Sven Mislintat ist seit Mai 2019 Sportdirektor beim VfB Stuttgart. Im Interview mit SPOX und Goal gibt der 48-Jährige Einblicke in seine Transferentscheidungen und erklärt, welche Rolle Daten dabei spielen.
Dieser Artikel wurde im Oktober 2020 veröffentlicht.
Außerdem beantwortet Mislintat die Frage, warum er sein Schicksal in gewisser Weise mit dem von Coach Pellegrino Matarazzo verknüpft hat.
Dazu verrät er die Geschichte hinter der Entdeckung von Wataru Endo.
Weitere Themen: Die Abwägung zwischen der Verpflichtung ausländischer Talente und der Förderung der eigenen Nachwuchsspieler, die Orientierung an den jungen Wilden und am magischen Dreieck und sein persönlicher Karriereplan.
Herr Mislintat, können Sie sich noch an Ihre erste Spielanalyse erinnern?
Sven Mislintat: Klar. Das war am ersten Spieltag der Saison 2000/2001. 20 Jahre ist das jetzt her, da war ich 27 Jahre alt. Werder Bremen schlug Energie Cottbus im Weserstadion 3:1. Paul Stalteri war in seinem ersten Profi-Einsatz einer des Besten auf dem Feld und erzielte ein Tor. Das war damals das erste Spiel, das ich selbst gefilmt und danach für Werder-Coach Thomas Schaaf die Analyse geschnitten habe.
Sie haben an der Uni Bochum Sportwissenschaften studiert. Wie sind Sie damals in das Thema Videoanalyse hineingerutscht?
Mislintat: Der inzwischen leider verstorbene Gustl Wilke, eine echte Handball-Ikone, war Dozent an der Uni. Er hat damals für die Dortmunder Handball-Damen die Gegner aus Osteuropa analysiert, noch schön alles auf Videokassetten. (lacht) Da Wilke mit Ottmar Hitzfelds langjährigem Co-Trainer Michael Henke studiert hatte und ihn kannte, kam der Kontakt zum Fußball zustande. Die entscheidende Idee war, das Spielfeld immer so abzubilden, dass man mit einem Weitwinkel Zehn gegen Zehn filmte, um alle taktischen Abläufe und Formationen erkennen zu können. Ein absolutes Novum zu der Zeit und nun als das sogenannte Scouting Feed bekannt, welches bis heute alle nutzen und das selbstverständlich geworden ist. Dadurch, dass wir damals eine Art Monopol auf eine solche Taktikkamera im Stadion hatten, war der Erfolg extrem. Es hat riesigen Spaß gemacht, in jungen Jahren da dabei sein zu dürfen - und mit so vielen der damals absoluten Toptrainer und Topmanager gearbeitet zu haben und wertvolle Einblicke und Erfahrungen sammeln zu können.
Zwölf Jahre später haben Sie das Start-up Matchmetrics mitgegründet und sich noch viel intensiver mit dem Thema Datenanalyse im Fußball befasst. Das Moneyball-Prinzip von Billy Beane wurde in gewisser Art und Weise aus dem Baseball in den Fußball gebracht. Was war der Gedanke dahinter?
Mislintat: Ich kannte natürlich Billy Beanes Geschichte, auch bereits vor dem Film. Auch ich war sehr früh der Überzeugung, dass Daten, hier im Fußball eine ganz wichtige zusätzliche Perspektive bieten könnten, um Spiele und Spieler zu bewerten, war aber nie wirklich zufrieden mit den Standardstatistiken. Sind Leistungen im Baseball aufgrund seiner Spiel- und Ablaufstruktur statistisch eindeutig zu kategorisieren und zu beschreiben, ist dies im Fußball mit seinen Freiheitsgraden und nahezu unendlichen Interaktionsmöglichkeiten der Spieler viel, viel schwieriger. Die Gründung bzw. zuerst der fast dreijährige Weg davor ist genau aus dieser alltäglichen Unzufriedenheit entstanden. Der Antrieb war und ist es bis heute, die hochwertigsten und aussagekräftigsten Daten für meine Arbeit zur Verfügung zu haben. Die initiale Absicht war es aber nicht, zu gründen, sondern mit und für den BVB zu entwickeln.
imago images / Sportfoto Rudel"Mir geht es in erster Linie um Waffen und Persönlichkeit"
Was woran scheiterte?
