Stefan Böger fungiert seit Ende 2017 als Jugend-Cheftrainer beim chinesischen Erstligisten Guangzhou Evergrande - zuvor arbeitete er jahrelang im Nachwuchsbereich des DFB, wo er unter anderem den heutigen Spielern des FC Bayern München Niklas Süle, Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Serge Gnabry zu ihren Nationalmannschaftsdebüts verhalf.
Im Interview mit SPOX und Goal spricht Böger über seine Arbeit in China - über Erfahrungen, Probleme und Pläne. Außerdem erinnert er sich an seine Zeit mit dem heutigen FCB-Quartett.
Herr Böger, Sie sind seit eineinhalb Jahren Jugend-Cheftrainer des chinesischen Erstligisten Guangzhou Evergrande. Wie sind Sie zu diesem Job gekommen?
Stefan Böger: In der Vergangenheit hatte ich bereits einige Male Kontakt zum chinesischen Fußball, unter anderem auch zum chinesischen Verband CFA. Letztendlich kam Evergrande über einen Vermittler auf mich zu. Nach intensiven Gesprächen habe ich dort zugesagt.
Was sind Ihre alltäglichen Aufgaben?
Böger: Die unterscheiden sich inhaltlich nicht großartig von denen eines Jugend-Cheftrainers in Deutschland. Nachdem wir im letzten Jahr mit unserer U19 den chinesischen Meistertitel errangen, bin ich aktuell weiterhin gesamtverantwortlich für die Mannschaft - nun als U20. Ich erstelle Trainingspläne, koordiniere die Einheiten und bilde die chinesischen Trainer im Verein fort. Hinzu kommt ein reger Austausch mit unseren vielen spanischen Nachwuchstrainern und von Zeit zu Zeit auch mit dem Cheftrainer unserer Profimannschaft Fabio Cannavaro.
Evergrande unterhält lediglich Nachwuchsteams ab der U17. Wie sieht der Unterbau aus?
Böger: Wir kooperieren als Klub mit der Evergrande-Akademie. Sie ist in Sachen Infrastruktur mit 50 Fußballplätzen und knapp 2000 aktiven Spielern weltweit die größte ihrer Art. Ausgebildet werden die Jungs dort von spanischen und chinesischen Lehrern und Trainern. Unsere Vereinstrainer und Scouts beobachten die Fortschritte und verpflichten die größten Talente für unsere U17.
Wie steht es um das Niveau der chinesischen Trainer?
Böger: Die CFA unternimmt derzeit große Anstrengungen, die Trainerausbildung zu optimieren. Dafür gibt es verschiedene Austauschprogramme zwischen der CFA und europäischen Verbänden wie dem DFB. Generell verpflichten chinesische Vereine ausländische Trainer nicht nur, um ihre Spieler zu entwickeln, sondern auch ihre Trainer besser zu machen. Dieser Prozess ist in vollem Gange, aber irgendwann sollten die einheimischen Trainer ihre Geschicke selbst leiten können.
Fühlen sich die aktuellen chinesischen Trainer von den ausländischen Trainern zurückgedrängt?
Böger: Das denke ich nicht. Ich jedenfalls fühle mich willkommen und beobachte, dass die hiesigen Trainer wissbegierig und lernwillig sind.
gettyZurück zur Evergrande-Akademie. Welche Rolle spielt dort die schulische Ausbildung der Kinder und Jugendlichen?
Böger: Eine sehr große. Die Tage sind für die Schüler gut verplant, ihr Pensum ist ziemlich hoch. Schule und Training im Wechsel verlangen ihnen einiges ab. Schließlich sollen die jungen Menschen auf das Leben vorbereitet werden. Möglichst soll ihr Weg zur Universität führen. Im Idealfall wollen sie aber natürlich auch Karriere im Fußball machen. Das ist alles andere als einfach und da muss ich als Trainer Kompromisse eingehen, bei schulischen Terminen oder Uni-Prüfungen fällt für die Betroffenen etwa auch mal eine Trainingseinheit aus. Ein Abschluss an der Evergrande-Akademie öffnet später aber so manche Tür im Berufsleben.
In der ersten chinesischen Liga spielen europäische und südamerikanische Stars. Hilft das dem chinesischen Fußball?
