Rost: "Es fehlten nur noch rosa Röckchen"

Stefan MoserJan Wunder
19. September 201023:42
Frank Rost führte den Hamburger SV am Millerntor ins Derby gegen den FC St. PauliGetty
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Zu wenig Derby, zu wenig Fußball: Fast hätte der Hamburger SV beim FC St. Pauli die Quittung für die eigene Passivität erhalten. Bis ausgerechnet Mladen Petric Genugtuung bekam. Als seine offensiven Kollegen schwächelten, stellte der zuletzt in die Diskussion geratene Angreifer seine spezifische Qualität sehenswert unter Beweis.

Das erste Hamburger Stadtderby nach acht Jahren hat keinen Sieger. Am 4. Spieltag der Bundesliga trennten sich St. Pauli und der Hamburger SV mit 1:1 (0:0) unentschieden. Wie befürchtet kam es vor der Partie im Stadtteil St. Pauli zu Auseinandersetzungen zwischen beiden Fangruppen. Die Polizei musste Wasserwerfer einsetzen, konnte die Situation aber weitgehend kontrollieren.

Vor 23.800 Zuschauern am ausverkauften Hamburger Millerntor ließ Fabian Boll (76.) die Gastgeber mit seinem Führungstor vom ersten Derby-Sieg seit 1977 träumen. Kurz vor dem Abpfiff aber erzielte der eingewechselte Mladen Petric (87.) mit einem sehenswerten Distanzschuss den verdienten Ausgleich.

Während des Spiels blieb es im Stadion weitgehend ruhig, die befürchteten Krawalle blieben aus. Nach der Partie musste die Polizei rivalisierende Fan-Gruppen allerdings erneut durch den Einsatz von Wasserwerfern auseinander halten. Ein Sprecher bestätigte die Festnahme von 50 angeblichen Fans. Außerdem hätten drei Stadionbesucher sowie sechs Polizisten leichte Blessuren davongetragen.

Nachbetrachtung:

Das erste Stadtderby seit acht Jahren verlief merkwürdig emotionslos, abgesehen von HSV-Torhüter Rost schien das aber niemanden zu stören. Offenbar war es der Gameplan von Gäste-Trainer Armin Veh, die mutmaßliche Mischung aus Unerfahrenheit und Derby-Fieber beim Gegner auszunutzen, den FC St. Pauli mit einer defensiven Grundausrichtung zu locken - und mit Kontern über die schnellen Außen zum Erfolg zu kommen.

Tatsächlich agierte der HSV auch gegen den Ball sehr konzentriert, mit Jarolim als zentralem freien Mann vor der Abwehr schloss Veh auch die in Hamburg traditionell anfällige Lücke zwischen Viererkette und Mittelfeld. Allerdings war St. Pauli seinerseits nicht naiv genug, um ins offene Messer zu laufen.

Die gut sortierte Stanislawski-Elf spielte offensiv, aber keineswegs unkontrolliert. Dazu hat der HSV nach wie vor erhebliche Probleme im eigenen Spielaufbau. Elia und Guerrero wirken abwechselnd blockiert oder apathisch, gegen St. Pauli schwächelte zudem auch noch Pitroipa auf rechts. In der gesamten ersten Halbzeit hatte der HSV keine einzige echte Torchance aus dem Spiel heraus.

Die Gretchenfrage, ob eine nominell überlegene Mannschaft gegen einen limitierten Gegner mit dieser passiven Grundhaltung am Ende nicht sogar das größere Risiko eingehe, beantwortete der FC St. Pauli schließlich in der 76. Minute mit einem vorläufigen "Ja": Boll nutzte eine der seltenen Lücken und erzielte das 1:0. Die erste Quittung für die Offensiv-Lethargie der Gäste.