Mislintat: Es scheiterte kurz und knapp erläutert daran, dass unser Modell einen Spieler für die Topelf der Bundesliga ausgab, den Borussia Dortmund ausgeliehen hatte und dem man diese sehr hohe Qualität nicht zuschrieb. Statt das Modell und dieses Ergebnis besser verstehen zu können und es im Dialog und mit der Hilfe des BVBs weiter verbessern zu können, standen wir vor der Wahl, weiterzumachen oder aufzugeben. Ich entschied mich zuerst, meinem Partner Michael Markefka, der die ursprüngliche Idee für das Model und das Tool hatte, meine besten Kontakte aus dem Business an die Hand zu geben, damit er versuchen konnte, einen anderen Klub für sich und eine weitere Zusammenarbeit zu gewinnen. Als Michael nach mehreren Terminen völlig desillusioniert zurückkam, kam das erste Mal die Idee, es komplett selbst zu machen. So gründeten wir, investierten unser eigenes Geld und dann ging es los: klassisch in der Garage, wie man sich es bei einem Start-up so vorstellt. Aus heutiger Sicht war dieser Weg ein Glücksfall. Denn die Haupttools der Matchmetrics mit Matcheye zur passgenauen, individuellen Datenerhebung und dem Scoutpanel für die Spielerevaluierung neben meinen Jobs selbst mit entwickelt zu haben, beschreibt und macht einen Teil meiner heutigen Fähig- und Fertigkeiten aus. Und - nicht ganz unwichtig - deren Anwendung sind Teil meiner täglichen Arbeit und lieferten genau die fehlende objektive Perspektive, die ich zusätzlich suchte.
Was sind für Sie heute die wichtigsten Kriterien? Auf was schauen Sie bei jedem Transfer?
Mislintat: Mir geht es in erster Linie um zwei Aspekte: Waffen und Persönlichkeit.
Dann lassen Sie uns das doch mal auf die jüngsten VfB-Transfers übertragen. Momo Cisse und Naouirou Ahamada. Was macht diese Jungs besonders?
Mislintat: Bei Momo Cisse war es so, dass ich ihn zufällig das erste Mal live gesehen habe bei einem Spiel der U19 von Le Havre, welches ich am Tag vor einem Ligue-1-Spiel mitgenommen habe, weil es in den Kalender passte. Der Junge fiel sofort ins Auge, seine extreme Leichtigkeit in Eins-gegen-eins-Situationen, sein Mut, seine Persönlichkeit und sein Selbstbewusstsein, diese Situationen immer wieder zu suchen plus die Fähigkeit zu einer sehr guten Anschlussaktion. In der Folge versucht man dann, so viel wie möglich über einen Spieler herauszufinden und Material heranzuschaffen. Das ist bei einer U19 oder einer zweiten Mannschaft aus dem Ausland nicht immer einfach, aber am Ende findet man dennoch oft Wege, um an Videos zu kommen. Als es dann die Möglichkeit gab, Momo ablösefrei zu verpflichten, haben wir uns sofort um ihn bemüht und sind froh, dass er uns sein Vertrauen gab und wir den Wettbewerb um ihn gewonnen haben.
"Es wird keinen Quotennachwuchsspieler geben"
Und wie war es bei Ahamada?
Mislintat: Naouirou war Mitglied einer überragenden U17 der Franzosen, zu der unter anderem auch Tanguy Nianzou Kouassi gehörte, der gerade zum FC Bayern gewechselt ist. Ihn hatten natürlich nicht nur wir im Fokus, zumal er schon bei Juve war. Naouirou, Clinton Mola und Tanguy Coulibaly, die wir aus Chelsea und von PSG holten, sind gute Beispiele dafür, dass wir uns mit dem eingeschlagenen Weg auch schon in dieser Talentkategorie einen sehr guten Namen gemacht haben. Die Jungs wissen, dass sie beim VfB eine Plattform geboten und einen klaren Weg mit einem klaren Entwicklungsplan aufgezeigt bekommen. Nur so werden diese Transfers aus so renommierten Akademien zu uns möglich. Was Naouirou als Spielertypen angeht: Er ist ein Sechser/Achter, ein physisch starker Spieler mit sehr gutem Passspiel, den wir in dieser Form noch nicht im Kader hatten.
Jetzt könnte man sagen, dass der VfB aber doch einen Luca Mack im Kader hat, dem in gewisser Weise jetzt wieder Ahamada vor die Nase gesetzt wird. Haben Sie keine Sorge, falsche Signale an den eigenen Nachwuchs zu senden?
