"Heutzutage wird nichts mehr repariert"

Jochen Tittmar
16. Dezember 201411:04
Thomas Schaaf steht seit Juli 2014 bei Eintracht Frankfurt an der Seitenliniegetty
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Eintracht Frankfurts Trainer Thomas Schaaf ist seit über 40 Jahren als Spieler und Coach in der Bundesliga tätig. Der langjährige Übungsleiter von Werder Bremen antwortet im Interview auf die Frage, wie sich Gesellschaft und Fußball gegenseitig beeinflussen, spricht über Social-Media-Phänomene wie die Ice Bucket Challenge und erklärt seine Sicht auf die Berichterstattung im Fußball.

SPOX: Herr Schaaf, Sie sagten, die Entscheidung, nach Frankfurt zu gehen, hätten Sie zusammen mit Ihrer Frau getroffen. Was wäre denn passiert, wenn sie Nein zur Eintracht gesagt hätte?

Thomas Schaaf: Zunächst einmal musste ich für mich selbst entscheiden, ob Frankfurt vom beruflichen Profil her interessant ist oder nicht. Neben dem Inhaltlichen geht es aber auch darum, ob man es sich vorstellen kann, dort auch tatsächlich zu arbeiten. Das betrifft ja dann nicht nur mich, sondern auch die Familie. Wir haben uns ausgiebig besprochen. Wenn meine Frau wirkliche Gründe angeführt hätte, warum es aus ihrer Sicht nicht passt oder einfach schwierig werden könnte, dann wäre das ohne Frage ein Diskussionspunkt gewesen. War aber nicht (lacht).

SPOX: Sie waren als Spieler und Trainer über 40 Jahre fast ununterbrochen im Fußballgeschäft tätig. Wie schwer war es gerade zu Beginn Ihrer Pause, vom gewohnten Alltagsrhythmus herunter zu kommen und in ein Leben ohne regelmäßige Termine einzutauchen?

Schaaf: Anfangs war das nicht schwer, weil am Ende einer Saison ja quasi die Urlaubszeit bevorsteht. Ich konnte einem normalen Rhythmus folgen. Im Urlaub selbst machte sich dann aber der große Unterschied bemerkbar: Ich hing nicht ständig am Telefon, musste nichts organisieren, planen oder kontrollieren. Ich musste nichts bedenken und konnte in den Tag hinein leben.

Thomas Schaaf empfing SPOX-Redakteur Jochen Tittmar in der Commerzbank Arenaspox

SPOX: Die pure Freiheit?

Schaaf: Eher der pure Luxus. In dem Moment habe ich die viele freie Zeit auch sehr genossen. Wir haben das große Glück, dass wir auch in wirtschaftlicher Hinsicht auf einem Niveau leben, durch das wir in der Lage sind, viele Sachen realisieren zu können. Aber um das zu tun, fehlt meist schlichtweg die Zeit. Der Luxus war also die Zeit und die Möglichkeit, sie vollkommen unabhängig einteilen zu können.

SPOX: Haben Sie diese Zeit irgendwann strukturiert, um eine gewisse Planungssicherheit zu haben?

Schaaf: Es gab ein paar Eckdaten, die lange feststanden und nicht zu verschieben waren. Ansonsten habe ich viele Dinge einfach auf mich zukommen lassen.

SPOX: Dass man sich als Mensch in diesen zwölf Monaten grundlegend verändert, ist wohl unmöglich. Was aber hat Ihnen diese Pause und der veränderte Blickwinkel für Ihren Job als Trainer gebracht?

Schaaf: Inhaltlich gar nicht so viel. Man ist ja nonstop im Thema drin, macht sich Gedanken und nimmt neue Inhalte wahr. Das sind Themen, die man immer wieder bearbeitet und für sich selbst optimiert. Ein guter Einblick war meine Arbeit für die UEFA.

SPOX: Sie haben im Frühjahr für die UEFA Partien der Champions und Europa League beobachtet und ausgewertet.

Schaaf: Ich war mittendrin, aber viel entscheidender war: Ich war für nichts verantwortlich, was auf dem Platz ablief. Das war ganz angenehm, weil es die Wahrnehmung eindeutig verändert. Ich konnte gedankenfrei beobachten, wie das Geschehen, das Drumherum vor und nach einer Partie, eigentlich abläuft.

SPOX: Was stach Ihnen da besonders ins Auge?

Schaaf: Dass die grundsätzliche Geschwindigkeit, die wir vorlegen, enorm ist. Wenn man arbeitet, ist man selbst in diesem Tempo gefangen. Der Blick von der Seite fehlt dann aber.

