterziehen. Dieses Prozedere ist fast schon Tradition in Gelsenkirchen. Tradition ist es aber auch, dass die frei gewordenen Stellen nicht immer mit teuren Neuzugängen, sondern oft mit Absolventen der Jugendabteilung nachbesetzt werden.

"Wenn uns Spieler verlassen, dann versuchen wir immer, die entstandenen Lücken mit Spielern aus den eigenen Reihen zu schließen. Das ist uns in den vergangenen zehn Jahren herausragend gelungen", sagt Elgert, "dass jetzt zwei junge Verteidiger bereit stehen, ist definitiv nicht nur eine glückliche Fügung, kein Zufall - es müssen aber natürlich immer auch mehrere Faktoren zusammenkommen."

Gemeinsam im Internat

Die beiden jungen Verteidiger, das sind eben Marvin Friedrich und Thilo Kehrer. Friedrich ist 20 Jahre alt und kam 2011 vom SC Paderborn in die Schalker B-Jugend, ein Jahr später folgte der heute 19-jährige Kehrer. Von der Stuttgarter Jugendabteilung zog es ihn nach Gelsenkirchen. Gemeinsam wohnten sie im Schalker Internat und schlossen Freundschaft. "Wir haben auch in der Freizeit viel miteinander gemacht", sagt Kehrer.

Auch auf dem Platz klappte das Zusammenspiel. Seite an Seite stieß das Duo in der Saison 2013/14 mit der Schalker A-Jugend bis ins Bundesliga-Halbfinale vor, scheiterte dort aber an der TSG Hoffenheim. Während Friedrich dann in die Regionalligamannschaft aufstieg, verbrachte Kehrer noch ein Jahr in der A-Jugend. Und nahm Revanche. Am Saisonende stand nämlich der Bundesliga-Titel, 3:1 wurde Hoffenheim im Finale bezwungen.

Als Kapitän nahm Kehrer den Pokal entgegen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Friedrich schon erste Erfahrungen in der Bundesliga gesammelt; fünf Mal kam er in der vergangenen Saison für die Schalker Profimannschaft zum Einsatz, Spielpraxis sammelte er aber auch in der Reserve.

Turbulente Transferphase

Parallelen haben die Karrieren von Friedrich und Kehrer zuhauf. Eine ist ein turbulentes Transferfenster im Sommer 2015. Bei Friedrich beschränkte sich der Trubel auf wenige Stunden. Am letzten Tag der Transferphase ließ der Hamburger SV eine schon fix vereinbarte Ausleihe kurz vor Toreschluss platzen. Eine "Frechheit" nannte das Heldt. Friedrich sagte zuvor anderen interessierten Vereinen ab - und musste ob des Hamburger Rückziehers dann doch bleiben. Die Hoffnung auf mehr Spielanteile war erst einmal dahin. Unverschuldet und kurz war also die Posse um Friedrich, eigenverschuldet und wochenlang jene um Kehrer.

Inter Mailand verdrehte ihm den Kopf. Spielpraxis und seine persönliche Entwicklung standen dabei wohl weniger im Zentrum der Überlegungen als Gehaltszahlen und der klingende Name des italienischen Traditionsvereins. Trotz eines laufenden Vertrages bis Sommer 2016 bei Schalke wollte Kehrer einen Wechsel erzwingen. Vier Wochen fehlte er unentschuldigt beim Training - ehe er Mitte August reumütig zurückkehrte. "Der Spieler ist auf die schiefe Bahn geraten", sagte Heldt und sprach gleichzeitig ein Hausverbot für dessen Berateragentur aus.

Auch sein ehemaliger Jugendtrainer Norbert Elgert verteidigt Kehrer gegenüber SPOX: "Ich kann nur sagen, dass Thilo ein einwandfreier Charakter ist." Kehrer wurde jedenfalls verziehen und in die Regionalligamannschaft eingegliedert, wo er erneut auf Friedrich traf.

Im defensiven Mittelfeld etablierte sich Kehrer bald als Stammspieler; eine Reihe weiter hinten agierte Friedrich in der Innenverteidigung. Das Duo überzeugte und zog so auch das Interesse von U20-Nationaltrainer Frank Wormuth auf sich. Beim Länderspieltermin im vergangenen Oktober wurden Friedrich und Kehrer nach Einsätzen für jüngere Auswahlteams erstmals für die U20 nominiert. Speziell Kehrer fiel positiv auf. "Er zeigt, dass er eine Mannschaft führen will", sagt Wormuth.

Friedrich kann sich in diesem Bereich noch steigern. Er solle auf dem Platz noch mehr coachen, sagt Elgert. Kein Lautsprecher zu sein, muss laut dem Schalker A-Jugendtrainer aber kein Nachteil sein: "Joel Matip ist ja auch ein introvertierter Charakter."

Die Tür ist offen, der Weg ausgetreten

Gemeinsam haben Friedrich und Kehrer ihre enorme Flexibilität im Defensivbereich. Friedrichs Stärken kommen zwar am besten in der Innenverteidigung zur Geltung, er kann aber auch links und rechts außen verteidigen. Kehrer ist in der Zentrale, dem defensiven Mittelfeld und der Innenverteidigung also, beheimatet. "Thilo ist technisch sehr stark und beidfüßig", sagt Elgert, der außerdem den Spielaufbau und den Kopfball des 19-Jährigen lobt.

Auch Friedrich besticht durch ein starkes Kopfballspiel. Seine Stärken beschränken sich aber nicht nur auf den Luftraum über dem grünen Rasen. "Marvin ist schnell und liest das Spiel gut", sagt Elgert, "aber er hat im defensiven Zweikampfverhalten noch Luft nach oben." An großen Vorbildern mangelt es Friedrich nicht. Die Spielweisen von Jerome Boateng und Sergio Ramos studiert er nach eigener Auskunft genau. SPOX

Boateng und Ramos gehört die Gegenwart, Friedrich und Kehrer vielleicht die Zukunft. Dafür muss das Duo zur Stelle sein, wenn es gebraucht wird. In der Rückrunde war das bisher je einmal der Fall. Gegen Darmstadt wurde Friedrich spät eingewechselt; eine Runde später kam Kehrer gegen Wolfsburg ins Spiel. Zeit sich zu empfehlen, blieb bei den Kurzeinsätzen nicht. Die Chancen werden aber kommen.

Bei Schalke vertraut man auf das junge Duo. "Es entspricht unserer Philosophie, junge Spieler aus den eigenen Reihen im Profibereich an den Klub zu binden, wenn sie über das nötige Talent verfügen", sagte Heldt einmal.

Im Juni verlängerte der Verein mit Friedrich bis 2018, im Januar mit Kehrer bis 2019 - und verlieh ihnen so die imaginäre Talent-Bestätigung. Die Türe von der Knappenschmiede in die Schalker Viererkette ist offen, der Weg hindurch von Benedikt Höwedes, Joel Matip und Sead Kolasinac bereits ausgetreten. Es liegt an Friedrich und Kehrer hindurchzuschreiten.

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