Böger: Im Moment braucht der chinesische Fußball noch Unterstützung von außen. Diese bekommen die Vereine von ausländischen Spielern und Trainern. Wir geben ihnen eine Orientierung, helfen beim Aufbau von Strukturen im Training, Wettkampf oder in der Organisation. Das ist ein guter Ansatz, sollte aber kein Dauerzustand bleiben.
Welchen Stellenwert hat der Fußball in China?
Böger: Die Sportart boomt, die Liga ist in der Öffentlichkeit und in den Medien sehr präsent. Im nächsten Schritt geht es um Nachhaltigkeit und internationale Erfolge. Das Aushängeschild eines jeden Landes, die Nationalmannschaft, will sich für eine Weltmeisterschaft qualifizieren und dort auch bestehen. Aktuell sind aber zum Beispiel Japan und Südkorea noch voraus. Diese Rückstände sollen sukzessive aufgeholt werden.
Staatspräsident Xi Jiping wirbt für eine Ausrichtung der WM 2030. Am besten soll dann auch gleich der Titel her.
Böger: Elf Jahre hören sich einerseits viel an, sind in der Fußball-Entwicklung allerdings eine sehr kurze Zeit. Ehe Strategien greifen und nachhaltige Erfolge Bestätigung bringen, braucht es schlichtweg Geduld. Auch in Deutschland hat es seinerzeit bekanntlich Jahre gebraucht, ehe wir nach einer Durststrecke wieder in die Weltspitze vordringen konnten.
Nach eineinhalb Jahren in China. Was hat Sie am dortigen Fußball am meisten überrascht?
Böger: Zunächst war es richtig, unvoreingenommen an diese Herausforderung heranzugehen. So konnte ich nicht überrascht werden, wie immens viel Arbeit gerade in puncto Technik und Taktik an der Basis noch zu leisten ist. Eine viel größere Bedeutung als in Europa kommt den klimatischen Bedingungen und ihren Folgen zu. Ob Regenzeit mit Starkregen und Gewittern oder den Hitzeperioden mit enormer Luftfeuchtigkeit - all diese Erscheinungen haben unmittelbaren Einfluss auf das tägliche Training und die Spiele. Kurz und intensiv sind dann die Einheiten zu organisieren, ein Plan B sollte immer in der Tasche sein.
Themenwechsel: Sie waren deutscher U16-Nationaltrainer, als Niklas Süle, Leon Goretzka und Serge Gnabry am 15. Oktober 2010 bei einem Testspiel gegen Nordirland Ihre Debüts im DFB-Trikot feierten. Wie sind Sie auf die drei aufmerksam geworden?
Böger: Im Rahmen des DFB-Sichtungssystems wurden die Spieler bereits von meinem damaligen Kollegen Frank Engel in der U15 gesehen und in Lehrgängen getestet. Als verantwortlicher U16-Trainer bekam ich beim zentralen Sichtungsturnier in der Sportschule Duisburg-Wedau einen ersten umfassenden Überblick über diesen Jahrgang. 21 Landesverbände mit je 16 Talenten spielten ein mehrtägiges Turnier. Gemeinsam mit meinen DFB-Trainerkollegen sowie den Verbandssportlehrern wurden die Burschen bewertet und in verschiedene Kategorien eingestuft. Etwa ein Drittel der dort vorspielenden 336 Jungs wurden anschließend in mehreren Lehrgängen beobachtet und die Besten zu ersten Länderspielen eingeladen. Unter ihnen waren Niklas, Leon und Serge.
Ist für die "Aussortierten" der sprichwörtliche Zug dann erst einmal abgefahren?
Böger: Von "Aussortierten" kann man wirklich nicht sprechen - im Gegenteil: Sichtung und Ausbildung im Jugendbereich sind ständige und langfristige Prozesse. Der DFB organisiert in den Folgejahren weitere Sichtungsturniere. So ist gewährleistet, dass kein Talent verborgen bleibt. Außerdem haben somit "Spätstarter" wie Joshua Kimmich die Gelegenheit, aufzuspringen. Jo war seinerzeit körperlich noch nicht so weit, wir haben uns deshalb entschieden, ihn immer wieder zu Lehrgängen zu berufen und ihn sorgsam an höhere Belastungen heranzuführen. So debütierte er erst über ein Jahr nach den anderen. Aufgefallen ist er mit toller Technik und seinem super Spielverständnis allerdings deutlich früher. Und vielleicht am wichtigsten: mit seiner vorbildlichen Mentalität und Lernwilligkeit.