SPOX: Haben Sie in dieser Phase Entwicklungen reflektiert, die Ihnen fragwürdig erscheinen?

Schaaf: Nein, dazu ist das Zeitfenster viel zu klein. Es waren ja nur sechs, sieben Monate, die ich wirklich von außen betrachtet habe. Vielmehr habe ich über die letzten Jahre hinweg eine Entwicklung wahrgenommen. Es wäre ja auch abwegig, wenn sich der Fußball nicht verändern würde, während sich aber die gesamte Gesellschaft verändert. All das, was in der Gesellschaft stattfindet, dieses immer schneller, immer überall dabei sein, dieser Hype, diese extreme Reduktion auf einen Blick, der nur Schwarz oder Weiß zulässt - das ist alles auch im Fußball da.

SPOX: Vor 20 Jahren war das Fußballgeschäft noch ein völlig anderes - ebenso wie Interesse und Verhalten der Konsumenten. Welche Werte von damals würden der heutigen Zeit gut tun?

Schaaf: Entschleunigung - wobei das viele Themen betrifft. Wenn Sie heute drei Mal hintereinander verlieren, entsteht sofort eine riesige Diskussion. Ich benutze dieses Beispiel häufig: Stellte man früher eine Mannschaft zusammen, hieß es: Ein neuer Spieler, das funktioniert. Zwei Neue: Dürfte wohl noch klappen. Drei Neue: Wird schwer. Über vier Neue wurde gar nicht erst diskutiert. Und dann ließ man den zwei Neuen eine Saison lang Zeit, bevor man ein erstes Fazit zog. Heute hingegen hat man sechs bis zehn Neue im Kader und die müssen sofort und ohne Umschweife funktionieren.

SPOX: Den Reflex, frühzeitig vieles auf den Prüfstand zu stellen, gibt es in vielen Bereichen.

Schaaf: Eben. Das sind deshalb alles gesellschaftliche Themen, die man losgelöst vom Fußball sehen muss. Die Medien nehmen immer mehr Raum rein und haben Einfluss auf die Art und Weise der Kommunikation. Es gibt heute niemanden mehr, der kein Handy hat. Darüber finden heute große Teile der Kommunikation statt, so dass sich auch die Sprache verändert. Oder: Heutzutage wird nichts mehr großartig repariert.

SPOX: Wie meinen Sie das?

Schaaf: Früher haben wir beispielsweise einen kaputten Schuh immer erst mal zum Schuster gebracht und flicken lassen. Heute gibt es eben gleich ein neues Paar. Das sieht man auch im Verhalten: Funktioniert etwas nicht, entsteht irgendwo sofort etwas Neues. Das geht für meine Begriffe vom Materiellen bis zum Ideellen.

SPOX: Sprich: Sie legen trotz des gesellschaftlichen Wandels weiterhin Wert auf eine zielgerichtete Kommunikation, wie man sie sozusagen von früher kennt?

Schaaf: Man muss die Veränderungen schon aufnehmen, aber Kommunikation von Mensch zu Mensch und das Miteinander sind für mich immer noch das Wichtigste. Ich bin der Meinung: Solange man Mannschaftssport betreibt, wird man das auch nicht auslöschen können - und das ist auch ganz gut so. Ich kann ja keinem Spieler einen USB-Stick mit Spielszenen mitgeben, ihn das anschauen lassen und dann sagen, genauso soll er es künftig machen.

SPOX: Inwiefern müssen Sie bei allem, was auf die Spieler einprasselt, nun auch vermehrt als Pädagoge auftreten?

Schaaf: Das muss ich und dass musste ich auch früher schon. Aber das ist ja bei weitem nicht die einzige Veränderung meiner Coachingrolle. Als ich noch Spieler war, stand nirgends ein Beamer herum, der Spielszenen an die Wand wirft, um die Partien auf diese und andere Weisen zu analysieren. Man hat mit der Zeit sinnvoll zugelassen, dass die Wissenschaft in viele Bereiche des Fußballs integriert wird. Das ist ein ständiger Prozess und bezieht sich daher nicht nur auf das Pädagogische. Als Trainer informiere ich mich über alles, entscheide aber selbständig, was ich für meine Arbeit benutzen möchte.

SPOX: Dieses Informieren bezieht sich aber gerade auch auf die Zusammenarbeit mit dem Personal, oder?

