Die Iniesta-Täuschung und der andere Xavi

Daniel Börlein
05. Juni 201211:23
Topfavorit auf den EM-Titel: Spanien mit Trainer Del Bosque und dem genialen Duo Iniesta und XaviGetty
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Die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine ist 2012 das große Fußball-Highlight. SPOX befasst sich im Vorfeld der Endrunde intensiv mit den Teilnehmern und liefert zu den Top-Nationen eine umfassende Analyse. In Teil fünf der Serie steht Spanien im Fokus. Die Iberer setzen auf den Weg durchs Zentrum. Dafür gibt's die Iniesta-Täuschung und den anderen Xavi.

Vor vier Jahren sah die Welt den spanischen Fußball noch mit völlig anderen Augen. Die Iberer galten als talentierte Fußball-Nation, die im Vereinsfußball zwar regelmäßig für Furore sorgt, mit der Nationalmannschaft bei Turnieren allerdings auch stets vorzeitig die Heimreise antritt.

Inzwischen hat sich das grundlegend geändert. 2008 holte La Roja in Österreich und der Schweiz den EM-Titel und wurde zwei Jahre später in Südafrika Weltmeister. Spanien ist längst auch mit der Nationalmannschaft das Maß der Dinge und könnte bei der anstehenden Endrunde als erstes Land überhaupt den EM-Titel verteidigen.

Im Vorfeld lief beim Team von Coach Vicente del Bosque allerdings längst nicht alles nach Wunsch. Aufgrund des Pokalendspiels am 25. Mai stießen die Nationalspieler aus Barcelona und Bilbao erst sehr spät zum Team.

In den beiden Testspielen gegen Serbien (2:0) und Südkorea (4:1) musste del Bosque deshalb auf zahlreiche Schlüsselspieler verzichten. Erst beim 1:0 gegen China waren die Barca-Stars dabei. Zudem sagte Carles Puyol wegen einer Verletzung frühzeitig für die EM ab. Auch David Villa wird nicht rechtzeitig fit. Beide waren bei den Spaniern fest für die erste Elf eingeplant.

Trotzdem kann del Bosque aus einem Pool an Weltklasse-Akteuren schöpfen. So wird ein Top-Mann wie Cesc Fabregas im Normalfall zunächst wohl ebenso auf die Bank müssen, wie Mata von Champions-League-Sieger Chelsea. Auch im Sturm ist nur Platz für einen aus dem Trio Fernando Torres/Fernando Llorente/Alvaro Negredo.

Spanische Grundsätze I

Die spanische Grundordnung sieht nur einen echten Angreifer vor. Der wird in der Regel von zwei Flügelspielern flankiert. Auf dem Papier agiert Spanien in einer Mischung aus 4-2-3-1 und 4-3-3. In der Praxis ist davon allerdings nur selten etwas zu sehen. Denn: Spaniens Spiel ist extrem zentrumsfokussiert und wird von ständigen Rochaden geprägt. Gerade im offensiven Bereich verharrt kein Akteur längere Zeit auf der gleichen Spielfeldposition.

Die Außenbahnen werden in der Regel nur von den Außenverteidigern konsequent besetzt. Die offensiven Flügelspieler hingegen rücken früh ein, agieren meist im Halbfeld und kreiseln durchs Mittelfeld. Zu den beiden Sechsern (im Normalfall Busquets und Xabi Alonso) gesellen sich dadurch zentral davor nochmal drei potenzielle Anspielstationen, die so Überzahl erzeugen und schwer zu kontrollieren sind.

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Der Grund für diese Fokussierung auf das Spiel durch die Mitte ist denkbar einfach: Der Weg durchs Zentrum ist der kürzeste Weg zum Tor und bietet gleichzeitig die meisten Optionen für einen Angriff. Weil Spanien im Gegensatz zu vielen Konkurrenten die fußballerischen Qualitäten hat, sich auf dem unglaublich engen Raum im Zentrum zu behaupten, zelebrieren die Iberer diesen Stil wie keine andere Nation. SPOX

Die beiden Sechser sind eher defensivorientiert und suchen selten den Weg in die Offensive. In der Regel sind sie der erste Passempfänger für den Ball aus der Abwehr, der nahezu ausschließlich von einem Innenverteidiger (Außenverteidiger rücken bei Ballbesitz sofort nach vorne) kommt.

Während Busquets das Zentrum nur selten verlässt, schiebt Xabi Alonso auch mal ein paar Meter nach außen und macht dadurch Platz im Zentrum für einen offensiven Mittelfeldspieler, der in den Raum rochieren kann. Oder er schiebt ein paar Meter nach vorne und wird so eine weitere Option (die vierte) fürs Kurzpassspiel durchs Zentrum.