Wie hat sich das geäußert?
Böger: Ich erinnere mich an einen aufgeweckten Jungen. Klug, neugierig und sehr interessiert an allen fußballspezifischen Fragen: "Trainer, warum ist das so und so? Trainer, warum soll ich das so und so machen?" Diese und ähnliche Fragen habe ich ihm gerne beantwortet. Er hat Aufgaben nicht wie die meisten anderen abgearbeitet, sondern sich damit wirklich beschäftigt. Deshalb hat es immer besonders Spaß gemacht, mit Jo zu arbeiten.
gettyKimmich gilt als potenzieller künftiger Kapitän der deutschen Nationalmannschaft und des FC Bayern. War diese Führungsrolle damals schon absehbar?
Böger: Nein. Spieler in diesem Alter suchen gerade erst ihren Weg. Niemand weiß so ganz genau, wohin der mal führen wird. In der damaligen U16/U17 waren in ihrem Auftreten zunächst andere Spieler auffälliger. Leon Goretzka war der unstrittige Leader im Team. Er führte die Gruppe an - was insofern bemerkenswert war, als dass er nicht von Bayern, Dortmund oder Schalke, sondern vom vergleichsweise kleinen VfL Bochum kam. Trotzdem war er vom ersten Tage an derjenige, dem alle anderen zuschauten und zuhörten. Seine Mitspieler haben sich Ratschläge von Leon geholt und die auch angenommen. Es war beeindruckend, wie schnell die anderen ihm vertraut haben und er die Mannschaft als Kapitän geführt hat.
Was hat ihn konkret so besonders gemacht?
Böger: Als 15-jähriger ist man schnell ein bisschen aufmüpfig und versucht, mit einer großen Klappe Eindruck zu schinden. Leon jedoch hatte einen korrekten Umgang, was sicher auch an der guten Erziehung seiner Eltern lag. Er war einfach klar im Kopf und ist auf dem Platz mit Leistung vorneweg marschiert. Eine perfekte Mischung aus Leistung und Persönlichkeit. Aus dieser Rolle heraus ist er gegenüber dem Trainerteam aufgetreten und hat die Belange der Mannschaft vorgetragen. Das hat mir imponiert!
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Böger: Einmal hatten wir am Vormittag ein anstrengendes Training und für den Nachmittag war ein weiteres angesetzt. Leon hat sich nach Absprache mit seinen Mitspielern getraut, zu uns Trainern zu kommen und zu fragen: "Das war ein bisschen viel heute, können wir am Nachmittag vielleicht kürzer treten, eine Einheit im Schwimmbad machen oder einfach nur chillen?" Das ist für einen 15-Jährigen reif und mutig zugleich.
gettyWas waren Ihre ersten Eindrücke von Serge Gnabry und Niklas Süle?
Böger: Beide waren damals schon sehr gute Fußballer. Serge mit einer ausgereiften Technik und enormem Antritt, Niklas mit einer körperlich imposanten Erscheinung. Altersgemäß waren sie aber durchaus auch noch etwas albern und nicht so fokussiert.
Wie hat sich das gezeigt?
Böger: Niklas ist die Dinge manchmal recht sorglos und mit übertriebener Lockerheit angegangen. Vor allem bei eher tristen Übungen, die nicht unmittelbar etwas mit dem Ball zu tun hatten, war er etwas nachlässig: zum Beispiel bei Stabilisations- oder Langhantel-Training. Er hat einfach länger gebraucht, um zu begreifen, dass diese Dinge zwingend dazu gehören und ihn voran bringen. Mit der Zeit und der Hilfe auch gerade seiner Vereinstrainer ist er erwachsener und souveräner im Umgang mit anderen und sich selbst geworden. Seine Persönlichkeitsentwicklung hin zu professionellem Denken hat etwas länger als bei anderen gedauert, aber daran ist überhaupt nichts verwerflich.
Wann hat er das begriffen?