Schaaf: Logisch. Ich muss wissen, mit was sich die Spieler beschäftigen, was auf sie alles zukommt, wie sie kommunizieren, mit was sie aufgewachsen sind, wie sie erzogen wurden, welchen Weg sie bislang genommen haben. All dieses muss ich wissen, um einen Zugang zu ihnen zu finden.

SPOX: Die Vielzahl der Spieler wird heute als eigenständige Marke wahrgenommen und so auch positioniert - unabhängig von der sportlichen Leistung am vergangenen Wochenende. Wie bewerten Sie das?

Schaaf: Es wird im Fußball immer Veränderungen und Weiterentwicklungen geben - auch, was die einzelne Person angeht. Die Position des Spielers, Trainers, Sportdirektors oder Vorstands ist bereits da, aber sie wird verändert, anders dargestellt, anders geführt, anders wahrgenommen. Ich schaue als Trainer sehr wohl darüber hinaus und darauf, was vielleicht noch kommen, wo eine Entwicklung hingehen könnte. Daher sage ich auch bei der einen oder anderen Sache: Puh, macht doch mal eine Pause!

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Seite 2: Schaaf über die Ice Bucket Challenge und die Berichterstattung im Fußball

SPOX: Thema Entschleunigung.

Schaaf: Ich glaube, dass man nicht alles aufhalten, dafür aber ein bisschen ausbremsen kann. Bei all diesen Entwicklungen muss man auch sehen, dass wichtige inhaltliche, persönliche oder emotionelle Dinge zwischendurch kaputt gehen. Dessen sollte man sich bewusst sein, um darauf aufpassen zu können.

SPOX: Was heißt das für den Anspruch des Profis und an den Profi?

Schaaf: Anspruch ist einerseits wunderbar. Er soll sich mit seinem Job beschäftigen. Doch das beinhaltet auch Anforderung. Das ist das, was heute gesellschaftlich ganz schwierig ist. Ich behaupte, der junge Mensch möchte sich heute nicht mehr so verpflichten. Er fühlt sich gewissen Situationen nicht mehr verpflichtet. Sich zu verpflichten, Dinge anzunehmen und in unserem Beispiel zu sagen: Ich bringe die Eintracht nach vorne und bleibe so lange hier, bis ich es geschafft habe - das ist heute nur noch selten gegeben.

SPOX: Was sich während Ihrer Zeit als Trainer auch enorm entwickelt hat, ist die immer größer werdende Rolle von sozialen Medien.

Schaaf: Wenn ich das auf mich persönlich beziehe, komme ich da in so vielen Bereichen vor, von denen ich gar nichts weiß. Ich kann es nicht vermeiden, dass dort über mich gesprochen oder geschrieben wird. Ich kann es noch nicht einmal vermeiden, dass irgendwelche Accounts unter meinem Namen laufen, von denen ich mich distanzieren muss. Man kann das nicht mehr aufhalten.

SPOX: Bedeutet für die Spieler?

Schaaf: Ich kann als sportlich Verantwortlicher einen Rahmen vorgeben, aber ich setze auch auf Eigenverantwortung und Mitdenken, um sensibel damit umzugehen. Mehr eingreifen sollte man aber nicht, da die Kommunikation mittlerweile auch von den sozialen Netzwerken bestimmt wird.

SPOX: Braucht's das in Ihren Augen, wenn ein Spieler ein Foto aus dem Mannschaftsbus postet und mitteilt, sich auf das Spiel zu freuen?

Schaaf: Die Frage ist nicht, ob es das braucht, sondern wer sich das anschaut. Und dann haben Sie die Antwort (lacht).

SPOX: Finden Sie persönlich, dass es sich lohnt, sich das anzuschauen?

Schaaf: Es bedürfte einer hohen ideellen Diskussion, um dies zu beantworten. Es läuft doch aber immer so: Irgendwann geht so etwas los, der Nächste findet es gut, der Übernächste auch und auf einmal ist das angesagt und verselbständigt sich. Schauen Sie sich die Ice Bucket Challenge an: Das hatte einen sinnvollen Hintergrund und konnte Menschen für eine gute Tat begeistern. Wie wäre das früher möglich gewesen? Bundesliga Spielplaner - Der Tabellenrechner von SPOX.com

SPOX: Ist der Fußball aufgrund der Schnelllebigkeit zu einem gesellschaftlichen Ereignis geworden, das sachliche Diskussionen kaum mehr entstehen lässt?

