Sergio Ramos schickt sich auf seine vermeintlich alten Tage noch einmal an, Real Madrid zum spanischen Meister zu schießen. Eine Genugtuung für den 34 Jahre alten Kapitän, hätte er im vergangenen Sommer seiner Karriere doch beinahe eine kaum zu begreifende Wendung gegeben.
Los Vikingos. Die Wikinger. Warum sie in Spanien etwa seit den 1970er-Jahren die Spieler von Real Madrid so nennen, ist nicht so recht überliefert.
Die einen Theoretiker stürzen sich auf die damalige Transferpolitik des Vereins. Zu jener Zeit fanden einige Spieler aus nördlicheren, kälteren Gefilden wie der Däne Henning Jensen den Weg nach Madrid, aber auch die zumindest von ihrer Art her eher nordisch angehauchten Deutschen Paul Breitner, Günter Netzer und Uli Stielike.
Die anderen Theoretiker verweisen auf einen Artikel der englischen Zeitung The Times aus den 1960ern, in dem die im Europapokal so erfolgreiche Real-Mannschaft als "Haufen skrupelloser Wikinger" bezeichnet wurde, weil sie so maschinenartig Erfolg um Erfolg landete.
Sergio Ramos erzielte nach der Coronapause mehr Tore als Lionel Messi
Woher auch immer die Assoziation eines südländischen Nobelklubs mit mordlustigen Barbaren aus dem Norden nun stammen mag, Sergio Ramos scheint sie dieser Tage recht wörtlich auf sich selbst zu beziehen. Der Kapitän der Madrilenen nutzte die Corona-Pause, um seinen ohnehin schon muskelgestählten Körper noch mal ein Stückchen mehr aufzupumpen und sich dazu auch noch einen Vollbart wachsen zu lassen, auf den jeder Wikinger stolz gewesen wäre.
Ramos, als Andalusier eigentlich Südländer schlechthin, repräsentiert seit dem Re-Start auch die Mentalität eines kampfstarken Kriegers. Die Mentalität, die ihn in der Vergangenheit bereits mehrfach ausgezeichnet hatte, nach den drei Champions-League-Siegen in Folge aber ein wenig eingeschlafen war.
"Mehr Kapitän denn je" sei Ramos aktuell, schreibt die in Madrid ansässige Sportzeitung Marca. Er gehe jedem, der es nicht gerade mit Real hält, "gehörig auf den Senkel", meint El Pais und bezieht sich damit nicht nur auf die sich oft am Rande des Erlaubten kratzende Zweikampfführung des Abwehr-Routiniers. Ramos vermag auch im Spiel mit dem Ball alles zu gelingen. Nach der Coronapause erzielte er mit fünf Toren mehr als jeder andere Spieler in der spanischen Liga. Ja, mehr als Lionel Messi, mehr als Luis Suarez und mehr als Karim Benzema.
Sergio Ramos bei Real Madrid: "Schwierig, einen präsenteren Spieler zu finden"
In allen Wettbewerben steht er mittlerweile bei zwölf Saisontreffern, was einem persönlichen Rekord in seinen 17 Jahren als Profi gleichkommt. Beeindruckend ist dabei vor allem seine Sicherheit vom Elfmeterpunkt aus. Seit der Wiederaufnahme des Spielbetriebs verwandelte er drei von drei Strafstößen, es waren seine Elfmetertreffer 20, 21 und 22 in Serie. "Ich glaube, ich bin der geeignete Mann dafür", sagte Ramos augenzwinkernd, nachdem er auch beim späten 1:0-Sieg gegen Athletic Bilbao am vergangenen Sonntag die Nerven behalten hatte.
"Es ist schwierig, auf diesem Niveau einen präsenteren Spieler als Sergio zu finden", meinte danach Jorge Valdano, einstmals Spieler, Trainer und Funktionär bei den Königlichen. "Wenn man sieht, wie er an sich arbeitet, ist das nicht überraschend." An eine derartige Renaissance hätten wohl aber auch seine größten Fürsprecher kaum geglaubt. Vor einem Jahr noch kokettierte Ramos mit einem Abschied aus Madrid. Er sei ausgelaugt und müde ob der Kritik, die nach der titellosen Spielzeit 2018/19 mit dem überraschenden Achtelfinal-Aus in der Champions League gegen Überraschungsteam Ajax vonseiten der Presse auf ihn eingeprasselt war.