Mislintat: Nein, überhaupt nicht. Denn auch mit Luca und unseren anderen Nachwuchsspielern gibt es klar aufgezeigte Wege und die dazugehörigen Gespräche. Ob von außen dazu geholt, aus dem eigenen Nachwuchs, jung oder älter, im Profifußball gilt das Prinzip Leistung. Überdies glaube ich, dass dieser Diskussion ein Perspektivwechsel guttäte: Denn was ist für einen Spieler aus der eigenen Akademie besser? Sich gegen jemanden durchsetzen zu müssen, der ähnlich jung ist und eine ähnliche Reputation hat? Oder gegen einen erfahreneren Spieler, der Millionen gekostet hat? Wir haben es schon häufiger gesagt und wiederholen es gerne: Die Tür für unseren eigenen Nachwuchs steht sperrangelweit offen. Weiter kann eine Tür gar nicht aufstehen. Es wäre für die Identität des Klubs und aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten darüber hinaus auch völlig unverantwortlich, wenn es anders wäre.
Aber wird es wirklich genügend umgesetzt? Einige Talente sind vom VfB weggegangen.
Mislintat: Ja. Wir haben in den vergangenen eineinhalb Jahren insgesamt acht Nachwuchsspielern Wege für eine Zukunft beim VfB aufgezeigt. Li Egloff, Toni Aidonis und Luca Mack sind fester Bestandteil des Kaders, Florian Kleinhansl und Sebastian Hornung sind aktuell Teil in der zweiten Mannschaft, beide waren zuletzt leider verletzt. Drei Spieler, Leon Dajaku, Nick Bätzner und Per Lockl haben sich gegen den von uns aufgezeigten Weg entschieden. Momo Cisse, Naouirou Ahamada und Mo Sankoh haben wir erst danach verpflichtet, um das auch mal klar zu benennen. Perspektivisch sehen wir gute Chancen für weitere Spieler aus unserem NLZ, zur U21 oder direkt zu den Profis zu stoßen. Aber eins ist auch klar: Es wird keinen Quotennachwuchsspieler im Profikader geben. Die Leistung und die Einstellung, ihre Potenziale weiter zu entwickeln bei den Jungs zählt, um den Weg mit uns weitergehen zu können.
Wir waren bei den letzten Transfers. Wie gewichten Sie bei der Beurteilung eines möglichen Neuzugangs die Informationen aus den Bereichen Daten, Livescouting und auch dem Persönlichen?
Mislintat: Es ist immer eine Kombination aus allen Faktoren, wir versuchen einen 360-Grad-Blick auf die Spieler zu kreieren. Da spielen die Daten eine genauso wichtige Rolle wie das Live-Scouting, die systematische Video-Analyse und die persönlichen Gespräche. Ich versuche auch immer herauszufinden, wie sich ein Spieler neben dem Platz verhält. Und ich verlasse mich nie nur auf eine Meinung. Statt einen Scout denselben Spieler mehrfach live und/oder im Video beobachten und analysieren zu lassen, möchte ich die Meinung mehrerer Scouts hören. Nur so ergibt sich am Ende für mich die mehrperspektivische Sicht durch unterschiedliche Werkzeuge und Beobachter und damit die notwendige Grundlage meine Entscheidungen treffen zu können.
Es gibt inzwischen gerade im Analyse-Bereich jede Menge verschiedener Anbieter mit verschiedenen Tools, die man zu Rate ziehen kann. Glauben Sie, dass diese Revolution immer noch weitergehen wird?
Mislintat: Das ist schwer zu sagen. Ich denke Evolution beschreibt es heute besser als Revolution. Ausreichend Tools sind vorhanden. Es geht also eher um die Frage, ob ich mit den Werkzeugen auch wirklich umgehen kann? Um es platt zu formulieren, der beste Werkzeugkoffer nützt nichts, wenn man nicht weiß, wie herum man den Schraubendreher drehen muss. Meint, es kommt darauf an, zu verstehen, wie und was überhaupt erhoben wird und welche Interpretationen zulässig sind.
"Endo war im Scoutpanel maximal und konstant auffällig"
Können Sie ein Beispiel geben?