Schaaf: Natürlich. Nehmen Sie die gängige Berichterstattung zu einer Bundesligapartie und schauen Sie sich an, wie viel inhaltlich über das Spiel und wie viel über alles andere berichtet wird. Da besteht ein klares Missverhältnis. Aber das ist so. Man sollte das aber auch nicht ausschließlich negativ bewerten, denn der Fußball lebt auch von den Diskussionen und dem Drumherum. Wenn das nicht wäre, hätten wir auch nicht diese Aufmerksamkeit und diese Bereiche rund um den Fußball würden verblassen.

SPOX: Wieso besteht in Ihren Augen dieses Missverhältnis in der Berichterstattung?

Schaaf: Gegenfrage: Wer will das Inhaltliche überhaupt lesen, was ist wichtiger?

SPOX: Ist Ihnen die journalistische Begleitung im Fußball zu unsachgemäß?

Schaaf: Das ist unterschiedlich. Der eine setzt sich sehr gerne mit dem Inhaltlichen auseinander und ist daran interessiert. Der andere legt den Fokus nicht nur auf das Spiel, sondern auch auf das Drumherum im Stadion, auf die Emotionen der Fans und so weiter.

SPOX: Würden Sie es sich wünschen, dass es mehr ums Inhaltliche geht?

Schaaf: Klar, aber besteht daran wirklich ein Interesse? Ich glaube nicht. Ich würde eine solche Berichterstattung natürlich gerne unterstützen, dennoch es ist eben so, dass das Inhaltliche ja erst einmal ein sehr trockenes Thema ist. Welcher Journalist will aber ein trockenes Thema verkaufen? Das kriegt er bei seinem Chefredakteur nicht durch.

SPOX: Weil vor allem Boulevard-Themen eine größere Reichweite erzielen.

Schaaf: So entwickelt sich ja auch unsere Gesellschaft. Auch dort sind Sachen sehr plakativ. Jedes Jahr gibt es im Fernsehen den Superstar, das Supertalent, Big Brother, das Dschungelcamp - und das findet in der breiten Masse auch Anklang.

SPOX: Als Sie zu Beginn Ihrer Zeit in Frankfurt Alex Meier, der aus einer Verletzung kam und zunächst keinen guten Eindruck hinterließ, auf die Bank setzten, war der Aufschrei groß. Was hat Sie mehr verwundert: Die Wucht der Diskussion oder die Tatsache, dass sie überhaupt aufkam?

Schaaf: Nichts davon. Ich war überhaupt nicht verwundert, weil mir völlig klar war, dass es so kommen wird.

SPOX: Fanden Sie, dass Sie gut erklären konnten, warum Sie diese Maßnahme ergriffen haben? Sie wurden ja sehr häufig danach gefragt.

Schaaf: Die Frage ist vielmehr, ob man es verstehen oder lieber eine Story haben will. Es gibt unterschiedliche Intentionen. Alex nimmt in der Frankfurter Gesellschaft, was den Fußball betrifft, sehr viel Raum ein. Wenn dann eine Situation entsteht, die nicht jeder bereitwillig abnickt, ist klar, dass es am einfachsten ist, daraus auch eine Story zu machen.

SPOX: Was wäre gewesen, wenn Sie zu diesem Thema durchgängig geschwiegen hätten?

Schaaf: Das kann ich ja gar nicht. Wenn ich nichts dazu gesagt hätte, würde man es so deuten, dass da irgendetwas nicht stimmen kann. Es ist also gewissermaßen vollkommen egal, ob oder was ich dazu sage. Das Verrückte ist: Es war zu jedem Zeitpunkt alles in Ordnung (lacht).

SPOX: Wie war es früher?

Schaaf: Weniger extrem. Sie müssen berücksichtigen, dass derjenige, der die Fragen stellt, sich nun mit einer völlig anderen Situation auseinanderzusetzen hat. Das Internet hat große Veränderungen mit sich gebracht. Die Konkurrenz ist immens gewachsen. Früher wurde einer in die USA geschickt, um vom dortigen Sport zu berichten. Heute kommt das frei empfänglich im Fernsehen oder im Internet. Wenn in Australien ein Känguru umfällt, wissen Sie fünf Minuten später, wie das passiert ist - weil es fünf Minuten später schon Bilder davon gibt.

SPOX: Wie glauben Sie wird diese Entwicklung weitergehen?

Schaaf: Ich denke, man wird noch mehr versuchen, an so vielen Dingen wie möglich teilzunehmen. Der Einzelne wird mehr auf sich selbst gestellt sein und sich dann seine Häppchen heraussuchen. Er wird mehr bestimmen können, was er wirklich haben möchte und das Erlebnis nicht so sehr über die Gemeinschaft suchen.

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