Es spricht allerdings für die individuelle Klasse des HSV, dass die Mannschaft fast auf Knopfdruck die Gangart wechseln konnte und entsprechend verdient noch den Ausgleich erzielte. Ein persönlicher Erfolg auch für den eingewechselten Torschützen Mladen Petric, der nach den öffentlichen Diskussionen um seinen Wechsel nach Stuttgart seine spezifische Qualität und seinen Wert für den HSV eindrucksvoll unter Beweis stellte. Sein Treffer in der 87. Minute war ein äußerst sehenswertes Argument für eine Rückkehr in die Stammformation.

Unter dem Strich kann der HSV nach diesem Spielverlauf mit dem Unentschieden wohl gut leben, auch wenn zwei Punkte aus den Spielen gegen Nürnberg und St. Pauli für die eigenen Ansprüche womöglich zu wenig sind. Angesichts der schwierigen Vorbereitung im WM-Sommer bleiben acht Punkte aus vier Spielen aber ein vergleichsweise guter Saisonstart. Für den sehr kompakten sowie läuferisch und taktisch gut eingestellten Stadtrivalen fühlt sich das Remis eher an wie eine Niederlage. Trotzdem waren die Beteiligten zu Recht mit Leistung und Ergebnis zufrieden.

Reaktionen:

Mladen Petric (Hamburger SV) über seinen Ausgleichstreffer: "Von Glück kann bei meinem Tor keine Rede sein. Ist ja nicht das erste Tor, das ich so mache. Das liegt einfach an der Schusstechnik und dem Mut, den man haben muss, um aus der Position mal abzuziehen. Nicht jeder Ball kann natürlich so reingehen, aber diesmal war es umso schöner. Die ganz große Katastrophe haben wir dadurch noch abgewendet. Wir haben erst so richtig angefangen, Fußball zu spielen, als wir das Tor bekommen haben. Das darf natürlich nicht sein."

Frank Rost (Hamburger SV) über die fehlenden Emotionen im Derby: "Es war ja schon vorher Harmonie von allen Seiten angesagt. Eigentlich hat nur noch gefehlt, dass wir in rosa Röckchen auflaufen. Wir wollten ein Bundesliga-Spiel gewinnen, da kann man nicht nur so ein bisschen zur Sache gehen. Insgesamt war es kein schönes Derby, auch wenn die Stimmung gut war. Das Tor von Petric war natürlich toll. Der macht jedes Jahr seine 14 Tore, dafür haben wir ihn."

Holger Stanislawski (Trainer FC St. Pauli): "Das war mit Sicherheit kein gutes Fußballspiel, aber ein gerechtes Ergebnis. Aber wir waren ganz nahe dran, deshalb ist das Unentschieden für uns ärgerlich. Das Gegentor war natürlich ein Sonntagsschuss. Das war Pech für uns, aber unterm Strich geht das Unentschieden in Ordnung."

St. Pauli - Hamburger SV: Spielfilm, Analyse, Star des Spiels

Der SPOX-Spielfilm:

Vor dem Spiel: St. Pauli mit zwei Änderungen in der Startformation. Naki und Bruns übernehmen die Positionen von Takyi und Kruse. Die vermeintlich defensivere Variante.

Der HSV mit der erwartenden Aufstellung im Mittelfeld: Trochowski muss wieder auf die Bank, der schnelle Elia soll über links kontern. Hinten rechts fällt Demel aus familiären Gründen aus, Rincon kommt dafür in die Startformation.

3.: Rincon bringt die Flanke von rechts, van Nistelrooy verpasst, aber Jansen ist wacher als Rothenbach. Mit seinem schwächeren rechten Fuß bekommt Jansen aber keinen vernünftigen Schuss aufs Tor.

8.: Starke Aktion von Pauli. Naki spielt Hennings an, der den Ball mit dem Rücken zum Tor auf Boll ablegt. Gewaltschuss aus 25 Metern. Knapp rechts am Tor vorbei.

11.: Nächste gute Chance für Pauli. Bruns köpft den Ball von rechts in den Sechzehner, wo Hennings zum Kopfball hoch steigt. Rost gerade so dran, erste Ecke. Die bringt nichts ein.