Mislintat: Gerne. Wenn ich zum Beispiel Spieler nur nach einem Gesamtrating beurteilen würde, hätten wir es beim VfB schwer, Spieler zu verpflichten. In diese Regale können wir finanziell in der Regel nicht greifen. Also müssen wir in die Nischen gehen und Potenziale, wie die Waffen der Spieler in Einzelratings, erkennen. Oder Potenziale, die vielleicht gar nicht nur in starken Werten liegen, sondern auch in dargestellten Schwächen. Ein Beispiel dazu: Wenn man zwei Spieler in ihren Leistungskurven auf einer Skala von 1 bis 10 vergleicht: Einer spielt konstant Wertungen um 6, der andere hat extreme Ausschläge nach unten, wen verpflichtet man dann? Den, der Konstanz liefert oder jenen, der extremes Potenzial auf den Platz bringt, aber leider unregelmäßig? Da sind wir dann tief im Detail und diese Antwort muss jeder Klub für sich selbst finden.
Kommen Spieler nur aus den Datenbanken auf den Tisch?
Mislintat: Nein. Das Portfolio von Spielern, welche für eine Verpflichtung in Frage kommen, entsteht aus allen Perspektiven des zuvorderst beschriebenen 360-Grad-Blicks, also über Datenanalyse, Video-und Livescoutings und über unsere Netzwerke. Ein Name darf von überall ins Spiel kommen, muss sich dann aber in den restlichen Sparten erst noch einer umfangreichen und detaillierten Analyse stellen.
Einer der Spieler der Stunde beim VfB heißt Wataru Endo. Ihn haben Sie aus St. Truiden praktisch gestohlen, könnte man fast sagen angesichts seiner Bedeutung für das VfB-Spiel. Was ist die Geschichte hinter der Endo-Entdeckung, woher kam sein Name?
Mislintat: Ich kannte Wataru schon aus Japan. Japan ist aufgrund der hohen Reisekosten natürlich nicht das Land, in das du ständig für Live-Beobachtungen fliegst. Also sind Daten in der Regel das Mittel der Wahl für die überblickende Analyse des Marktes. Und Wataru war im Scoutpanel maximal und konstant auffällig in der Höhe seines Gesamtratings. Nachfolgende Video-Sichtungen vervollständigten und verfestigten diese Eindrücke dahingehend, dass ich immer wieder darüber nachdachte, ihn zu verpflichten.
imago images / Pressefoto BaumannDie jungen Wilden und das magische Dreieck als Orientierung
Wie ging es weiter?
Mislintat: In Japan hat er damals meist als zentraler Innenverteidiger gespielt, seine Größe schien ihn für diese Position in Europa zu limitieren. Aufgrund seines Profils war die Idee, ihn als Sechser zu nutzen schnell die offensichtliche, so wie er die Bälle gewann, so wie seine ganze Spielanlage ist. Hier angekommen hat er uns auch gleich noch Lügen bezüglich seiner Kopfballstärke gestraft, denn die bringt er hier genauso auf den Platz wie in Japan, so dass er auch für den VfB bereits als Innenverteidiger gespielt hat. Für seine Verpflichtung war aber auch noch etwas anderes entscheidend.
Und das war?
Mislintat: Dass sein Wechsel aus Japan nach St. Truiden nicht komplett aufging. Dort hat er mehr als Box-to-Box-Spieler auf der Acht gespielt, was er zwar auch kann, aber seine Qualitäten kommen am besten zentral vor der Abwehr zum Tragen. So war er dort nicht mehr so auffällig, wie er es in einer Rolle vor der Abwehr sein kann. Dies war unser Glück, denn eine Ausleihe letztes Jahr zu uns in die zweite Liga wäre mit seinen aktuellen Leistungen unmöglich zu realisieren gewesen. Im Nachhinein hört sich das wahrscheinlich besserwisserisch an, aber ich war mir wirklich sehr sicher, dass das ein sehr guter Transfer für uns sein wird. Positiv verstärkend kam hinzu, auch wenn ich nicht dazu tendiere, so etwas zu verallgemeinern, dass ich persönlich und der VfB als Klub noch nie schlechte Erfahrungen mit japanischen Spielern gemacht haben. Und Wataru bestätigt dies erneut: Wie er sich innerhalb der Truppe gibt und bewegt, wie professionell er sein Leben führt - das ist sensationell.
Endo hat sicherlich das Zeug, einer der Eckpfeiler für den VfB in den kommenden Jahren zu werden. Wenn Sie über eine Vision beim VfB nachdenken, gar nicht auf Tabellenplätze bezogen, welche Bilder haben Sie im Kopf? Wie soll der VfB der Zukunft aussehen?