Denn grundsätzlich gilt: Durch kurze Flachpässe, ständige Positionswechsel und hohe Ballbesitzzeiten versucht sich Spanien Meter für Meter nach vorne zu arbeiten, bis der finale Pass samt Torabschluss möglich ist.

Teil 2: Spanische Grundsätze II

Teil 3: Die Iniesta-Täuschung

Teil 4: Der andere Xavi

Spanische Grundsätze II

Drei Positionen sind am fluiden Offensivspiel und den schier endlosen Ballstafetten scheinbar unwesentlich beteiligt: Die beiden Außenverteidiger sowie der Mittelstürmer. Während David Villa noch ein spielender Mittelstürmer war, der sich gerne aus dem Sturmzentrum weg bewegte und auf die Flügel auswich, verkörpern Llorente und Torres eher den Typ Brecher, der sich bevorzugt in der Angriffsmitte aufhält.

Am Kombinationsspiel nehmen beide eher selten teil. Ihre Aufgabe ist es, die gegnerischen Innenverteidiger zu binden, bisweilen als Wandspieler zu agieren, wieder in die Tiefe zu gehen und Lücken zum Einlaufen reißen.

Die beiden Außenverteidiger laufen in der Spieleröffnung stets frühzeitig an und schieben auf eine Höhe mit den beiden Sechsern, werden also zu Mittelfeldspielern. Konsequentes Flügelspiel (hinterlaufen, durchstoßen bis zur Grundlinie etc.) findet im spanischen Spiel allerdings nur selten statt.

Eher geht es darum, auf dem Flügel eine zusätzliche Anspielstation für den einfachen Pass zu haben, das Feld durch deren Positionierung trotz der Fixierung aufs Zentrum breit zu halten und die gegnerischen Außenbahnspieler ausreichend zu binden, um in der Mitte Überzahl zu erlangen.

Für das Spiel bei gegnerischem Ballbesitz sind die Außenverteidiger allerdings elementar, um die defensive Balance nicht zu verlieren. Denn während die beiden Sechser und alle davor postierten Akteure nach Ballverlust sofort zum Gegenpressing übergehen und dementsprechend gegen den Ball schieben, orientieren sich die Außenverteidiger nach hinten und stellen Kontakt zu den beiden Innenverteidigern her. SPOX

Die Viererkette stellt bei gegnerischem Ballbesitz einen Abstand her, der größer ist als gewöhnlich, um sich ein wenig Puffer zu verschaffen für den Fall, dass das Gegenpressing nicht von Erfolg gekrönt ist und der Gegner das spanische Mittelfeld überbrücken konnte.

Grundsätzlich gilt für Spanien bei gegnerischem Ballbesitz: Der Gegner wird vom ballnahen Spieler sofort mit Tempo unter Druck gesetzt. Der Rest des Teams (die Viererkette mit Abstrichen) schiebt schnell hinterher und gönnt dem Gegner keine Ruhepausen mit dem Ball.

Der Aufwand dieses Vorgehens ist zwar relativ hoch, die Wahrscheinlichkeit eines Ballgewinnes aber auch, weil der Gegner (weit weg vom spanischen Tor) gezwungen wird, unkontrolliert und zum Teil risikoreich zu handeln.

Teil 1: Spanische Grundsätze I

Teil 3: Die Iniesta-Täuschung

Teil 4: Der andere Xavi

Die Iniesta-Täuschung

Auf Andres Iniesta war Pep Guardiola schon sehr früh aufmerksam geworden. Als sich seine aktive Karriere dem Ende entgegen neigte und er den jungen Iniesta bei ein paar Jugendspielen beobachtet hatte, nahm Guardiola Mitspieler Xavi - damals selbst gerade erst frisch bei den Profis dabei - zur Seite und sagte: "Schau dir diesen Jungen an. Du wirst mich mal in den Ruhestand schicken. Aber Iniesta wird alle in Rente schicken."

Seitdem ist viel passiert. Guardiola gewann als Trainer mit dem FC Barcelona 14 Titel und machte aus den Katalanen die beste Vereinsmannschaft der Welt. Maßgeblich daran beteiligt: Xavi und Iniesta - Hirn und Herz von Barca.

Während sich Xavis Karriere mit 32 Jahren zumindest langsam dem Ende entgegen neigt, ist der seit kurzem 28-jährige Iniesta noch im vermeintlich besten Fußballeralter.