76., 1:0, Boll: Asamoah hat auf der rechten Seite zu viel Platz, spielt Doppelpass mit Rothenbach und legt quer auf Boll. Der hat plötzlich ganz viel Platz, nimmt die Kugel an und haut das Ding aus 17 Metern links unten ins Eck. Rost ist noch dran, kann aber nichts mehr retten.

87., 1:1, Petric: Van Nistelrooy blockt einen Klärungsversuch von Zambrano ab. Der Ball kommt halblinks zu Petric, der nimmt aus gut 20 Metern volley - und haut das Ding unhaltbar ins lange Eck. Traumtor.

Fazit: Erst nach der Führung für St. Pauli wachte die Partie richtig auf. Danach entwickelte sich ein echtes Derby. Ärgerlich für den Gastgeber, dass ein Sonntagsschuss kurz vor Schluss den Sieg kostet. Unterm Strich aber ein gerechtes Ergebnis.

Der Star des Spiels: Mladen Petric. Kam nach einer Stunde für den enttäuschenden Guerrero und übernahm vor allem nach dem Gegentor die Initiative. Gab mit einem emotionalen und fußballerischen Highlight drei Minuten vor Schluss die Antwort auf die Querelen in den letzten Wochen - und rettete den HSV vor einer Niederlage im Derby.

Die Gurke des Spiels: Paolo Guerrero. Nach hinten sehr diszipliniert, nach vorne aber völlig ohne Selbstvertrauen. Versteckte sich im Aufbau, trabte nur mit und spielte höchstens ein paar Sicherheitspässe. Im Duell um die Schlüsselposition im offensiven Mittelfeld damit der klare Verlierer gegen Petric. Allerdings enttäuschten gegen St. Pauli auch die beiden Außen, Elia und Pitroipa.

Die Pfeife des Spiels: Florian Meyer. Leitete das Spiel wie üblich etwas kleinlich, behielt dabei aber in der Regel eine klare Linie. Keine größeren Fehler, deutlich in der Körpersprache und der Kommunikation mit den Spielern. In der Hektik der Schlussphase manchmal etwas fahrig, insgesamt aber ein solider Auftritt.

Analyse: Der HSV begann sein Gastspiel extrem vorsichtig und kompakt: Ze Roberto und Guerrero verdichteten auf den Halbpositionen das Zentrum, die Außen hielten in der Rückwärtsbewegung diszipliniert die Positionen, Jarolim gab nah an der Viererkette den alleinigen Sechser. Das Hauptaugenmerk galt der defensiven Ordnung und dem Verhindern von Kontern. Nach vorne beschränkten sich die Bemühungen in der ersten Hälfte auf einige lange Bälle Richtung van Nistelrooy.

Auch St. Pauli war die Angst vor entscheidenden Fehlern anzumerken. Dennoch investierten die Gastgeber deutlich mehr ins Spiel und erarbeiteten sich klare Feldvorteile. Der große läuferische Aufwand blieb gegen die konzentrierte und in der Regel souveräne HSV-Abwehr aber meistens ohne Ertrag. Angemessenes Ergebnis zur Pause: Null zu Null.

Auch zu Beginn der 2. Hälfte lautete die Devise: Lauern auf Fehler. Den ersten machte der HSV, als er im Zentrum kurz die Ordnung verlor: Boll nutzte den Platz zur verdienten Führung für den St. Pauli.

Veh reagierte, brachte mit Trochowski und Choupo-Moting unmittelbar zwei neue Offensivkräfte - und Hamburg fing plötzlich an, Fußball zu spielen. Die Partie legte deutlich an Tempo zu, erst jetzt wurde es ein "echtes" Derby. Am Ende aber war es eine spektakuläre Einzelaktion von Petric, die den Ausgleich brachte. Ein emotionales und fußballerisches Highlight zum Schluss - und ein gerechtes Ergebnis für beide Mannschaften.

St. Pauli - Hamburg: Daten zum Spiel