Also stattete er im Beisein seines Bruders und Beraters Rene dem Real-Präsidenten Florentino Perez einen spontanen Besuch ab, um ihn mit einer lukrativen Offerte aus China zu konfrontieren. Ramos meinte es gut unterrichteten Quellen zufolge ernst, selbst seriöse Medien berichteten bereits von einem "unvermeidlichen Abschied" der Vereinsikone. Perez, der Ramos als Teenager im Sommer 2005 für fast 30 Millionen Euro vom FC Sevilla verpflichtet hatte, stimmte seinen Liebling aber im letzten Moment noch um. "Ich wollte nie, dass Sergio geht. Wir brauchen ihn hier", sagte Perez. Die Fans waren dennoch enttäuscht. Erst glaubten sie, Ramos wollte sie sitzen lassen, dann waren sie der Ansicht, er wollte bei der Sache eine Gehaltserhöhung herausschlagen.
Sergio Ramos: Sie nannten ihn Raffzahn
Selbst eine von Ramos spontan einberufene Pressekonferenz nützte nichts mehr. Sein Image war ramponiert. "Pesetero" nannten sie ihn fortan, einen Raffzahn, der sich nicht mehr das weiße Trikot schmutzig machen und am liebsten ein paar Millionen auf die leichte Schulter kassieren wolle. Im Zuge dessen war seine fast zeitgleich veröffentliche Amazon-Dokumentation "El corazon de Sergio Ramos" (Auf Deutsch: Das Herz von Sergio Ramos), in der durchaus mehr als nur ein kleiner Hauch Selbstinszenierung steckte, gefundenes Fressen für seine Kritiker. Nicht wenige behaupteten, er stelle sich selbst über den Verein und sei arroganter als der 2018 zu Juventus transferierte Superstar Cristiano Ronaldo es jemals war. Ramos wies diese Vorwürfe zurück. Real sei sein "Zuhause".
Das Drehbuch eines abgekämpften Altstars, der sich wie schon Torwart-Ikone Iker Casillas leise durch die Hintertür verabschiede, es war eigentlich schon geschrieben. Ramos schrieb es auf dem Rasen um. Er wollte das Denkmal, das er sich mühsam und mit bedeutenden Toren in bedeutenden Spielen wie dem Champions-League-Finale 2014 erarbeitet hatte, nicht in Schutt und Asche legen. Er wollte die Rolle des madrilenischen Paolo Maldini, der Legende, des Wikingers. Er bekam sie. Und belohnte sich, aber nicht nur sich selbst. Real steht vor Meisterschaft Nummer 34, beim Spiel gegen Deportivo Alaves am Freitag (im Liveticker und auf DAZN) kann Real den Vorsprung auf Barcelona drei Spieltage vor Schluss auf vier Punkte ausbauen. Ramos hat einen maßgeblichen, vielleicht sogar den maßgeblichsten Anteil am Aufschwung. Dass die Mannschaft von Zinedine Zidane nur 21 Gegentore in 34 Spielen kassiert hat, ist auch Ramos' Verdienst.
In Madrid schwärmen sie schon wieder von ihm. Und hoffen, dass er bleibt. Ein Wechsel nach China ist mittlerweile jedenfalls "kein Thema" mehr, wie Bruder Rene schon vor der Corona-Pandemie ausrichten ließ. Real, so heißt es, möchte den bis 2021 laufenden Vertrag von Ramos noch einmal verlängern. In dieser furchterregenden Form dürfte auch in den nächsten Jahren kein anderer Spieler seinen Platz als Abwehrchef einnehmen. Trainer Zidane, mit dem Ramos noch selbst im Estadio Santiago Bernabeu auf dem Rasen stand, sagt: "Sergio ist unser Anführer. Er muss seine Karriere hier beenden. Das sage ich jetzt, das werde ich immer sagen."