Böger: Die Qualifikation zur Endrunde der U17-EM 2012, die intensive Vorbereitung darauf und das Turnier selbst haben ihn sicher entscheidend geprägt.
gettySerge Gnabry fehlte bei dieser Endrunde in Slowenien. Warum?
Böger: Serge spielte seit der U15 im Nachwuchs des FC Arsenal und hat die Teilnahme nach Gesprächen mit Trainer Arsene Wenger abgesagt. Er war vorher verletzt, noch nicht wieder 100 Prozent fit und hatte Sorge, dass er mit einer EM-Teilnahme seine Chancen auf eine Sommervorbereitung mit den Profis und erste Einsätze verringert.
War das die richtige Entscheidung?
Böger: Für ihn im Nachhinein gesehen sicherlich, aber damals habe ich das schon sehr bedauert. Trotz Führung haben wir durch eigene Fehler letztendlich das Finale gegen die Niederlande im Elfmeterschießen verloren. Wir hatten damals eine hervorragende Mannschaft mit tollen Einzelspielern - ein Serge in bester Verfassung hätte mit seinen Qualitäten aber bestimmt nochmal den Unterschied gemacht.
Was war er für ein Typ?
Böger: Ein hochtalentierter Junge. Ein Individualist, der seine Freiheiten brauchte. Freundlich, aber ähnlich wie Niklas zu der Zeit auch noch ein wenig albern. Seine Zeit in London hat ihm bei seiner Entwicklung sicher geholfen.
Mittlerweile haben Süle, Kimmich, Goretzka und Gnabry tragende Rollen in der A-Nationalmannschaft. Bei wem sind Sie am überraschtesten, dass er es geschafft hat?
Böger: Bei Goretzka war von Anfang an klar, dass er ganz nach oben kommt. Süle und Gnabry mussten einfach persönlich reifen und haben das prima geschafft. Kimmich war immer schon klar im Kopf, bei ihm war es aber fraglich, ob er sich körperlich behaupten kann. Da hatte ich zunächst Bedenken und somit bin ich von seiner Entwicklung am meisten überrascht.
Was denken Sie, wenn Sie diese Spieler heute für die A-Nationalmannschaft spielen sehen?
Böger: Ich empfinde einfach nur große Freude. Vor allem auch darüber, dass die Entwicklungskonzepte in den Nachwuchs-Leistungszentren der Vereine, in den Landesverbänden und beim DFB bei diesen und vielen anderen Spielern so nachhaltig gewirkt haben. Dieser Jahrgang 1995, aber auch 1996 waren besonders reichhaltig mit Talenten gespickt. Die Leistungsdichte war enorm hoch, man schaue sich nur mal die Entwicklungen von Timo Werner, Julian Brandt oder Jonathan Tah an. Sie alle haben sich gegenseitig gepusht.
Sie arbeiteten von 2008 bis 2014 im Nachwuchsbereich des DFB. Wie eng war der Austausch mit Bundestrainer Joachim Löw?
Böger: Als Cheftrainer der A-Nationalmannschaft ist Jogi der ranghöchste Trainer beim DFB. Zu ihm schauen alle auf, an ihm und seinen Anforderungen haben sich alle Trainer im U-Bereich zu orientieren. Wir trafen uns zu Trainersitzungen, bei denen sich die Trainerteams der A-Nationalmannschaft und der U-Mannschaften zu diversen Inhalten ausgetauscht haben. Viel intensivere Diskussionen über Spielideen und Leitlinien für unsere Jugendspieler gab es jedoch zwischen den U-Trainern von der U15 bis zur U21. Der damalige U21-Trainer Horst Hrubesch beispielsweise wusste immer ganz genau, was von unten nachkommen wird. Matthias Sammer in seiner Funktion als DFB-Sportdirektor spielte auch eine Schlüsselrolle.
Inwiefern?
Böger: Sammer war und ist ein Glücksfall für den deutschen Fußball. Er hat eine ganz eigene, stringente Art zu analysieren, zu strukturieren und zu führen. Sowohl inhaltlich, als auch personell. Er hat uns einen Rahmen vorgegeben, in dem wir Trainer uns frei entfalten konnten. In der Sache kritisch und diskussionsfreudig, im persönlichen Umgang jedoch wertschätzend und respektvoll, so habe ich ihn zu meiner DFB-Zeit erlebt.