Für Spaniens Nationalmannschaft ist er unverzichtbar. Im WM-Finale vor zwei Jahren war er es, der mit seinem Treffer den ersten Weltmeister-Titel nach Spanien holte. Und auch bei der EM könnte er wieder den Unterschied ausmachen.

In der Grundordnung von del Bosque wird Iniesta seinen Platz aller Voraussicht nach auf dem linken Flügel haben. Doch wer sich darauf einstellt, den Barca-Star dort zu empfangen, der wird eine Überraschung überleben.

Denn: Auf Linksaußen taucht Iniesta nur ganz selten auf. Lediglich um sich ein bisschen Platz zu verschaffen und der direkten Bedrängnis zu entziehen, orientiert er sich mal auf den linken Flügel. Ansonsten ist er mittendrin und überall.

Iniesta rückt früh ins Halbfeld ein und ist häufig die erste Anspielstation der beiden Sechser. Teilweise lässt er sich sogar hinter die beiden defensiven Mittelfeldspieler zurückfallen und bekommt den Ball von einem Innenverteidiger zugepasst. SPOX

Das Besonderes an Iniesta: Dank seiner außergewöhnlichen Ballannahme (nach Möglichkeit mit dem vom Gegner entfernten Fuß) verliert er selbst in Bedrängnis kaum einen Ball und ist gleichzeitig in der Lage, schon mit dem ersten Ballkontakt einen Impuls zu geben. Und sobald der Ball seinen Fuß verlassen hat, bewegt er sich dorthin, wo der nächstmögliche logische Pass ihn wieder erreichen kann.

So taucht Iniesta während einer Partie im Offensivbereich fast überall mal auf und ist keineswegs auf den linken Flügel festgelegt. Für den Gegner ist er so kaum zu greifen, weil er sich andauernd zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen und Verteidigungslinien bewegt.

Teil 1: Spanische Grundsätze I

Teil 2: Spanische Grundsätze II

Teil 4: Der andere Xavi

Der andere Xavi

Es ist kein Geheimnis, dass der Erfolg der spanischen Nationalmannschaft eng mit dem FC Barcelona zusammenhängt. Del Bosques Team hat viel vom Fußball Barcas adaptiert. Selbst die Spieler von Real oder anderen Klubs spielen in der Nationalmannschaft ein bisschen wie Barca.

Xavi allerdings spielt in der Nationalmannschaft eine andere Rolle als in seinem Klub. Während der 32-Jährige bei Barca meist den Spielmacher vor der Abwehr gibt über den jeder Angriff läuft, agiert er im Nationalteam etwas offensiver - auf dem Papier als Zehner.

Der Grund: Mit Busquets und Xabi Alonso stehen del Bosque zwei Weltklasse-Mann zur Verfügung, die in der Defensive für die nötige Stabilität sorgen sollen, gleichzeitig aber auch die Klasse haben, das Spiel zu gestalten. Xavi "muss" deshalb eine Position nach vorne rutschen.

Ein klassischer offensiver Mittelfeldspieler ist er aber freilich nicht. Dazu gehen ihm Dynamik und die Fähigkeit, mit Tempo in die Tiefe zu gehen, ab. Und so ist Xavi bisweilen, obwohl eigentlich als zentrale Figur vorgesehen, der Mittelfeldspieler, der am wenigsten aktiv am Offensivgeschehen beteiligt ist.

Iniesta holt sich weitaus mehr Bälle tief ab und wird gezielter gesucht, auch David Silva rückt von Rechtsaußen häufig ein und ist dadurch öfter Anspielstation als Xavi. Der ist dann manchmal erst die dritte oder vierte Option auf dem Weg zum Tor - oder gelegentlich sogar gar nicht beteiligt.

Anders als bei Barca geht es für Xavi in der spanischen Nationalmannschaft bei eigenem Ballbesitz viel mehr darum, im Spiel ohne Ball Akzente zu setzen und sich mit klugen Laufwegen erst selbst ins Spiel zu bringen oder Räume für seine Teamkollegen zu öffnen.

Für den Erfolg des Teams muss Xavi quasi seine eigenen Qualitäten etwas in den Hintergrund stellen. Ideal, das weiß del Bosque auch, ist das natürlich nicht. Doch Spaniens Coach erscheint dies wohl trotzdem die bestmögliche Lösung, um die höchstmögliche Qualität auf den Platz zu bringen.

Die Alternative zu Xavi als Zehner hieße, ihn eine Position zurückzuziehen. Dann allerdings müsste del Bosque entweder Busquets oder Xabi Alonso auf die Bank verbannen.

Teil 1: Spanische Grundsätze I

Teil 2: Spanische Grundsätze II

Teil 3: Die Iniesta-Täuschung