Mislintat: Bezüglich der Identität des Klubs fand sich diese unseres Erachtens in den Zeiten der jungen Wilden und des magischen Dreiecks am besten repräsentiert und dient uns unabhängig von der jeweiligen Zielsetzung zur Orientierung. Bezüglich unserer Ziele ist es immer gefährlich, über Visionen zu sprechen, weil jeder sie zu erreichen mit einem bestimmten Datum in Zusammenhang sieht. Das ist aber der falsche Weg. Eine Vision kennt keinen zeitlichen Rahmen. Für uns geht es in erster Linie darum, Schritt für Schritt in die richtige Richtung zu laufen, ohne dabei zwischendurch zu viele Schritte zurück machen zu müssen. Mit Thomas Hitzlsperger, Markus Rüdt (Direktor für Sport-Organisation, Anm. d. Red.) und mit Pellegrino Matarazzo haben wir beim VfB im Sport eine Vierergruppe, die genau weiß, was sie vorhat und eine klare Strategie miteinander verfolgt. Die Vision sieht aber nicht so aus, dass wir in zwei Jahren wieder international spielen, in drei Jahren sollte es Champions League sein und in fünf ein Titel. Wir versuchen stattdessen, zwei Dinge zu kombinieren: Die Klasse zu erhalten mit der Prämisse, dass wir in der Corona-Krise wirtschaftlich gesund bleiben. Wir leben in Zeiten, in denen es plötzlich vorstellbar erscheint, dass es nicht nur sportliche, sondern auch wirtschaftliche Absteiger aus der Bundesliga geben könnte.
Wie viel Geld hat der VfB durch die Pandemie verloren?
Mislintat: Wir werden über alle Budget-Töpfe hinweg bis zu 30 Millionen Euro verlieren im Vergleich zur Pre-Corona-Zeit. Das muss erst einmal kompensiert werden.
Wo würden Sie den VfB denn aktuell eingliedern, wenn Sie auf die Bundesliga schauen?
Mislintat: Für mich besteht die Bundesliga aus drei Gruppen. 1-6, 7-12, 13-18. Genau genommen ist Platz eins ein ganzes Stück weg von Platz zwei, und die Ränge zwei und drei stehen klar vor den Vereinen auf vier bis sechs. Aber diese Gruppe ist für uns ohnehin nicht interessant. Fakt ist, dass wir uns in der dritten befinden. Nach den TV-Geldern sind wir auf Rang 16, nur Union und Bielefeld erhalten weniger. Es geht in dieser Saison nur um den Klassenerhalt und in den nächsten Saisons, sollten wir uns jeweils in der Liga behaupten, erneut.
Und mittelfristig?
Mislintat: Werden wir nur in der Lage seien, in die Gruppe der Teams, die um Platz 7-12 einlaufen, vorzudringen, wenn unsere Umsätze dies auch wirtschaftlich ermöglichen. Diese zu steigern ist dafür elementar. Dies wird nicht nur über Spielerverkäufe gehen können, zumal sie immer auch direkt mit Verlust sportlicher Substanz einhergehen. Der VfB Stuttgart muss in allen Bereichen seine vollen Einnahmepotenziale ausschöpfen.
Sie arbeiten jetzt knapp eineinhalb Jahre mit Thomas Hitzlsperger zusammen, beide haben Sie viel Erfahrung, aber nicht auf der aktuellen Position, die sie beide bekleiden. Wie würden Sie diese Zusammenarbeit charakterisieren?
Mislintat: Ich lerne täglich von Thomas und hoffe auch ein Stück weit, dass er es umgekehrt genauso sieht. Ich würde aber wie schon erwähnt gerne Markus Rüdt und Pellegrino Matarazzo hinzunehmen, weil wir wirklich ein Viererteam geworden sind, das sich gesucht und gefunden hat. Bei uns wird auch viel kontrovers und emotional diskutiert, aber genau das wollen wir auch. Die beste Idee gewinnt, egal von wem sie kommt. Das leben wir. Aber weil Sie konkret nach Thomas gefragt haben: Er war ein Top-Profi und Nationalspieler, dieser Blickwinkel fehlt uns anderen Dreien, alleine schon deshalb bringt er enorm viel in unsere Gruppe ein. Und am Ende des Tages ist er ja auch noch unser aller Boss. (lacht)
"Rino hat als Trainer alle Waffen, die man braucht"
Sie haben sich ohne große Not sehr klar positioniert und gesagt, dass der VfB mit Pellegrino Matarazzo durch die Saison gehen wird. Nicht will. Wird. Warum haben Sie in gewisser Weise Ihr Schicksal so mit dem des Trainers verknüpft?
Mislintat: Ich bin völlig überzeugt davon, dass Rino eine extrem hohe Fachkompetenz hat, eine wahnsinnig hohe soziale Kompetenz und Empathie besitzt und seinen Staff und die Mannschaft sehr gut führt. Wir haben vorhin über Waffen bei Spielern gesprochen. Rino hat als Trainer alle Waffen, die man braucht. Das Einzige, was ihm vielleicht noch fehlt, sind ein paar Spiele mehr als Cheftrainer in der Bundesliga. Als Co-Trainer hat er unter Julian Nagelsmann in Hoffenheim wichtige Erfahrung gesammelt, es ist also kein völliges Neuland für ihn. Für mich war es deshalb ganz einfach zu sagen, dass wir mit ihm durch die Saison gehen werden. Wir dürfen nicht immer über Freiburg als leuchtendes Beispiel reden und dann gegenteilig handeln, wenn man weiß, dass man einen sehr, sehr guten Trainer hat. Diese Aussage getätigt zu haben bedeutet auch, dass es für niemanden, auch nicht für mich selbst zum Beispiel bezüglich der Kaderplanung, Alibis in seinem Verantwortungsbereich gibt.
Ihr Vertrag endet nach der laufenden Saison. Wann verlängern Sie?
Mislintat: Grundsätzlich ist es ja nicht nur von mir abhängig, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um über eine Verlängerung zu sprechen. Aber erste Interessensbekundungen beiderseits gibt es ja schon. Ich habe aber auch kein Problem damit, dass man sich noch ein paar Wochen Zeit nimmt und anschauen möchte, wie gut es in den Bereichen, die in meinem Verantwortungsbereich liegen, so läuft. Generell bin ich niemand, der einen Karriereplan in der Art verfolgt, zwei Jahre hier zu sein, dann nächste Station, um dann irgendwann bei einem bestimmten Klub ankommen zu wollen. Ich bin mit Leib und Seele bei dieser Aufgabe, dieser Mannschaft und diesem Klub.
imago images / Sven Simon"Habe mir sehr genau angeschaut, was beim VfB passiert ist"
Es gab beim VfB länger kein Führungsduo mehr, das so viel Kredit bei den Fans hatte wie Thomas Hitzlsperger und Sie. Wie nehmen Sie das wahr?
Mislintat: Ich habe mich ganz bewusst für den VfB entschieden, mit seiner Tradition und seinen Emotionen. Ich wusste auch, dass seit der Meisterschaft 2007 sehr viel schiefgelaufen ist und viel Vertrauen verspielt wurde. Ich habe mir sehr genau angeschaut, was in der Vergangenheit beim VfB passiert ist. Daraus haben sich viele Fragen ergeben, auf die ich permanent versuche, die richtigen Antworten zu finden. Ich habe in der relativ kurzen Zeit schon kritische Phasen erlebt, als es in der zweiten Liga nicht immer rund lief. Aber mir war klar, dass wir keinen Durchmarsch hinlegen werden. Selbst der potenteste Aufsteiger in der Geschichte der 2.Liga, RB Leipzig, hat den Aufstieg erst im zweiten Jahr geschafft. Statt zu investieren, mussten wir nach dem Abstieg knapp 50 Millionen Nettotransfereinahmen erwirtschaften, um uns wirtschaftlich zu konsolidieren und sportlich gleichzeitig einen Kader zusammenstellen, der den Aufstieg realisieren konnte und gleichzeitig eine Zukunftsperspektive in der Bundesliga hat.
Der Start in die Saison war jetzt positiv, aber Rückschläge werden natürlich kommen.
Mislintat: Es ist davon auszugehen, dass wir auch kritische Phasen als Aufsteiger durchlaufen werden. Richtig. Mir ist klar, dass unser Kredit dann auch schnell wieder schwinden kann. Entscheidend wird sein, dass alle Beteiligten auch in solchen Situationen die Ruhe bewahren und eventuelle Rückschläge richtig einordnen. Wir konzentrieren uns ganz auf das Hier und Jetzt, darauf, die bestmöglichen Entscheidungen für den VfB zu treffen. Wir alle stehen jeden Spieltag aufs Neue auf dem Prüfstand, aber ganz ehrlich: Ich mag das. Ich liebe diese Herausforderung und spiele das Spiel, um zu gewinnen.